Читать книгу Totensteige - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 11

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Die Wasserburg Kalteneck lag mit wachsamem Blick ins für ­heranrückende Heere geeignete Tal in einer dörflichen Wohngegend. Die Fensterläden waren rot gestrichen, die Wände weiß, das Fachwerk grau. Von der Straße gesehen, sah sie aus wie ein Altstadthaus, deshalb war ich zweimal vorbeigefahren. Erst wenn man an die Mauer herantrat, sah man den Wassergraben.

Gegen die angrenzenden Grundstücke mit ihren verstädterten Bauernhöfen war der Graben abgezäunt. An seinen Böschungen stand Gebüsch in Winterstarre. Mit dem Festland von Holzgerlingen war die Insel der Geister nur durch einen Steg verbunden. »Institut für Grenzwissenschaften und Parapsychologie« stand auf dem Schild. Darunter die Sprechzeiten für Beratung.

Das Boot lag hinten an einer Terrasse. Ein paar vereiste Stufen führten hinunter. Die dünne Eisdecke splitterte, als ich in die Nussschale stieg, schwarzes Wasser quoll empor. Vermutlich würde es sich rudern lassen. Nur musste man dazu Ruder haben. Wir fanden sie zusammen mit der Leiter zwischen Bierbänken und Kisten im Gewölbekeller. Ich legte die Aluminiumleiter längs und setzte mich darauf. Bei jedem Zug knackte das Eis unterm Bug. Ich ruderte unterm Steg hindurch. Straßenseitig knallte die Sonne auf die hohe weiße Wand, die mit steinernen Widerlagern verstärkt war. Die erste Reihe der Fenster lag meterhoch, an die zweite musste ich heran. Desirée hatte mir die Fenster von Rosenfelds Eckbüro gezeigt.

Schnapsidee!

Allein die Leiter vom Boot ins Wasser schieben, ausziehen und aufstellen, grenzte an Slapstick. Der Wassergraben war allerdings nicht tief. Ertrinken konnte man darin nur, wenn man sich platt auf den Bauch legte. Die Leiter stand ganz gut im geziegelten Grund des Grabens und reichte gerade bis an den Sims des Fensters, das ich mir ausgesucht hatte. Ich leinte das Boot an einer Sprosse an und versuchte, nicht ins Wasser zu fallen, als ich zur Leiter hinüberstieg. Wenn man knirschende und wippende Gestänge erklimmt, darf man nicht nachdenken. Schnell lag das Boot tief unten. Ich sah in die Gärten der modernisierten Dorfhäuser, auf Autodächer, auf die Straße. Hinter der Mauer war ein älteres Ehepaar neben dem fröstelnden Sonnenscheinchen stehen geblieben.

Um durchs Fenster blicken zu können, musste ich mich an der nackten Wand abstützen. Die Sonne machte aus der Scheibe einen Spiegel, ich sah nur mein Rübengesicht und musste mit beiden Händen das Glas verschatten.

Es leuchteten Bücherregale und Ablagen, wo die Wintersonne hinlangte. Genau vor mir, unterm Fenster, stand ein Schreibtisch. Ich blickte auf die Rückseite eines Mac-Bildschirms, Stapel wissenschaftlicher Zeitschriften, Bücher, einen Köcher mit Stiften, eine Kaffeetasse. Doch unter dem Tisch hervor ragte ein Paar khakifarbener Hosenbeine. Die Füße steckten in braunen Trekkingschuhen. Sie stießen fast an die Tür.

Sackzement!

Den ganzen Morgen hatte ich schon ein blödes Gefühl gehabt. Wie neben der Kapp. Seit mich im Oktober ein Irrer auf der Buchmesse so gut wie totgeschossen hatte, neigte ich zu Raumzeitkrümmungen. Vielleicht eine Folge des Ketamins, mit dem man mich sediert hatte, oder der vorübergehenden Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, jedenfalls war etwas in meinem Kopf aus der Spur gesprungen und geisterte linksherum. Manchmal wusste ich nicht, wie ich von A nach B gekommen war, ich dachte, was Richard erst Minuten später sagte, oder ich hörte mein Handy klingeln, schaute auf die Anzeige, und erst dann baute sich tatsächlich ein Anruf auf und es begann zu klingeln. Solche Sachen.

Vermutlich wurde ich nur deshalb an diesem Montag, dem 31. Januar Teil dessen, was manche heute die Kalteneck-Verschwörung nennen. Hätte ich akzeptiert, dass ich zu spät zum Termin gekommen war, und wäre einfach wieder gegangen, wäre alles anders gekommen. Hätte ich nicht nachgeguckt, wäre Rosenfeld nicht tot gewesen. Das ist das Geheimnis von Schrödingers Katze und allen Psi-Phänomenen. Sie sind erst da, wenn man im System ist. Und aus diesem System komme ich erst wieder raus, wenn ich weiß, wie ich hineingekommen bin.

Auf der Leiter an der Außenwand der Burg Kalteneck handelte ich reflexartig, routiniert, fatalistisch. Lisa Nerz findet wieder mal eine Leiche. Ich krustelte mein Handy aus der Jackentasche – nicht fallen lassen! – und machte ein paar Fotos. Was draufkam, konnte ich nicht erkennen, denn die Sonne verblendete das Display.

»Sehen Sie was?«, rief Desirée Motzer vom Fußweg über den Graben.

»Ich komme runter«, antwortete ich.

