Читать книгу Die Macht der Zeit - Christin Busch - Страница 6
Prolog
ОглавлениеEin sonniger Spätsommertag lag hinter Clara Jensen, als sie sich bückte, um den Rasensprenger mit einem Klick an den Gartenschlauch anzuschließen. Als sie sich aufrichtete, um den Wasserhahn neben der Garage aufzudrehen, fiel ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, die sich aus ihrem glänzenden honigblonden Zopf gelöst hatte. Sie strich sie energisch beiseite und sah auf ihre Armbanduhr. Wut stieg in ihr auf. Viertel nach sechs! Was fiel Lukas nur wieder ein! Hoch und heilig hatte der Neunjährige ihr versprochen, um halb sechs wieder zu Hause zu sein. Sie hatte seinem bittenden Blick aus großen braunen Augen, in denen ein leuchtender Grünschimmer lag, nichts entgegensetzen können, ebenso wenig seinem unwiderstehlichen Jungenlächeln, bei dem sich stets seine pfiffigen Grübchen zeigten. Sie seufzte, als ihre Augen am Hasenfreilauf auf dem Rasen hängen blieben. Auch das war eigentlich die Aufgabe ihres Sohnes, aber wenn das Tier jetzt nicht vom Rasensprenger geduscht werden sollte, musste sie es wohl selbst in sein Quartier bringen. Resigniert öffnete sie die Abdeckung, bückte sich und nahm das Kaninchen auf den Arm, um es zu seinem Stall zu bringen.
Bereits eine Dreiviertelstunde später war ihre Wut in Unruhe umgeschlagen, sie wählte nervös die Nummer von Julians Eltern und wartete darauf, dass sich jemand meldete.
„Hey, Susanne, hier ist Clara. Sag mal, finden die Jungs heute wieder kein Ende? Lukas wollte eigentlich eher nach Hause kommen. Sind sie denn wenigstens schon unterwegs?“
Sekundenlang herrschte Schweigen, bevor Julians Mutter sich gefasst hatte. „Wieso? Das verstehe ich nicht. Ich dachte, sie spielen bei euch.“
Clara wurde plötzlich warm. „Nein! Hier waren sie den ganzen Nachmittag nicht! Lukas ist so um viertel nach zwei zu euch aufgebrochen. Zuvor hatte er doch noch mit Julian telefoniert.“
„Ja, schon. Und Julian ist ihm auch wie immer entgegengefahren …“ Susanne schluckte. „Mensch, ich dachte, sie hätten es sich überlegt und wären zu euch gefahren, oder Lukas hätte sich beim Hasenfuttersammeln verzettelt.“
Clara zählte innerlich bis drei. Sie wollte der Freundin keinen Vorwurf machen. Hastig überlegte sie. „Ich setze mich jetzt aufs Rad und fahre den Weg zu euch ab.“
Susanne nickte unwillkürlich. „Jan hat heute Urlaub. Wir kommen dir entgegen.“ Und wie um sich selbst zu beruhigen, fügte sie hinzu: „Das wäre doch gelacht, irgendwo müssen sie ja stecken! Bis gleich.“
Clara lief ins Haus, holte ihre Handtasche, in der sie rasch ihren Schlüsselbund verstaute, und warf sie vorn in ihren Fahrradkorb. Als sie von der Dorfstraße in den Feldweg abbog, schlug ihr Herz schneller. Sie hätte nicht erklären können, wieso sie bereits jetzt so ein ungutes Gefühl im Bauch hatte, schließlich waren die Jungen keine Babys mehr, aber trotzdem machte sich eine seltsame Beklemmung in ihr breit, und sie warf einen flehenden Blick zum Himmel. Was sollte sie nur tun, wenn ihrem Sohn etwas zugestoßen wäre?
Jetzt am Abend waren ein paar Spaziergänger mit ihren Hunden unterwegs. Von den beiden Jungen war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Clara schluckte. Ihr Puls ging schneller, als ihr die Eltern von Julian entgegenkamen und anhielten.
