Читать книгу Die Macht der Zeit - Christin Busch - Страница 7
1. Kapitel
– Vancouver/Kanada -
ОглавлениеAtemlos fuhr Clara Jensen aus dem Schlaf hoch. Verwirrt sah sie sich sekundenlang um und ließ sich schließlich langsam in ihren Liegestuhl zurücksinken. Jetzt erst drang das Vogelgezwitscher zu ihr durch, und ihre blaugrauen Augen wanderten über den Capilano Lake, an dessen Ufer sich die ersten Bäume in den leuchtend warmen Farben ihres spätsommerlichen Kleides zeigten. Der berühmte Indian Summer war nicht mehr fern.
Es dauerte – wie immer – eine ganze Weile, ehe sich ihr Pulsschlag beruhigte und sie sich in Gedanken gut zuredete. Alles okay! Alles ist in Ordnung! Lukas ist wieder bei uns, wir haben es überstanden! Clara seufzte aus tiefster Seele. Sie hatte so gehofft, dass diese Albträume hier in Kanada aufhören würden, wenn sie erst in ihr neues Leben gestartet wären. Aber die Angst wollte sie einfach nicht mehr verlassen; sie schien ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden zu sein.
„Clara!“ Franks Stimme klang vorwurfsvoll, und sie blickte zur Seite, um ihn ansehen zu können. Er schaute konsterniert auf ihre Hände, die mehr oder weniger ineinander verkrampft in ihrem Schoß ruhten. Sie hatte wieder einmal nicht bemerkt, dass die Nägel – wie so oft in den letzten Monaten – unruhig die Haut der Nagelbetten bearbeiteten, bis sie bluteten. Ertappt schob sie ihre Hände unter die Oberschenkel ihrer dunklen Jeans. „Schon gut, ich hab’s gar nicht gemerkt.“
Er schüttelte den Kopf und blinzelte gegen die Sonne an. „Es ist mir ein Rätsel, wie man davon nichts mitkriegen kann. Das muss doch wehtun!“ Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. Sein Blick ging zum See. „Schau doch mal: Ist das nicht überirdisch schön hier? Egal wie lange wir hier noch wohnen, ich werde diesen Blick einfach immer toll finden.“
Sie nickte, doch gleich darauf verschwand der entspannte Ausdruck wieder von ihrem Gesicht und sie setzte sich kerzengerade auf. „Wo ist denn Lukas?“
Frank sah enttäuscht aus. Warum konnte sie nicht endlich in die Normalität zurückkehren und diese Panik ablegen? „Alles okay, er ist drüben bei Matt.“
„Aber er hat mir gar nicht Bescheid gesagt.“ Sie versuchte, ruhiger zu atmen, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ihre Hände lagen auf den Armlehnen, die Daumen fuhren unruhig über das Holz.
„Du warst schon eingenickt.“ Frank beobachtete sie nachdenklich. Ihr früher so gepflegtes Haar war nachlässig im Nacken zusammengebunden. Einzelne Strähnen waren herausgerutscht und fielen ihr ins Gesicht. Die Wangen sahen blass und eingefallen aus. Lag es daran, dass sie sich kaum noch schminkte? Er überlegte kurz, aber dann bemerkte er die dunklen Schatten unter ihren Augen; das untrüglichste Anzeichen dafür, dass sie immer noch nicht gut schlief. Als sein Blick auf ihre Hände fiel, hielt er unwillkürlich die Luft an. Früher hatten sie toll ausgesehen und Clara hatte viel Zeit für sie aufgewandt; jetzt waren die Nagelbetten blutig entzündet, und die Nagelhaut jedes einzelnen Nagels hing in Fetzen. Er zwang sich, den Blick von ihr zu lösen, und schaute wieder auf den See. Ein paar Wildgänse glitten auf der Wasseroberfläche dahin. Er versuchte, wieder in die Entspannung zurückzufinden, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Wenn er ihr doch nur helfen könnte! Knapp zwei Jahre lag die Entführung von Lukas nun zurück, und er hatte alles dafür getan, dass sie wieder glücklich werden konnten. Als sein Chef, Victor Hesse, ihn vor einem Jahr für einen Auslandseinsatz in Vancouver ins Spiel gebracht hatte, war er zunächst verblüfft gewesen, dann aber hatte er ziemlich schnell die Überzeugung gewonnen, dass Clara, Lukas und auch er selbst hier noch einmal von vorn anfangen könnten. Und tatsächlich: Schon bei seinen ersten geschäftlichen Stippvisiten hatte er sich in die Stadt verliebt. Vancouver lag einfach traumhaft eingebettet in eine schon fast unwirklich schöne Natur, die aus Meer, Inseln, Wäldern und Bergen bestand und einfach alles bot, was man sich nur wünschen konnte. Nachdem er bei einem seiner Besuche auch noch dieses Traumhaus für sie gefunden hatte, war er sich ganz sicher gewesen, dass sich mit dem Umzug nach British Columbia endlich alle alten Probleme verflüchtigen und sich ihr Leben neu einspielen würde. Doch Clara, die zunächst auch aktiv in die Planung des Umzugs und die Einrichtung des neuen Hauses hier eingestiegen war, konnte ihre Ängste nicht abschütteln. Im normalen Alltag hatte sie sich, wie er es insgeheim gern bezeichnete, in ihre eigene „Clara-und-Lukas-Welt“ zurückgezogen, in der für ihn scheinbar kein Platz mehr war. Sie sprachen nie darüber, aber er hatte häufig das Gefühl, etwas falsch zu machen. Clara nahm ihm übel, dass er einfach so in der Lage war, neu anzufangen und alle Ängste und psychischen Belastungen, die die Entführung ihres Sohnes mit sich gebracht hatte, hinter sich zu lassen. Seiner Meinung nach hielt sie ihn für kalt, und vermutlich glaubte sie deshalb, die Sorgen, die er sich nicht machte, müsste sie dann eben noch übernehmen, was dazu führte, dass Lukas ständig überwacht wurde. Von seinen Überlegungen ermattet rieb er sich die Schläfen, als wolle er diese Gedanken vertreiben, aber dennoch, wenn er ehrlich war, konnte er mittlerweile kein Verständnis mehr aufbringen. Sie wollte keine Hilfe – weder die professionelle psychologische Unterstützung, die sie seiner Meinung nach mehr als nötig hatte, noch den Beistand ihres Mannes. Er war am Ende mit seinem Latein, und immer öfter empfand er Unwillen darüber, dass sie sich so anstellte und die Dinge so kompliziert machte, obwohl er sich doch abrackerte und alles für einen guten Neustart getan hatte.