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3. Kapitel

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Gut gelaunt saßen Frank und Clara mit Lukas im Restaurant der großen Fähre, die sie nach Vancouver Island bringen würde. Lukas hatte sich ein zweites Dessert vom Büfett geholt und schob sich gerade wieder auf seinen Stuhl. Er hatte, als es mit dem Auto an Bord ging, gespannt verfolgt, wie große Lkw und Wohnmobile in den unteren Etagen der Fähre verschwunden waren, und stellte Frank nun dazu Fragen. Clara schmunzelte zufrieden und sah dann wieder durch die großen Fenster auf die glitzernde Wasserfläche und die dunkel bewaldeten Inseln, die vor ihnen lagen. Sie hatten gut gegessen, die Sonne schien von einem knallblauen Himmel, und sie freute sich riesig auf das Wochenende, das vor ihnen lag: endlich einmal wieder sie drei als Familie … Erfahrungsgemäß waren es nur noch diese Auszeiten vom Alltag, die dazu führten, dass sie sich einmal wieder ganz entspannen und ihre Ängste hinter sich lassen konnte. In solch ruhigen Momenten wurde ihr bewusst, wie sehr die Angst und die Anspannung zu einem Teil ihres Lebens geworden waren. Sie konnte erkennen, wie sie früher einmal gewesen war, aber sie sah keine Möglichkeit, diesen Zustand auch festhalten zu können. Ein Spruch ihrer Mutter kam ihr in den Sinn: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Stimmte das? Konnte die Zeit ihr dabei helfen, wieder so unbeschwert und fröhlich zu werden wie früher? Clara hoffte es aus ganzem Herzen.

Sie planten, zu einem etwas abseits gelegenen Campground zu fahren, von dem Matt Lukas gegenüber sehr viel erzählt und vorgeschwärmt hatte. Dort hatten sie eine Hütte in erster Reihe am Strand reserviert, und Clara freute sich sehr auf die Aussicht, ständig das Meer sehen und beim Einschlafen die Wellen und die Brandung hören zu können. Schon am nächsten Morgen war es so weit, sie hatte nicht mehr schlafen können, und nach einem Blick aus dem Fenster war sie aufgestanden und nach draußen gegangen. In einen dicken Pullover gehüllt saß sie auf einem Felsen und schaute aufs Wasser. Die Sonne kämpfte noch darum, den Morgennebel zu durchdringen, der über der Wasseroberfläche des Pazifiks lag. Clara sah, dass sich der Himmel dank der Sonnenstrahlen creme- und orangefarben färbte, und sie betrachtete versonnen dieses Farbenspiel, das langsam den Nebel vertrieb. Dichte Wälder aus Douglas-Kiefern und Hemlocktannen bildeten in der kühlen Morgenluft einen deutlichen Kontrast zur glitzernden Wasseroberfläche, die am Horizont die Farben des Morgenhimmels spiegelte, weiter vorn aber in einem hellen kühlen Graublau die Felsen der kleinen Bucht umspülte.

Clara vernahm Schritte hinter sich und wandte den Kopf. Frank trat hinter sie und reichte ihr einen von zwei Bechern mit dampfendem Kaffee, den sie dankbar mit beiden Händen umschloss, um gleich darauf einen Schluck zu trinken. „Mmh, das tut gut. Danke.“

Er setzte sich neben sie. „Du bist früh auf. Konntest du nicht mehr schlafen? Ich hab mir Sorgen gemacht, als du nicht mehr da warst.“

Sie schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung. Ich fühl mich gut.“ Sie deutete auf den Horizont und ließ ihre Augen über die einzelnen, zum Teil winzigen Inseln wandern, die baumbestanden - wie zufällig in den Pazifik gestreut - aus dem Wasser aufragten. Jede ein abgeschlossener Lebensraum für sich; manchmal felsig, mit nur ein bis zwei Bäumen, dann wieder fast nur aus einem tiefgrünen Wäldchen bestehend, das die Insel mit einem felsigen Strand abschloss.

„Als ich aus dem Fenster sah, hat es mich nicht mehr im Bett gehalten. Ich konnte sogar schon wieder einen Weißkopfseeadler sehen!“

Frank spürte ihre ausgeglichene Zufriedenheit und war erleichtert. Zu oft hatte ihn ihre bedrückte Ängstlichkeit in den letzten Monaten belastet. Er folgte ihrem Blick und lächelte. „Ja, das hier ist wirklich atemberaubend.“

Eine Weile schwiegen sie beide und hörten dem Wind und den Wellen zu. Es war ein entspanntes Schweigen, das nichts mit der beklemmenden Stille gemein hatte, die in letzter Zeit so oft zwischen ihnen geherrscht hatte. So war es während der gemeinsamen Auszeiten vom Alltag immer; es schien eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen zu bestehen, dass sie diese Wochenenden nicht durch die Bearbeitung von Problemen belasteten. Es war, als hätten sie Angst, dass sich eine Wunde öffnete, die sie nicht mehr schließen könnten. Und so hielten sie sich einfach an der Unbeschwertheit solcher Familienausflüge fest, die sie in der Sicherheit wiegten, alles sei wie früher. Nach einer Weile stand Frank auf und ging ein paar Schritte hin und her, um sich in der kühlen Morgenluft aufzuwärmen.