Beim Absteigen von der Leiter rutschte mir das Boot unterm Steiß weg. Ich sprang ab und stand bis zum Knie im eiskalten Wasser. Die Leiter, an der ich mich festgeklammert hatte, kippte von der Wand und schlug aufs Boot. Beinahe hätte der untere Holm mir noch einen Kinnhaken versetzt. Ganz fein, wenn man alles gut im Griff hat.

Ich angelte das Boot herbei, wuchtete die Leiter drauf, watete durch brechendes Eis zu den Stufen, die straßenseitig hochführten, und machte das Boot an einem Busch fest. »Zutritt verboten«, stand außen am Törchen. »Das Betreten der Eisfläche ist nicht gestattet.« Genau genommen hatte ich die Eisfläche nicht betreten. Ich war durchgebrochen. In meinen Schnürstiefeln quatschte Wasser. Gern hätte ich wem anders die Schuld gegeben. Zum Beispiel den Schaulustigen an der Mauer. Oder dem kichernden Sonnenscheinchen.

»Ich fürchte«, sagte ich, als wir über den Steg zurück auf die Insel gingen, »der Professor liegt in hilfloser Lage in seinem Büro.«

»O Gott! Hoffentlich ist ihm nichts passiert!«

Wenn einer rücklings auf dem Boden liegt, ist ihm was passiert. Ich hätte vielleicht gleich von einer leblosen Person sprechen sollen.

Die Uhr im Fachwerkgiebel unterm Dachfirst stand auf drei nach acht, obgleich es gerade fünf nach zwölf war. Das fiel mir auf.

»Habt ihr nicht vielleicht doch einen Generalschlüssel? Oder soll ich die Tür eintreten? Andernfalls muss der Schlüsseldienst her, und zwar zügig.«

Desirée wurde plötzlich fahrig. »Ich weiß nicht … da muss ich die Frau Doktor fragen.«

»Denk nach, Sonnenscheinchen. Eine Schließanlage wie diese hat einen Generalschlüssel!«

Desirée zog krachend Schreibtischschubladen auf und wühlte. Das beste Versteck ist Unordnung.

Ich setzte mich inzwischen auf den Besucherstuhl und zog meine nassen Stiefel und Socken aus. Das Parkett war nagelneu und angenehm warm unter den Fußsohlen. Alle Wände waren weiß gestrichen, die Türen glänzten und spiegelten. Sonnenlicht ist der Feind des Gelichters.

»Ist er das?«, rief Desirée und hielt einen Schlüssel in die Höhe.

Ich schnappte ihn mir.

»Was haben Sie vor?«, rief Dr. Barzani, aus den Tiefen des Gangs herbeieilend. »Moment!«

Auch wenn die Frau Autorität war – Doktorin, stellvertretende Leiterin eines Instituts, im Kopf ein Mann –, so war sie doch auch wieder nur das Geschöpf von Männern. Und Männer wollen hören, wenn Frauen kommen, am Klacken der Absätze, am Rascheln der Röcke, am nylonzarten Aneinanderreiben der Oberschenkel.

»Ich kann auch gleich die Polizei rufen.« Bei Akademikern half, wie bei anderen Menschen auch, das Vorhalten von harten Alternativen.

Sie schwieg.

Der Schlüsselschlitz nahm den Schlüssel in Empfang wie eine gut geschmierte Möse. Das Schloss drehte sich widerstandslos. Allerdings ließ sich die Tür nicht mehr als eine Handbreit öffnen. Auf der anderen Seite bremsten Füße in Trekkingschuhen. Es roch nach Eisen. Nach Blut. Es hatte die ganze Zeit hier schon nach Blut gerochen, ich hatte es nur falsch interpretiert. Im Hinterstübchen schaltete ich auf Tatort um. Keine Spuren verwischen. Mit der Hand zog ich erneut mein Handy aus der Tasche und stellte das Display auf Spiegelmodus. Mit dem Arm kam ich gerade so durch den Türspalt.

»Was ist? Was machen Sie da?«, fragte Barzani hinter mir.

Im Spiegel sah ich die khakifarbenen Hosenbeine und … Ich musste ausschnaufen.

Der Tote sah aus, als wäre ein Raubtier beim Fressen gestört worden. Gedärm, Nieren, Leber und Magen matschten herum, aus dem Brustkorb ragten Knochen. Die Leibeshöhle klaffte. Mit dem Kopf lag er neben dem Radkranz des Schreibtischstuhls im Schatten des Tischs. Zuerst dachte ich, das Raubtier hätte auch seine Augen herausgerissen, dann erkannte ich, dass sie zugeklebt waren mit ockerfarbenen Vierecken, Stücken von Paketklebeband. Ein längeres Stück klebte über seinem Mund. Die Arme waren nach oben gerissen und schienen gefesselt. Ich zog meine Hand ein, um das Telefon auf Kamera umzustellen. Ich machte kleine, unauffällige Bewegungen, damit die Damen es nicht mitbekamen, und knipste fünf- oder sechsmal rasch in den Raum.

»Was ist?«, riefen Derya und Desirée mit sich überschlagenden Stimmen. »Was ist los? Ist was mit ihm?«

Desirée riss mich aus der Tür. »Lassen Sie mich durch! Ich muss …«

Ich hielt sie fest. »Lieber nicht! Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Ist er tot?«, flüsterte Derya Barzani.

Totensteige

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