Читать книгу Die Macht der Zeit - Christin Busch - Страница 12
6. Kapitel
ОглавлениеHelen saß im Schneidersitz auf einer der dicken Matratzen im Spielhaus der Kinder. Neben ihr hatte sich Clara niedergelassen, und den beiden Frauen gegenüber kuschelten sich Rose und ihre beste Freundin Julie gemütlich unter eine Decke. Zwischen ihnen, auf seinem eigenen angeknabberten Kissen, hatte sich Julies kleiner Hund zusammengerollt und blinzelte schläfrig. Vor den Kindern standen im ruhigen Schein eines Windlichtes Getränke und Knabberkram auf einer umgekippten Holzkiste, die mit bunten Servietten zum Tisch umfunktioniert worden war.
Helen hatte Rose einen besonderen Abend versprochen und ihr erlaubt, eine Freundin dazu einzuladen, denn Jack und sein Vater Tony waren mit den Jungen zu einer aufregenden Angeltour aufgebrochen und Rose sollte sich nicht zurückgesetzt fühlen. Sie und Julie wollten im Baumhaus übernachten, doch zuvor, in der jetzt einsetzenden Dämmerung, sollte Helen ihnen eine ganz besondere Geschichte erzählen, die ihre Tochter zum ersten Mal hören würde. Auch Clara war froh darüber, den Abend nicht allein verbringen zu müssen, denn Frank war auf einer Tagung. Die letzten Treffen mit Helen waren so unkompliziert und nett gewesen, dass sie sich angefreundet hatten, und Clara kam es so vor, als würde sie Helen schon viel länger kennen. Sie interessierte sich besonders für deren indianische Wurzeln und freute sich deshalb auf die Geschichte, die angekündigt war.
Rose knabberte eine Salzstange und sah mit glänzenden Augen zu ihrer Mutter. „Also, Mom, was ist das für eine Geschichte, die ich noch nie gehört habe?“
Helen lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Baumhauses und lächelte ihre Tochter an. „Du solltest erst groß genug dafür sein. Matt hat sie auch in deinem Alter gehört. Es ist nämlich eine wahre Geschichte, die deiner Ururgroßmutter.“ Ihr Blick ging jetzt zu Julie und von dem Mädchen weiter zum Fenster, durch das man an diesem milden Sommerabend eine ausgezeichnete Sicht auf den Capilano Lake hatte. „Und ich wollte sie dir an einem besonderen Abend erzählen, an so einem wie heute, an dem man den Sommer riechen kann, an dem draußen die Grillen zirpen, und an dem deine Freundin bei dir übernachten darf und wir alle Zeit der Welt haben.“
Der kleine Hund stand auf und rollte sich auf Julies Schoß zusammen wie eine Katze. Wohlig kichernd kuschelten sich die Mädchen aneinander und warteten auf die Erzählung.
Helen schloss kurz die Augen, konzentrierte sich und begann mit ihrer Geschichte.
„Die Sonne stand schon tief am Himmel, als die größeren und kleineren Mädchen kichernd und schwatzend ins Dorf zurückkehrten. Ihre glänzenden schwarzen Haare waren zu Zöpfen gebunden, die von Lederbändern zusammengehalten wurden. Über ihren mit Fransen besetzten Wildlederkleidern trugen sie Körbe auf ihren Rücken, in denen sie Beeren, Pilze und Kräuter gesammelt hatten. Auf diese Weise leisteten auch sie schon ihren Beitrag zum Leben im Indianerdorf, und die Kleinen lernten von den Großen, welche Früchte gut oder welche ungenießbar waren, wie man sich in der Wildnis verhielt und wie man immer den richtigen Weg nach Hause fand.
