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»Und hier«, sagte Dr. Derya Barzani, »wurden die Experimente durchgeführt.« Sie hatte mir den Saal im Erdgeschoss der Burg Kalteneck aufgeschlossen. Er war bestuhlt. Erst vergangene Woche hatte hier ein Vortrag stattgefunden. An der Kopfwand stand ein Podium mit Lämpchen. Cipión schnüffelte desinteressiert. Keine Geister in der Luft.

»Was haben sich denn da für Leute gemeldet?«

»Wünschelrutengänger, die hatten wir viele.«

»Mit den gegabelten Ruten, die plötzlich erigieren, wenn Wasser im Boden ist?«

Ein Lächeln rutschte ihr in den rechten Mundwinkel. »Meistens senken sie sich.«

»Und wenn der Wünschelrutengänger eine Wasserader unterm Schlafzimmer findet, muss man sein Bett umstellen, sonst bekommt man Krebs.«

»Was meinen Sie wohl, wie oft unter so einem Haus gebohrt worden ist, um die Existenz der Wasserader zu beweisen?«

»Ach so. Also Kokolores.«

»Die Geologen wären jedenfalls glücklich, wenn das Wünschelrutengehen zuverlässig funktionierte. Es wäre die billigste Methode, Bodenschätze zu finden. Aber leider muss man auch hier jeder Erfolgsmeldung die Zahl der Fehlversuche gegenüberstellen, über die ihr von der Presse gewöhnlich eben nicht berichtet.«

»Und wenn es keine Wünschelrutengänger waren, wer ist dann sonst noch so gekommen?«

»Ich weiß von einem Handwerker, der meinte, er könne fühlen, ob eine Leitung Strom führt, wenn er die Hand darüber hält. Wahrscheinlich hatte er als Handwerker so viele Treffer, weil die meisten Leitungen Strom führen. Hier lag seine Trefferquote im Zufallsbereich. Ein anderer wollte lebendiges Wasser herausschmecken können.«

»Igitt!«

»Sie legen es auch nur auf Lacher an, was, Frau Nerz?«

Oha, ein Anblaff! Er traf mich in argloser Stimmung. Das hasse ich. Die Frau Doktor hatte in ihrem Blick so etwas spöttisch Lächelndes, etwas Herabschauendes, obgleich sie einen Kopf kleiner war als ich, vor allem nur halb so breit. Tja, körperlich schwache Menschen fühlen sich nur stark, wenn sie andern die Stimmung einschwärzen.

»Soso, Sie mögen’s auch nicht gern nett«, bemerkte ich.

Das gefiel jetzt ihr nicht. Sie lächelte beiseite und brach die Konversation ab. »Aber wie ich Ihnen vorhin schon sagte: Ich war mit den Kalteneck-Experimenten nicht befasst. Sie wurden von einem Doktoranden durchgeführt.«

»Wie komme ich an den ran?«, fragte ich.

»Er ist Doktorand in Alicante bei der ….« Das Spanische fiel ihr schwer. »Asociación Española de Investigaciones Parapsicológicas.«

»Warum hat er die Versuche hier durchgeführt?«

»Weil es hier im Sommer nicht so heiß ist. Was interessiert Sie das eigentlich? Es ist nichts dabei rausgekommen, und für Wissenschaft interessiert sich die Presse doch überhaupt nicht.«

»Ich schon. Ich bin nämlich auch als Journalistin eine Niete. Hatte McPierson damit zu tun?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Das ist der Schotte, der die Nina Kulagina gefilmt hat.«

Ein Hauch von Anerkennung zuckte um den schönen Mund. Wahr ist: Ich fühlte mich vor der zierlichen Dame im blauen Blazer, roten Rock und Nylonstrümpfen auf Pumps wie der Glöckner von Notre-Dame. Sie machte mich zu einer Gespenstin in einer Parallelwelt.

Und sie flüchtete, wie ich das von Richard kannte, ins Belehren. »Finley McPierson leitet die KPU, die Koestler Parapsychology Unit an der Universität Edinburgh. Eins von vier Instituten für Parapsychologie in Großbritannien. In Deutschland gibt es nur zwei, unser Institut und das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene mit der Parapsychologischen Beratungsstelle von Professor Dr. Dr. Walter von Lucadou in Freiburg, das der berühmte Geisterjäger Hans Bender aufgebaut hat.«

»Das Problem ist ja wohl«, bemerkte ich, »dass die Parapsychologie erst einmal beweisen muss, dass es den Gegenstand ihrer Forschung überhaupt gibt.«

»Spukphänomene«, antwortete Derya Barzani, »werden seit Jahrhunderten dokumentiert.«

»Na, wenn das so läuft wie im Schloss Ludwigsburg bei den Haunt Hunters, dann …«

»Es ist manchmal schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber wenn Sie auf einem Video einen Spuk sehen, können Sie davon ausgehen, dass Sie einem Betrug aufsitzen. Paranormale Erscheinungen entziehen sich der objektiven Beobachtung. Ein Spukerlebnis verflüchtigt sich, je gründlicher wir darüber nachdenken, was wir genau erlebt haben. Am Ende erscheint es uns als Einbildung.«

Das deckte sich mit dem, was wir auf Schloss Monrepos erlebt hatten.