„Was wollen wir denn heute mit Lukas unternehmen?“ Er betrachtete erneut den Himmel. „Ich denke, die Sonne schafft es. Worauf hast du Lust? Einen Bummel mit Mittagessen in Tofino? Oder eine Wanderung? Oder wollen wir es noch einmal mit einer Whale-Watching-Tour probieren?“

„Du hast mir versprochen, dass wir angeln gehen, Papa!“

Beide fuhren herum, als Lukas mit verstrubbelten Haaren hinter ihnen auftauchte und sich verschlafen die Augen rieb.

Clara lachte, zog den Jungen an sich und umschlang ihn mit beiden Armen. „Komm her, du Zausel. Bist du überhaupt schon wach?“ Sie begann, ihn zu kitzeln, während Frank dem fröhlichen Gerangel der beiden grinsend zusah.

Lukas befreite sich schließlich aus den Armen seiner Mutter und baute sich vor seinem Vater auf. „Im Ernst, Papa. Du hast es mir versprochen!“

Frank ging in die Hocke. „Das ist dir wirklich lieber als Whale Watching?“ Er sah seinem Sohn erstaunt ins Gesicht.

Lukas zog die Nase kraus. „Wir haben letztes Mal gar nichts gesehen, voll langweilig!“

Frank lachte. „Das fand ich nicht, wir haben zwar leider keine Schwertwale oder Buckelwale gesehen, aber dafür Seehunde, Adler und einen Schwarzbären.“ Er stand auf und griff nach seiner Kaffeetasse. „Pass auf, Lukas. Wir kaufen im Ort Gummistiefel und einen großen Kescher, dann nehmen wir beides mit auf einen Picknickausflug am Strand. Mal sehen, was wir so aus dem Wasser holen, einverstanden?“ Er blickte rasch zu Clara, die ihm mit einem Nicken Zustimmung signalisierte. Lukas war begeistert.

Wind trieb die Wellen an einen Strand, der mit Steinen und altem Holz übersät war. Der Dunst über der starken Brandung wurde von der Sonne zum Leuchten gebracht, und der unmittelbar hinter diesem Strand aufragende, fast unwirklich anmutende Regenwald schien - bis auf den Pfad, der sie hergeführt hatte - undurchdringlich.

„Du kriegst mich nicht!“ Lukas lachte übermütig, während sein Vater gespielt japsend hinter ihm herrannte und Kies und Steine am Ufer der Bucht unter ihren Füßen knirschten. Clara beobachtete die Verfolgungsjagd und freute sich. So ausgelassen hatte sie Lukas nach der Entführung nur selten erlebt. Auch Frank war in der ersten Zeit hier kaum zur Besinnung gekommen, zu sehr hatte ihn seine neue Aufgabe in der Zentrale beschäftigt. Clara saß auf der Picknickdecke und lehnte mit dem Rücken an einem großen Geröllbrocken. Rechts von ihr lag der Wald, links der Strand. Dieser Kontrast fesselte sie, es kam ihr merkwürdig oder zumindest ungewohnt vor, dass ein Wald an einem Strand endete. Entspannt atmete sie tief durch und ließ ihre Augen schließlich den weißen Wolken am tiefblauen Himmel folgen. Als sie sich nach einer Weile nach Frank und Lukas umschaute, sah sie die beiden inzwischen einträchtig nebeneinander auf einem großen Felsen sitzen. Sie schienen in ein Gespräch vertieft zu sein. Ihr Sohn hielt den Kescher in der Hand. Zufrieden legte sie den Kopf in den Nacken und blinzelte müde gegen die Sonnenstrahlen an.

Lange schon waren sie sich nicht mehr so nahe gewesen. Der Tag hatte alle entspannt und sie die verkrampfte Atmosphäre vergessen lassen, die sie in den letzten Wochen immer wieder voneinander getrennt hatte. Das Abendessen in einem kleinen Restaurant in einer Bucht über dem Meer war ein harmonischer Ausklang des Tages gewesen, und Lukas fielen schon fast beim Essen die Augen zu. Zurück in der gemieteten Blockhütte war er, was selten genug vorkam, widerspruchslos sofort schlafen gegangen, und Frank kam mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern auf die Veranda zu Clara. Der Himmel war sternenklar, aber es blies ein frischer Wind, sodass sie sich beide – in dicke Jacken gehüllt – tief in ihre gepolsterten Gartensessel kuschelten und lange leise über Alltägliches sprachen. Clara erzählte davon, dass sie in Lukas’ Schule gebeten worden war, in der Bibliothek mitzuarbeiten, und Frank freute sich, sie endlich einmal wieder aufgeschlossen und fast schon sorglos in der neuen Umgebung zu erleben.

Später im Schlafzimmer waren beide ein wenig befangen, sie waren sich seit Wochen nicht mehr so nahe gekommen, dafür hatten sie viel gestritten oder waren sich fast schon aus dem Weg gegangen. Frank zog Clara vorsichtig an sich und bedeckte ihr Gesicht mit federleichten Küssen, als wäre sie zerbrechlich; als hätte er Angst, wieder etwas kaputt oder falsch zu machen. Doch der Funke sprang über, und die Vertrautheit zwischen ihnen kehrte zurück. Clara erwiderte seine Zärtlichkeit, verlor sich in einem langen Kuss und schmiegte sich tief in seine Arme. Losgelöst von all den Ängsten, die sie immer wieder quälten und gefangen nahmen, genoss sie die Nähe zu Frank. Sie liebten sich mit einer Intensität und Leidenschaft, an die sie beide nicht mehr zu glauben gewagt hatten.

Die Macht der Zeit

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