Nur ein Mädchen des Stammes war wieder einmal – wie so oft in letzter Zeit – nicht mit ihnen gegangen. Die zwölfjährige Caatana wurde seit Wochen von ihrer Mutter Medinah und ihrer Großmutter Chinook in der Heilkräuterkunde unterwiesen. Oft waren Mutter und Tochter mehrere Tage lang unterwegs, wanderten über blühende Wiesen und durch dichte Wälder, sammelten Kräuter, Pilze, Rinden und verschiedene Moosarten oder andere Pflanzen, deren Säften man heilende Wirkung nachsagte. Wenn sie ins Dorf heimkamen, waren ihre Lederbeutel und Weidenkörbe gut gefüllt und wurden ins Haus von Caatanas Großmutter gebracht, die als Heilerin einen hohen Rang innerhalb der Stammesgemeinschaft einnahm. Viele Jahre lang hatte sie schon ihre Tochter unterrichtet, die das Wissen über die Pflanzen und deren Verwendung zwar aufnahm, aber darin nicht ihre eigentliche Bestimmung erkannte. Medinah war eine der schönsten Frauen des Stammes, hochgewachsen und schmal mit einem fein geschnittenen Gesicht, goldbronzefarbener Haut und großen, ausdrucksvollen Augen. Sie hatte einen der angesehensten Jäger und Krieger geheiratet und von ihm drei Kinder bekommen: zwei Söhne, Thekum und Quanah, und schließlich eine Tochter, Caatana. Medinahs große Begabung zeigte sich in ihrer künstlerischen Fingerfertigkeit, mit der sie die indianische Kleidung oder tägliche Gebrauchsgegenstände auf eine so einzigartige Weise verzierte, bemalte und gestaltete, dass sie sich bald als Künstlerin einen Namen gemacht hatte. Ihr Können war bis weit über die Stammesgrenzen hinaus bekannt. Ihre Mutter Chinook war stolz auf sie. Als die alte Frau aber schließlich das Interesse ihrer Enkeltochter für die Pflanzen und deren Anwendung in der Heilkunst entdeckte, flog ihr Herz dem jungen Mädchen förmlich zu. Die junge und die alte Indianerin verband nicht nur die Liebe und Begeisterung für die Vielfalt und Heilkraft der Pflanzen an sich, sondern auch eine spirituelle Verbindung, eine Art Seelenverwandtschaft, die offenbar zwischen dem Wissen über die Pflanzen und ihre Wirkungsweise und der Dankbarkeit und Demut bestand, die sie beim eigentlichen Vorgang der Heilung spürten. Sie empfanden ihr Talent nicht als etwas, was ihnen dabei half, einen hohen gesellschaftlichen Status zu sichern, sondern sie sahen es als eine besondere Gabe, die ihnen der Große Geist, wir nennen ihn heute Gott, gegeben hatte, damit sie auf diese Weise für ihr Volk da sein konnten.
Chinook war inzwischen zu alt, um die langen Wanderungen noch selbst mitzumachen, während derer Medinah und Caatana die manchmal auch seltenen Heilpflanzen sammelten. Ihr Rücken schmerzte, und auch ihre Kniegelenke machten ihr von Zeit zu Zeit zu schaffen. Als sie die Stimmen der heimkehrenden Mädchen vernahm, erhob sie sich, ein wenig ärgerlich auf sich selbst und ihre einsetzende Gebrechlichkeit. Sie stellte die Schale und den Stößel, mit dem sie getrocknete Kräuter zermahlen hatte, beiseite und trat vor ihre Hütte. Die Abendsonne blendete sie, sodass sie mit einer Hand schützend ihre Augen beschirmte. Suchend ließ sie ihren Blick schweifen, doch sie konnte Medinah und Caatana nicht entdecken. Ob sie noch einen weiteren Tag dort draußen verbringen würden? Ein wenig enttäuscht schlenderte sie den Pfad entlang zum Wasser. Der Stamm hatte seine Langhäuser aus Holz im Schutz eines dichten Wäldchens gebaut, das sich beinahe mittig zwischen dem Pazifik und einem