»Es ist eine Grundeigenschaft des Spuks, unklar zu sein. Er verschwindet auch, sobald man beginnt, ihn wissenschaftlich zu untersuchen. Wir sagen dazu: Der Spuk ist elusiv.«

»Elusiv?« Das Wort war mir unlängst schon begegnet. Nur wo? Vermutlich schaute ich wie drei Reihen Feldsalat.

»Elusivität«, die Frau Doktor spitzte die vollen Lippen, »die Flüchtigkeit, der ausweichende Charakter, die schwere Fassbarkeit der Erscheinung. Wenn also dies, die Flüchtigkeit, eine fundamentale Eigenschaft von Psi-Phänomenen sei, so wäre bereits bewiesen, dass es unseren Forschungsgegenstand gibt.«

Ich lachte grobkörnig. »Das klingt wie Religion. Der Beweis, dass Gott existiert, ist dadurch erbracht, dass wir außerstande sind, ihn in Begriffe zu fassen, geschweige denn zu fotografieren.«

»Ich will damit nur verdeutlichen, dass man zu 99,9 Prozent davon ausgehen muss, dass es sich um Betrug oder Selbstbetrug handelt, wenn man auf einem Foto einen Spuk sieht.«

»Dann kommt es Ihnen hier vor allem darauf an zu zeigen, dass es all das Sensenmanngeraffel nicht gibt. Keine Wiederkehr der Toten, keine Hellseherei, keine Telekinese …«

Barzani gab sich einen Ruck. »Letzteres, die Telekinese, gibt es gewiss, Frau Nerz. Wenn Sie wollen, mache ich einen Test mit Ihnen.«

Damit hatte sie schon mal gedroht. »Was für einen Test?«

Sie lächelte siegessicher. »Kommen Sie.«

Sie hielt mir sogar die Tür auf. Wir traten zurück in die Eingangshalle. Gegenüber befand sich ein Sackgassengang mit dem Toilettenschild. Hier hatte Juri Katzenjacob gepinselt.

»Übrigens hat heute schon einer angerufen«, sagte sie, mich mit einem Hauch von Rosenwasser streifend, als sie sich zur Treppe wandte. »Einer von der Zeitung.«

»Von welcher denn?«

»Frau Motzer hat den Anruf entgegengenommen. Auch er hat nach den Kalteneck-Experimenten gefragt. Frau Motzer hat ihm mitgeteilt …«

Wir betraten bei diesen Worten den Raum, wo das Sonnenscheinchen an seinem Tisch am Computer glühte. Schwanger! Das fiel mir sofort auf, wenn ich es auch nach dem zweiten Blick nicht mehr hätte beschwören wollen.

»… dass die Daten noch wissenschaftlich ausgewertet werden müssen, aber nichts Spektakuläres herausgekommen sei, nicht wahr, Frau Motzer? Von welcher Zeitung war der Anrufer vorhin?«

Desirée guckte hoch. »Vom Guten Tag.«

»Wir haben die Unterlagen der Kalteneck-Experimente sowieso nicht hier«, fuhr Dr. Barzani fort. »Was wir haben, sind ein paar statistische Reihen. Aber die Daten der Probanden, einschließlich der Zielvereinbarung … der Wette, wie Gabriel das immer genannt hat«, sie schluckte, »befinden sich verschlüsselt auf einem passwortgeschützten Server, zu dem ich keinen Zugang habe.«

»Hat dieser Spanier Zugang?«

»Das nehme ich an. Und Gabriel hatte natürlich das Passwort.«

»Was macht Sie eigentlich so sicher, dass es ein Zeitungsreporter war, der vorhin angerufen hat?«

Desirée senkte den Blick. Barzani zog die Brauen zusammen und fixierte mich, als könne sie aus meinem Hirn herausbohren, woran man Reporter am Telefon erkannte. »Wer denn sonst?« Sie schüttelte den Kopf. »Was glauben Sie eigentlich, was wir hier machen?«

»Sie haben hier zwei Sommer lang nach einem Channeler gesucht, einem Parapsychotiker, Übersinnigen, Psi-Agenten, Medium …«

Barzani lächelte unwillkürlich amüsiert.

»Mich wundert allerdings, dass der Gute Tag erst heute nachfragt. Eigentlich hätte er gleich nach Rosenfelds Tod nachhaken müssen. Geisterjäger von Geist erstochen und ausgeno–« Ich unterbrach mich. Derya blickte ungefähr so entsetzt drein wie Richard, wenn ich munteres Leichenfleddern machte. »So was liebt die Presse.«

Was war heute anders als vor drei Monaten oder letzte Woche?, fragte ich mich. Ich hatte angefangen zu kratzen. Das war anders. Ich hatte in Hamburg mit einem Journalisten und in Berlin mit einem Pressesprecher geredet. Ich hatte in Edinburgh einen Professor kontaktiert und meiner Facebook-AnhängerInnenschaft die Frage gestellt, wie das mit der Leiche im geschlossenen Raum geht.

