Читать книгу Die Macht der Zeit - Christin Busch - Страница 8
2. Kapitel
ОглавлениеLukas hatte ohne jedes Zögern die Einladung von Matts Eltern zum Nachmittagstee angenommen. Er mochte Helen und Jack Dupuis und verbrachte gern Zeit mit ihnen und Matt sowie dessen jüngerer Schwester Rose. Auch Tony Dupuis, der verwitwete Großvater von Matt und Rose, war häufig zu Gast und wusste viel zu erzählen. Die Stimmung war immer unverkrampft und fröhlich, alles schien so normal und locker zu sein, ganz anders als bei ihm zu Hause. Oft wurde geredet und gelacht, häufig auch von früher erzählt. Lukas hatte sich schnell in Kanada eingewöhnt, es war gut gewesen, dass seine Eltern ihm in der Zeit vor der Abreise monatelang einen intensiven privaten Englischunterricht ermöglicht hatten. So fand er sich inzwischen super zurecht und verstand das Allermeiste von dem, was gesprochen wurde. Während Helen, die indianischer Abstammung war, sich mit den Erzählungen der Indianer, die man hier in Kanada nur First Nations nannte, eher zurückhielt, ließ sich der lebhafte Großvater von Matt und Rose nie lange bitten, etwas von seinen Vorfahren, den frankokanadischen „Voyageurs“, zu berichten. Lukas war fasziniert von diesen Eroberern der kanadischen Wildnis, die mit ihren Rindenkanus über Flüsse und Stromschnellen immer weiter vom Osten in den Nordwesten vorgedrungen waren, um Handelswaren gegen Pelze zu tauschen. Dass sie hierbei unglaubliche Strapazen auf sich nahmen und die wildesten Abenteuer erlebten, ließ diese rauen Gesellen in Lukas’ Ansehen noch weiter steigen. Er hatte sich von Tony viele Einzelheiten genau erklären lassen und versuchte oft, sich vorzustellen, wie diese Männer während ihrer wochenlangen, manchmal sogar monatelangen Reisen gelebt hatten, wie sie die „Portagen“, jene Strecken zwischen den Wasserwegen, den Seen und Flüssen, mitsamt ihrem Gepäck und dem Kanu auf den Schultern überwinden mussten. Gebannt lauschte er jetzt Tony, der heute vom Aufbruch des Eises der zugefrorenen Flüsse im Frühjahr berichtete, das so laut brach, dass es die Voyageurs nachts im Fort aus dem Schlaf hochfahren ließ.
Tony beschrieb die brechenden, sich knirschend übereinander schiebenden Eisplatten im stark voranströmenden Wasser des großen Flusses.
Lukas staunte. „Wie laut das wohl knallt oder kracht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein strömender, sprudelnder Fluss überhaupt zufrieren kann.“
Matt grinste. „Na, du hast ja hier auch noch keinen Winter erlebt.“
Tony hatte etwas von seinem Tee getrunken, ehe er fortfuhr. „Die Winter hier in Vancouver sind ja verhältnismäßig mild, aber weiter nördlich, in der Mitte und im Nordosten wird es bitterkalt – minus zwanzig, minus dreißig Grad oder noch kälter. Da froren auch die Flüsse zu, und die Voyageurs waren gezwungen, eine Pause einzulegen.“
Lukas hatte aufmerksam zugehört. „Wo denn? Haben sie sich unterwegs Hütten gebaut?“
„Nein, das hätte zu lange gedauert und wäre in der Wildnis zu unsicher gewesen. Sie fanden sich in einem Fort ein oder im Winterlager eines Handelspostens. Hier konnten sie die kalten Monate im Schutz einer Gemeinschaft verbringen; sie bekamen Essen und Unterkunft und mussten sich dafür nützlich machen. Schreiner bauten Möbel oder führten dringende Reparaturen durch, andere gingen auf die Jagd, und wieder andere bearbeiteten Pelze oder sorgten für Brennholz und hielten die Kamine in den Blockhütten in Gang.“
Lukas hörte konzentriert zu und bemerkte nicht, wie sein Freund ihn beobachtete. Matt war es zunächst ein wenig peinlich gewesen, dass sein Großvater so viel von früher erzählte, aber als er mitbekam, wie sehr Lukas das gefiel und wie viele Fragen er stellte, entspannte er sich. Seit langer Zeit konnte sich Matt wieder einmal richtig wohlfühlen. Auch wenn das Thema „Mobbing“ gegenwärtig in aller Munde war, scheute er sich, die vielen kleinen Gelegenheiten, zu denen er von seinen Mitschülern wegen seiner halb-indianischen Herkunft geärgert und gefoppt wurde, als Mobbing zu bezeichnen. Und doch sorgten diese - wenn auch nicht übermäßig bösartigen - Erfahrungen dafür, dass er sich nicht zugehörig, sondern immer irgendwie „anders“ fühlte. Er hatte eine Art sechsten Sinn dafür entwickelt, in der Schule Situationen aus dem Weg zu gehen, die für ihn brenzlig werden konnten. Immer öfter fühlte er sich in der Schule nicht mehr wohl, mochte aber auch mit niemandem darüber sprechen, denn er selbst war sehr stolz auf seine Eltern und meinte, es müsste diese sehr verletzen, wenn sie erführen, dass er wegen seiner Mutter und deren Familie so oft gehänselt wurde. Lukas war seit langer Zeit der Einzige, der ihm und seiner Familie unvoreingenommene Freundschaft und aufrichtiges Interesse entgegenbrachte, und obwohl er zwei Jahre jünger war als Matt, hatte dieser den Altersunterschied nie als störend empfunden.