Süßwassersee befand. So hatten sie Trinkwasser, und der Weg zum Meer und zum Fischen war nicht weit. Chinook setzte sich auf einen großen Felsbrocken am Strand und sah auf den Pazifik hinaus. Die Sonne ging gerade unter und tauchte das Meer in warme rötliche Farben. Der Wind frischte auf und verfing sich in den weißgrauen Haaren der alten Frau. Fröstelnd zog sie ihr mit Perlen und Muscheln besticktes ledernes Schultertuch enger um sich, ihr vom Alter gezeichnetes Gesicht wandte sie jedoch trotzig dem Wind zu. Nachdenklich folgten ihre Augen dem Spiel der Wellen und gingen dann wieder zum Horizont, wo sich das Rot des Sonnenuntergangs inzwischen in ein dunkles Violett verfärbt hatte. Sie seufzte. Die Natur folgte hier seit Jahrhunderten dem Ruf der Gezeiten; und doch hatte sich das Leben der Indianer schon so verändert … Chinook wusste, dass ihr Stamm in gewisser Weise noch dankbar sein konnte. Die Indianer hier an der Nordwestküste waren nie so verfolgt und bedrängt worden wie jene Stämme, die im Landesinneren beheimatet waren und von deren Schicksal sie über die Trapper und Waldläufer immer wieder auf dem Laufenden gehalten wurden. Der Einfluss der weißen Siedler hatte unverkennbare Auswirkungen auf das Leben der Indianer, und auch wenn diese inzwischen mit den Neuankömmlingen Handel betrieben und Pelze gegen Geräte und andere Waren tauschten, war es doch so, dass die Weißen das Sagen hatten. Sie teilten den Ureinwohnern bestimmte Gebiete zu, stellten Gesetze auf, von denen erwartet wurde, dass die Indianer sie anerkannten und respektierten. Immer mehr prägten und missionierten sie die Ureinwohner des amerikanischen Kontinents. Am schlimmsten waren aber der Alkohol und die eingeschleppten Krankheiten, die mehr Indianer ausrotteten, als es kriegerische Handlungen der Weißen tun konnten.
Es wurde dunkel, und Chinook erhob sich von dem Felsbrocken am Strand, um in ihre Hütte zurückzugehen. Wie lange mochte es dauern, bis es die ersten Stammesangehörigen ganz in die Siedlungen des weißen Mannes zog? Um nicht über eine Baumwurzel oder einen Stein zu stolpern, behielt Chinook mit gesenktem Kopf den im Dämmerlicht liegenden Pfad im Auge. Ihr Herz wurde schwer, als sie voller Zuneigung an ihre Enkeltochter dachte. Wie würde das Leben von Caatana aussehen? Hatte es überhaupt einen Sinn, sie in all den Heilkünsten und Traditionen zu unterrichten, wenn sich doch alles verändern würde?
Medinah und Caatana hatten ihr Lager an einer Lichtung aufgeschlagen, die sich zu einem Flussufer hin erstreckte. Ein munteres kleines Feuer flackerte vor ihnen, und eine warme Mahlzeit hatte sie gestärkt. Sie saßen nun auf weichem Moos in der Dämmerung, naschten noch ein paar der gesammelten Beeren und sahen zu, wie die ersten Sterne am Himmel erschienen. Medinah erzählte ihrer Tochter davon, dass sich ihr drei Jahre älterer Bruder Quanah sehr für die Kunst der Holzschnitzerei interessierte und viel Zeit mit einem alten Künstler verbrachte, der vor einigen Monaten von den Kwakiutl zu den Nootka gestoßen war und von dort die Fertigkeiten auf diesem Gebiet mitgebracht hatte. Er hatte sich auf der Jagd verletzt und war von Chinook gesund gepflegt worden. Solange er noch nicht allein aufbrechen konnte, beschäftigte er sich wohl aus Dankbarkeit für die Hilfe der Nootka damit, einige Türpfosten der Holzhütten mit Schnitzereien zu verzieren, und Quanah sei dabei sein ständiger Begleiter.
