Читать книгу Kam, sah und siegte - Klasse ist lernbar - Christine Daborn - Страница 19
Grundsatz 4: Identität statt Individualität
ОглавлениеAlle wollen Individualisten sein. Fast nichts wird heute so groß geschrieben und so vehement verteidigt wie der Individualismus. Schauen wir uns dieses Phänomen darum einmal genauer an. Was verstehen wir heute unter Individualität? Machen können, was wir wollen! Aber was tun die meisten, wenn sie das tun, was sie wollen? Freiwillig und ständig? Sie machen das, was alle machen. Sie sind nicht individuell. Sie fliegen wie all die anderen Tausenden in der Hochsaison in den Urlaub, sie wählen mit all den anderen Tausenden die populärsten und somit ausgebuchten Destinationen, sie begeben sich in den Stau, gehen an die massenhaft stattfindenden Massenveranstaltungen – ad absurdum Streetparade –, sie stehen Schlange wegen Fastfood (Massenabfertigung) und sorgen für die hohen Quoten der Reality-Soaps (Massenverdummung).
Und selbstverständlich unterscheiden sie sich auch in ihrem Outfit durch nichts, aber auch durch rein gar nichts von all den übrigen Individualisten (Massenlook).
«Aber ja doch», sagen Sie jetzt vielleicht, «ein Mann zum Beispiel, der einen Ohrring trägt, der ist doch speziell, der hebt sich doch ab von den anderen, der hat Mut.» Nein. Ein solcher Gag ist ausschließlich Show, kein Zeichen von Individualität und hat ganz bestimmt nichts mit Identität zu tun. Oder kennen Sie ein erstrebenswertes Persönlichkeitsmerkmal, das durch einen Ring im Ohr zur Geltung kommt?
Menschen mit Identität sind eigenständig, glaubwürdig und beständig7, sie denken und handeln selbstständig. «Agir, c’est le fait d’un seul!»
Haben Sie sich schon einmal überlegt, wer uns diese «Individualisierung der Gesellschaft» eigentlich weismachen will, uns aber gleichzeitig mit Massenware abserviert? Der Individualismus ist eine Marktlüge und führt zu einer Selbstlüge – denn wahr ist die totale Vereinzelung. Die Menschen befinden sich in einem Zustand der Vereinsamung. Sie wollen teilhaben an einer Kommune und sich ohne Engagement unterhalten lassen», das hat ausgerechnet einer der erfolgreichsten Event-Manager der Schweiz in einem Interview gesagt. Die Leute mischen sich unter die Massen aus der Sehnsucht heraus, dazuzugehören. Umso mehr bleiben sie allein, denn die Masse kennt keine Gemeinschaft, höchstens ein paar Gemeinsamkeiten. Die Raver tanzen nicht miteinander, sondern nebeneinander, jeder für sich. In der Masse gehört man zu niemandem, man geht in ihr unter.
Kein Wunder, sitzt die Angst so tief, übersehen und übergangen zu werden. Um sich bemerkbar zu machen, versucht man aufzufallen und vergreift sich an den schrillsten Mitteln. Und doch ist man – fast nackt und völlig skurril – selbst auf dem Lovemobil doch bloß wieder einer von den vielen Gewöhnlichen, Gleichen …