„Habt ihr sie gefunden?“
Die beiden schüttelten den Kopf. Jan Brinkmann fuhr sich über den gestutzten Vollbart. „Jetzt bleibt mal ganz ruhig. Die beiden haben bestimmt einen Klassenkameraden getroffen, der ihnen vielleicht irgendwas Tolles zeigen wollte, und sind dann mitgefahren.“ Er grinste die Frauen zuversichtlich an. „Wir sollten ihre Freunde anrufen und nachfragen. Komm mit zu uns, Clara.“ Er wandte sich um und pfiff nach dem hell-sandfarbenen Labrador-Retriever, der zurückgeblieben war und am Rande des Maisfeldes herumschnüffelte.
Clara schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fahre lieber zu uns zurück. Vielleicht meldet sich Lukas ja und dann ist niemand zu Hause.“
Sie wollte ihr Fahrrad wieder umdrehen, als der Hund aufgeregt anfing zu bellen.
Jan pfiff erneut und rief ärgerlich nach ihm.
„Sandy! Hierher! – Ach, Mensch, was ist denn jetzt schon wieder? Wahrscheinlich hat sie einen Igel aufgestöbert.“ Er fuhr zurück, um den Hund an die Leine zu nehmen.
Clara war innerlich total aufgelöst. Sie verspürte auch Wut auf Susanne, die schließlich schon Stunden zuvor mit einem einzigen Anruf bei ihr hätte klären können, dass die Jungen nicht wie verabredet eingetroffen seien. Sie riss sich jedoch zusammen. Sie wollte in ihrer Aufregung nichts sagen, was ihr hinterher womöglich leidgetan hätte. Sie schwiegen angespannt und sahen Jan einen Moment unschlüssig hinterher. Sekunden später erschraken sie, als er aufgeregt nach ihnen rief. Er hatte einige Schritte in das Maisfeld hinein gemacht und schob jetzt ein Kinderfahrrad auf den Weg, das er abstellte. Erneut folgte er dem im Feld verschwundenen und bellenden Hund. Claras Herz schlug bis zum Hals, als sie das Fahrrad ihres Sohnes erkannte. Wo war Lukas? War das ein Spiel? Hatten die beiden sich vor ihnen im Feld versteckt? Instinktiv ahnte sie, dass es nicht so war. Angst kroch auf sie zu. Sie versuchte, sich gegen dieses Gefühl zu wehren, und folgte hastig ihrer Freundin, die einen erschrockenen Schrei ausstieß, als Jan mit Julian auf den Armen zwischen den Maispflanzen erschien. Der Junge sah blass aus. Er machte einen benommenen Eindruck und schien orientierungslos zu sein. Seine Mutter ließ ihr Rad fallen und stürzte auf ihn zu.
„Julian! Was ist passiert? Ist dir schlecht?“
Jan setzte seinen Sohn ins Gras der Böschung und hockte sich daneben. Er nahm das Gesicht seines Kindes in beide Hände und sah ihm prüfend in die Augen. Julian war verwirrt und zitterte, als ob ihm kalt wäre.
„Mama!“ Er streckte beide Hände seiner Mutter entgegen, die ihn sofort in die Arme schloss.
Clara stand fassungslos daneben. All ihre diffusen Ängste hatten plötzlich Gestalt angenommen. Fast tonlos formten ihre Lippen Worte. „Wo ist Lukas?“
Jan und Susanne sahen erschrocken zu ihr auf. Unwillkürlich ging Jans Blick sofort zu dem Hund, der jetzt aber unbeteiligt hechelnd neben Julian im Gras lag - er schien alles gefunden zu haben, was es zu finden gegeben hatte.
Trotz der Hitze lief Clara ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wo war ihr Sohn? Sie ging ebenfalls in die Hocke und legte bestimmt eine Hand auf die Schulter des Jungen. Ihre Stimme kam ihr merkwürdig schrill vor. „Julian! Hörst du nicht? Julian, wo ist Lukas?“
Der Junge schmiegte sich wieder an seine Mutter und begann zu weinen. Stockend brach es aus ihm hervor.