Caatana lachte und warf ihre langen dunklen Zöpfe über die Schulter zurück. ‚Das sieht Quanah ähnlich. Für Krieg und Jagd hatte er noch nie viel übrig, ganz im Gegensatz zu Thekum, der überall der schnellste und draufgängerischste aller Jäger sein muss. Er ist Vaters Stolz.‘ Sie lächelte ihre Mutter an. ‚Bestimmt hat Quanah diese künstlerische Ader von dir.‘
Medinah erwiderte das Lächeln ihrer Tochter und zog sie liebevoll an einem Zopf. ‚Und du trittst nun in die Fußstapfen deiner Großmutter … Ich bin stolz auf dich.‘
Ein wenig mit Verlegenheit kämpfend, denn Lob gab es sehr selten, ließ Caatana ihren Blick über die gesammelten Pflanzen aus den Körben gleiten, die sie vorsichtig auf der Wiese ausgebreitet hatten. ‚Chinook wird sich freuen. Wir bringen einen ordentlichen Vorrat an Heilpflanzen heim. Damit kann vielen Leuten geholfen werden.‘
Medinah nickte zustimmend und legte sich auf ihrem Mooslager nieder. ‚Schlaf jetzt, Kind. Wir haben morgen noch einen langen Rückweg vor uns, und ich will früh aufbrechen, damit wir vor der Mittagshitze im Dorf sind.‘
Gehorsam rollte sich auch das Mädchen auf seinem Lager zusammen. Sie blinzelte noch ein paar Minuten schläfrig und genoss es, den prächtigen Sternenhimmel zu betrachten. Der Fluss strömte gleichmäßig murmelnd an ihrem Lagerplatz vorüber und entführte Caatana und ihre Mutter schon bald in einen tiefen Schlaf.
Chinook erwachte sehr früh am Morgen. Es war noch fast dunkel. Irgendetwas hatte sie geweckt. Sie horchte angestrengt und vernahm Stimmengemurmel. Leise stand sie auf und näherte sich der Türöffnung. Sie schob den Ledervorhang ein wenig beiseite und spähte hinaus. Draußen erwartete sie ihr Schwiegersohn Nacomah in einem Pulk anderer Männer, mit denen er offenbar auf der Jagd gewesen war, denn auf einer Schlepptrage lag ein erlegter Wapiti-Hirsch. Nacomah grüßte sie respektvoll und bedeutete dann mit einem Kopfnicken zwei jungen Kriegern nach vorne zu treten. Sie stützten einen weißen Jungen, der sich allein nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Hinter ihm trat ein Trapper vor, der sich kurz grüßend verbeugte. ‚Ich bin Mathieu.‘ Er schien sehr aufgeregt, redete praktisch mit Händen und Füßen und versuchte, mit ein paar Brocken indianischen Dialektes der Coast Salish zu erklären, dass sein Sohn einen felsigen Abhang hinuntergestürzt sei, sich dabei eine Wunde am Bein zugezogen habe, die zunächst nicht weiter schlimm erschienen sei, sich dann aber dramatisch entzündet habe. Chinook hatte großes Mitleid mit dem fremden Weißen, der kaum der Pubertät entwachsen zu sein schien. Er konnte höchstens fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, hatte also in etwa das Alter ihrer Enkelsöhne. Inzwischen wurde es hell, und das Leben im Lager erwachte. Sie bat die Männer, ihn auf ein Büffelfell neben dem Eingang zu legen, und schickte ein junges Mädchen, das vorüberkam, zum Wasserholen. Als sie mit den Trappern allein war, löste sie den provisorischen Verband und sah, dass die Wunde am Unterschenkel tatsächlich schwer entzündet war. Sie musterte aufmerksam das Gesicht des Verletzten und erkannte, dass seine Augen fiebrig glänzten. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und sein Atem ging unnatürlich schnell. Sie legte eine Hand auf ihr Herz und sagte ihren Namen. Dann schaute sie ihn fragend an, und auch er sprach seinen Namen aus: ‚Jacques. Ich bin Jacques.‘
