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Selbstbeweinung statt Schuldzuweisung
ОглавлениеZu Beginn seines Sermons geht Luther auf Formen der Betrachtung des Leidens Jesu ein, die er für nicht fruchtbar und unangemessen hält: Es „bedencken ettlich das leyden Christi alßo, daß sie uber die Juden tzornig werden, singen und schelten uber den armen Judas und lassen es alßo genug seynn, … andere leuth zu clagen und yhre widdersacher vordamen und vorsprechen.“1
Die Judasstrophe scheint im Hintergrund seiner Kritik zu stehen. Was er an ihr und der darin eingenommenen Haltung gegenüber dem Gekreuzigten bemängelt, ist – wie später im Sermon auch noch explizit wird – die Distanz, die der Betrachter zum Kreuzesgeschehen einnimmt: Dieser sieht sich in einer Position, in der er selber nichts damit zu tun hat, er weist Schuld zu und bemitleidet den Gekreuzigten, aber tritt in keinerlei Beziehung zum Geschehen oder zur Person Christi, er bleibt außenstehender Betrachter.
Diese Haltung steht dem Grundanliegen des Passionsbedenkens nach Luther ganz und gar entgegen. Für ihn ist die innere Bezugnahme des Betrachters auf das Geschehen und auf den Gekreuzigten von grundlegender Bedeutung. „Die bedencken das leyden Christi recht, die yhn alßo ansehn, das sie hertzlich darfur erschrecken und yhr gewissen gleych sincket yn eyn vorzagen.“ Der Grund dafür liegt in der Erkenntnis, „du seyest der, der Christum alßo marteret, dan deyn sund habens gewißlich than.“2
Ein Verkennen dieser Ursache ist gefährlich. Luther sagt seinem Leser, er solle denken, „tibi soli haec fecerit … si non tibi sed aliis factum putas, iam negasti eum“3. Indem der Betrachter des Leidenden meint, die Ursache des Leidens läge allein bei anderen, hat er ihn schon verleugnet.
Für Luther ist von Bedeutung, beim Anblick des leidenden Christus auf die Erkenntnis seiner selbst mit dem Beweinen der eigenen Sünden zu reagieren. In seinem Sermon erwähnt er das Wort Jesu an die Frauen, die ihn auf seinem Weg zur Kreuzigungsstätte beweinten, sie sollten nicht ihn, sondern sich selbst beweinen.4 Von größerer Bedeutung ist es in seinem ersten Sermo de Passione: Er bezeichnet es als eine „Pflicht“5, die aus der Erkenntnis seines Leidens hervorgeht, zu weinen und zu wehklagen: „plangi oportet super christum, sicut ipse super nos planxit unus, et nostrum est omnes plangere“. 6
Daß Erkenntnis und Selbstbeweinung für ihn dicht zueinandergehören, formuliert er in derselben Predigt etwas später: Das Leiden Christi als Gegenstand zum Zwecke der Erkenntnis will eine bestimmte Antwort des Betrachters hervorrufen: es zeigt unsere innere Verfassung vor Gott, die uns zum endlosen Wehklagen und Weinen führt: „ostendat, quales simus intus coram Deo, ut his agnitis non cessemus plangere, dolere, flere et poenitere“7. Ohne diese Reaktion ist das Kreuzesgeschehen nicht in seiner Bedeutung erfaß. Erst, wenn einer sich selber in Christi Leiden abgemalt erkennt und daraus lernt, mit sich selber zu leiden, hat er nicht vergeblich mit Christus gelitten8. Wir sollen nicht weinen ohne das Weinen über uns selbst. Mit seiner Aufforderung an die Frauen, nicht über ihn, sondern über sich selber zu weinen (Lk 23,28), verbietet er es, ihn zu bemitleiden und ihn zu trösten zu suchen, und dabei sich selber außer Acht zu lassen und nicht über sich selbst zu weinen. Das Weinen im Blicken auf Christus ist sinnvoll: „Sed in quo possemus nos magis agnoscere et plangere quam in christo? Nusquam utique: quia hic intelligit homo miseriam suam …“ 9. In Christus können wir uns am besten erkennen und unser Elend begreifen, das unendlich und unermeßlich ist.
Selbstbeweinung gehört nach diesen Ausführungen Luthers zum Blick auf den Gekreuzigten als Ausdruck dafür, daß Erkenntnis der Sünde, daß Selbsterkenntnis stattgefunden hat. Es steht zu Beginn des Prozesses, der durch die Betrachtung des Leidenden im Menschen stattfindet. Damit ist der Betrachter weit entfernt von dem Verhalten, das Luther kritisiert, in dem das Weinen und Bemitleiden Christi oder gar des Judas als Flucht vor sich selber zu verstehen ist.