„Da waren diese Leute … Die waren … erst echt nett.“ Er verstummte.
Clara spürte jetzt ihren Puls in den Schläfen. In ihren Ohren summte es. Sie wurde laut. „Was denn für Leute, Julian? Julian!“
„Clara!“ Jan war hinter sie getreten und legte einen Arm um ihre Schultern. Er sah ihr ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Ihr wurde bewusst, dass er sie darum bat, seinen Sohn nicht so anzuschreien, doch sie hätte den Jungen am liebsten geschüttelt, um zu erfahren, wo Lukas steckte. Ihr Herz hämmerte so heftig, als wollte es sich aus ihrem Brustkorb befreien. Tief in ihr stieg die Gewissheit auf, dass Fremde den Jungen etwas angetan hatten. Aber warum hatten sie ihren Sohn mitgenommen und Julian dagelassen? Verdammt! Wo war Lukas?
Jan erkannte die Panik, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, und führte sie ein paar Schritte beiseite. „Clara, du darfst ihn nicht so verschrecken, sonst kriegen wir gar nichts mehr aus ihm heraus.“
Ihre Stimme überschlug sich, als sie schließlich die Fassung verlor. „Du hast gut reden! Dein Sohn ist ja auch hier!“ Sie sah ihn verzweifelt an. „Ich will aber wissen, wo mein Sohn geblieben ist, verdammt noch mal! Julian ist der Einzige, der uns dazu etwas sagen kann.“
Sekundenlang starrten sie sich an. Susanne war hastig aufgestanden und kam zu ihnen. Sie schien ebenfalls kurz davor, in Tränen auszubrechen. Sie wirkte fahrig, als sie sich neben ihren Mann stellte. Leise und gehetzt sprach sie: „Hört sofort auf, euch anzuschreien. Wir müssen die Polizei anrufen, jetzt gleich! Nach allem, was ich auf die Schnelle aus Julian herausbekommen habe, sind die beiden von einem Mann und einer Frau nach dem Weg gefragt worden. Erst waren sie sehr freundlich, und dann haben sie die Jungen mit irgendetwas betäubt.“ Sie schluckte heftig. „Julian sagte, ihm sei ein Tuch aufs Gesicht gepresst worden - und dann weiß er nichts mehr.“
Clara hatte ihr mit weit aufgerissenen Augen zugehört. Ihre dünne Sommerbluse klebte ihr am Rücken, und sie war leichenblass. Das hier - das konnte einfach nicht wahr sein. So etwas passierte doch nicht hier auf dem Land, am Rande einer Kleinstadt. So etwas gab es doch nur in Filmen. Sie sank in sich zusammen, kauerte auf dem Grünstreifen neben dem Feld und fing an zu weinen. Sie fühlte sich so hilflos wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Irgendjemand hatte ihr Kind entführt, und sie konnte nichts tun. Seit Lukas auf die Welt gekommen war, war er ihr Lebensinhalt. Nach zwei Fehlgeburten hatte sie sich nichts mehr gewünscht, als für dieses Kind da sein zu können.
Susanne hatte wieder einen Arm um Julian geschlungen, der unsicher von einem Erwachsenen zum anderen sah. Jan zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Notrufnummer der Polizei.
Clara war wie betäubt. Sie bekam weder etwas von dem Telefonat mit dem Beamten mit, noch dass Jan gleich darauf auch ihren Mann anrief und ihm in knappen Worten ebenfalls die Situation beschrieb. Ihre Tränen trockneten auf den Wangen und hinterließen mitsamt der verlaufenen Wimperntusche eine schmale dunkle Spur. Sie starrte vor sich hin und sah nicht einmal auf, als der Polizeiwagen eintraf. Sie wusste nur noch, dass ihr Kind verschwunden war.