Sie nickte freundlich und gab ihm vorsichtig Wasser zu trinken. Dann machte sie dem Vater des Jungen klar, dass er die Stirn seines Sohnes kühlen solle, ehe sie aufstand und begann, aus Kräutern und Wurzeln einen heilenden Brei zuzubereiten. Als sie nach einer Weile damit fertig war, bemerkte sie, dass der Junge in einen fiebrigen Schlaf gefallen war, den Kopf hin- und herwarf und murmelnd die Lippen bewegte. Sie kniete neben seinem Lager nieder, wusch und spülte gründlich die Wunde aus, ehe sie die cremige Masse in einem Umschlag um sein Bein wickelte.“
Helen hielt in ihrer Erzählung inne, beugte sich vor und goss sich etwas Wasser ein. Rose und Julie sahen mit großen Augen zu. Rose streichelte mechanisch den kleinen Hund. „Darf man denn so einen Brei auf eine Wunde tun, Mom?“
Helen hatte einige Schlucke Wasser getrunken und stellte nun das Glas auf dem provisorischen Tisch ab. „Chinook durfte das, Rose. Sie war zu ihrer Zeit so etwas wie ein Arzt in der heutigen Zeit. Sie war klug und umsichtig, und sie wusste unvergleichlich viel über die Heilkräuter. Stunden später trafen Medinah und Caatana im Indianerdorf ein. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und ihre Kleidung klebte unter den Tragekörben auf ihrem Rücken. Als sie Chinooks Hütte betraten, waren sie überrascht, dort auf die beiden fremden Weißen zu treffen. Caatana nickte grüßend. Wie es sich jedoch für eine unverheiratete junge Frau des Stammes gehörte, zog sie sich mit gesenktem Blick in den hinteren Bereich des Langhauses zurück und machte sich daran, die gesammelten Kräuter zu bündeln, zusammenzubinden und zum Trocknen aufzuhängen. Bald ging es dem Trapper-Sohn Jacques besser, aber die Männer mussten einige Zeit im Indianerlager bleiben, ehe Jacques wieder vollständig gesund war. Und so lernten Mathieu und sein Sohn die Indianer kennen. Jacques interessierte sich für Caatana, die ihrer Großmutter bei der Heilbehandlung half. In den wenigen Momenten, in denen sie allein waren, erzählten sich der Sohn des Trappers und die Enkelin der Heilerin Dinge aus ihren Welten. Sie mochten sich sehr, verspürten Herzklopfen und Aufregung, wenn sie miteinander zu tun hatten - und wären die Zeiten nicht so schwierig gewesen, hätten sie vielleicht sogar ein Paar werden können. So aber rief Mathieu seinen Sohn zur Ordnung, denn er wollte die Indianer, die ihnen so sehr geholfen hatten, nicht verärgern. Und Caatana war – obwohl noch nicht ganz dreizehn Jahre alt – Satanka versprochen, dem Sohn des Häuptlings. Die Traditionen mussten gewahrt werden. Schließlich war es so weit: Vater und Sohn konnten wieder aufbrechen. Aus Dankbarkeit kehrten Mathieu und Jacques aber jedes Jahr zum Stamm zurück und überbrachten Geschenke. Es entstand eine tiefe Freundschaft. Jahre später schenkte Caatana ihrer Tochter Keetah das Leben, und Jacques und seine Frau bekamen einen Sohn, Louis. Die Freundschaft zwischen den Nootka und der Familie der Weißen blieb über Generationen hinweg bestehen, sie fand schließlich ihren gemeinsamen Nenner, als Keetahs Enkelin Helen und Louis’ Enkel Jack heirateten.“ Helen lächelte ihrer Tochter zu.
