Читать книгу Die Passion Jesu im Kirchenlied - Christina Falkenroth - Страница 89
2.4.2 Die musikalische Gestalt Die Strophe
ОглавлениеKennzeichnende Eigenart der Melodie ist, daß sie in einer Spannung von Gleichmaß und Bewegung gehalten wird. Der Eindruck des gleichmäßigen wird erweckt durch verschiedene Faktoren: Alle Zeilen beginnen mit dem gleichen Ton: Mit einem a’, das dreimal wiederholt wird. Alle Zeilen haben eine rhythmisch gleichbleibende Struktur: Sie bestehen aus gleichmäßigen Vierteln. Die Mitte der Zeile, gleichsam ein Ruhepunkt, wird gebildet aus zwei halben Noten1, das Ende besteht aus einer Ganzen. Dadurch wird den einzelnen Zeilen eine symmetrische Struktur verliehen, die zum Eindruck des Gleichmaßes beiträgt.
Das viermalige Singen des gleichen Tones zu Beginn jeder Zeile hat eine doppelte Wirkung: Einerseits gibt es dem Zeilenbeginn den Charakter der unendlichen Tonwiederholungen und eines ewigen Gleichmaßes, andererseits bewirken diese eine Stauung und bauen so eine fast bis ins unerträgliche gehende Spannung auf.2 Die Tonwiederholungen geben dem Zeilenbeginn also einen drängenden Charakter; die aufgebaute Spannung ist so groß, daß sie der beiden halben Noten und zudem der zweiten Zeilenhälfte mit ihrer diatonisch absteigenden Linie bedarf, die Entspannung herbeiführen, bis in der ganzen Schlußnote ein Ruhepunkt erreicht ist.
Die ganze Note verleiht zudem jedem Zeilenende eine Schlußwirkung, durch die jede einzelne Zeile eine eigentümliche monadische Existenz gewinnt. Diese Gestaltung verleiht jeder Zeile den Charakter von Spannung und Entspannung. In der Ununterschiedenheit der Zeilen in diesem Punkt liegt ein weiterer Faktor, der den Eindruck des Gleichmaßes unterstreicht.
Bewegung gelangt in die Melodie durch die Intervallik der beiden Halben in der Mitte der Zeile, obwohl ihre Metrik gleichzeitig – wie oben gezeigt – das Gegenteil, Beruhigung, bewirken.
Die halben Noten der einzelnen Zeilen betrachtend zeigen sich fallende Intervalle, die sich stetig vergrößern: Sekunde – Terz – Quart. Mit der Terz in der vierten Zeile verkleinert sich das Intervall wieder und führt so zum Ende der Vier-Zeilen-Einheit hin.
Hier zeigt sich, daß die vier Zeilen nicht nur eine monadische Existenz, sondern auch einen Bezug aufeinander haben: Einerseits ist jede gleich und in sich abgeschlossen in der Bewegung von Spannungsaufbau und -abbau, andererseits wird durch die stetige Vergrößerung der Intervalle in der Mitte ein Spannungsaufbau zur dritten Zeile hin eine zeilenübergreifende Spannung aufgebaut, die in der vierten Zeile wieder abgebaut und in Entpannung und Beruhigung geführt wird. So sind die vier Zeilen durch die Intervallik der Halben in der Zeilenmitte miteinander zu einem Ganzen verbunden.
Auch Tonraum und harmonikaler Rahmen schließen die Zeilen zu einer Gesamtheit zusammen: Jede Zeile beginnt auf dem a’, dem Zentralton des Modus der Melodie, mixolydisch auf d’.
Die Zeilenenden werden aus dem finalis, d’, der repercussio (a’) oder aus g’ (in der Funktion einer Binnenkadenz) gebildet, so daß sie den harmonikalen Rahmen stabilisieren.
Der Ambitus und der Tonraum erhöht sich durch die Intervallik der Halbe bis hin zum Spitzenton d’’, der Oktave über der finalis, der somit Höhepunkt von Ambitus und Spannung ist. Dies umso mehr, als die Oktav der Finalis unüblich ist für den „klassischen Duktus modaler Bewegungen im Tetrardus“, der meist nur zur 7. Stufe steigt3. Dort geschieht die musikalische Peripetie, von der an der Tonraum wieder in die untere Quinte wandert und so den Spannungsabfall, der auch an dem kleiner werdenden Intervall der Halben der Zeilenmitte mitbewirkt.
Die Spannung von Gleichmaß und Bewegung innerhalb der Melodie ergibt sich also aus der Faktur: Das Gleichmaß hängt an der relativen Bewegungsarmut durch Isotonie und Isometrik und dem Verbleiben des Tonraumes im Tonzentrum a’. Die Bewegung hängt an der Intervallik der Halben und am regelmäßig stattfindenden Spannungsaufbau durch das drängende Element der Tonwiederholungen.