„Zur Erinnerung an die gemeinsame Geschichte nannten die beiden ihren Sohn nach dem ersten Trapper Mathieu, Matthew. Und so ist dein Bruder Matt zu seinem Namen gekommen.“
Rose machte große Augen. „Ehrlich? Ist das echt wahr? Wow!“ Dann runzelte sie kurz – ganz in Geschwisterrivalität - die Stirn. „Und? Gibt es zu meinem Namen denn auch eine besondere Geschichte?”
Clara und Helen mussten lachen. Helen stand auf und reichte ihrer Tochter eine Hand, um sie hochzuziehen. „Aber ja! Nur die heben wir uns für nächstes Mal auf. Jetzt müsst ihr beide euch waschen und Zähne putzen. Es ist Zeit zum Schlafen.“
Als die beiden Frauen später noch bei einem Tee zusammensaßen, blickte Clara ihre Freundin etwas unsicher an. „Darf ich dich mal etwas fragen?“ Als Helen nickte und interessiert auf dem Sofa nach vorn rutschte, fuhr sie fort: „Ich fand die Geschichte richtig schön, die du den Mädchen erzählt hast, aber was ich mich schon lange gefragt habe: Ihr tragt gar keine indianischen Namen … Ich meine, bei Matt und Rose hätte ich es mir damit erklären können, dass es wegen Jack womöglich zu englischen Namen gekommen ist. Aber du … warum hast du mit Helen so einen ‚normalen‘ Namen?“
Helen lachte. „Die Begründung dafür liegt in unserer Geschichte. Vor langer Zeit wurde bestimmt, dass alle Menschen indianischen Ursprungs auch einen ‚offiziellen‘, meist englischen Namen bekommen sollten, damit sie besser ‚registriert‘ werden konnten.“ Sie rutschte auf dem Sofa wieder nach hinten, zog die Beine mit hinauf und kuschelte sich in die Sofaecke. „Bei uns ist das mit den Namen ohnehin anders als bei euch. Sie beschreiben, ähnlich wie ein Bild, oft eine besondere Begebenheit oder ein bestimmtes Ereignis, das zeitgleich zur Geburt eines Kindes stattgefunden hat. Eine einfache, sozusagen platte Übersetzung lässt so einen Namen dann häufig lächerlich erscheinen.“ Sie stellte ihre Teetasse ab. „Der Name eines Menschen kann sich im Laufe seines Lebens auch ändern, und ihm wird – wieder aufgrund besonderer Geschehnisse – ein neuer Name verliehen.“ Ihr Handy klingelte. „Entschuldige, Clara.“ Sie sprang auf und lief in den Flur, wo es auf der Kommode lag. Gleich darauf hörte Clara sie lachen. Als sie zurückkam, ließ sie sich wieder auf die Couch fallen. „Also, den Jungs geht es mit Jack und Tony super. Matt ist komplett ins Wasser gefallen und musste sich umziehen, aber Lukas hat an der Seite von Tony seinen ersten großen Fisch geangelt. Alle scheinen Spaß zu haben.“ Sie goss sich noch eine Tasse Tee ein.
Clara griff nach ihrem Handy und kontrollierte, ob eine SMS eingegangen war. „Hm. Lukas hat mir gar nichts geschrieben …“ Sie sah auf. „Meinst du, sie haben es auch warm genug da draußen?“
Helen nahm sich ein Plätzchen und lehnte sich dann zurück. „Na klar! Vermutlich haben sie einfach nicht überall Empfang, oder er war durchs Angeln so abgelenkt.“ Sie kaute zufrieden. „Erzähl doch mal von deinem Leben in Deutschland! Wie habt ihr gewohnt? Und wie sieht es da aus, wo ihr gelebt habt? Wie war die Schule von Lukas?“
Clara musste lachen. Helen verstand es einfach unnachahmlich, ihre Sorgen zumindest ein wenig zu zerstreuen. „So viele Fragen auf einmal!“ Dann begann sie zu erzählen.