»Ihr Journalisten immer!«, rief Barzani. Wobei ich schon zufrieden war, dass sie mich für eine Journalistin hielt. »Ihr verwechselt Akte X mit Wissenschaft. Mein Vater begreift das auch nie. Dabei ist es gar nicht so schwierig. Bei uns geht es um … Aber das sollen Sie jetzt selber sehen. Und …« Sie wandte sich noch mal um. »Frau Motzer, seien Sie so gut und suchen Sie bitte die Kontaktdaten von unserm Héctor in Spanien heraus.«

Desirée zog die linke Braue hoch. »Wieso … er …«

»Bitte, Frau Motzer! Und geben Sie die Adresse nachher Frau Nerz.«

Eine Wolke fiel in die Sommerhimmelaugen. Etwas kippte. Aber ich hatte keine Zeit zu verweilen. Ich musste Derya Barzani und ihrem Rosenduft folgen. Die Reste des Polizeisiegels klebten an der Tür von Rosenfelds Büro. Alle anderen Türen standen offen. Während Cipión alles anschauen dackelte, bog Barzani ins »Labor 2« ab.

Im Winter hatte um diese Tageszeit die Sonne knallig in den straßenseitigen Räumen gestanden, jetzt fiel das Licht steiler und benetzte nur ein schmales Rechteck unter den Fenstern. Der Raum sah ansonsten aus wie ein aus spärlichen Spenden zusammengemöbeltes Wohnzimmer, aber mit einem Strauß Blumen in einer Vase.

»Früher«, erklärte mir Barzani, »hat man in den Instituten für Parapsychologie Faraday’sche Käfige gehabt, Räume, die gegen elektromagnetische Wellen abgeschirmt sind. Größere Institute arbeiten immer noch damit, aber wir haben darauf verzichtet, denn es ist hinlänglich bewiesen, dass Radiowellen bei diesen Leistungen keine Rolle spielen.«

»Was für Leistungen?«

Sie nagelte ihren teerschwarzen Blick in meinen. »Glauben Sie an Zufall, Frau Nerz?«

Musste sie das »Frau« eigentlich so ironisch betonen?

»Ist der Zufall eine Religion?« Und sag jetzt nicht wieder, ich wollte die Lacher auf meine Seite ziehen!

Nein, sie sagte es nicht. Im Gegenteil, sie schaute mich zum ersten Mal fast anerkennend an. »Für die meisten Menschen ist das eine Glaubensfrage. Siebzig Prozent der Menschen sind überzeugt, dass es keinen Zufall gibt. Manches Zusammentreffen erscheint uns so schicksalhaft, dass wir eine lenkende In­stanz dahinter vermuten.«

»Ich bin katholisch geprügelt worden«, bemerkte ich. »Das war lenkende Hand genug.«

Das trug mir einen prüfenden Blick ein. »Den Test hier mit der Schmidt-Maschine haben übrigens alle Kalteneck-Probanden durchlaufen.«

»Warum soll ich ihn dann machen?«

»Weil Sie Journalistin sind und ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben habe, dass in der Zeitung auch mal was Vernünftiges steht. Ich halte es für dringend an der Zeit, dass die Parapsychologie aus der Klopfgeisterecke eines Hans Bender und aus den Gruselsphären von Akte X herauskommt. Bei uns geht es nicht um unheimliche Kräfte, Untote, finstere Mächte, Hypnotiseure, Hexen, Flüche und Wahrsagerei.« Sie lud mich mit der Hand ein, mich zu setzen.

Ich setzte mich. »Okay. Wenn ich hinterher nicht als Parapsychopath herauskomme.«

»Das werden Sie nicht.«

Sie holte aus einem Schrank ein Kästchen, dessen Design aus den schwarzen Fünfzigern zu stammen schien, und stellte es vor mich hin. Sein Hauptbestandteil war ein Kreis kleiner Lämpchen.

»Sie werden von einem Zufallsgenerator gesteuert, der das Licht vor- und zurückspringen lässt. Schauen Sie!«

Es gab ein munteres Hin-und-her-Gespringe auf dem Lichtkreis, eins vor, zwei zurück, zwei vor, eins vor, dann wieder zurück.

»Sie sollen sich nun wünschen, dass das Licht auf seiner Kreisbahn weiterspringt, am besten einmal ganz herum.«

Nichts dergleichen würde ich tun. »Und was tut der Apparat dabei?«

»Das müssen Sie nicht wissen. Sie müssen nur die Lichter in eine Umlaufrichtung wünschen.«

»Geht es nicht mehr, wenn ich es weiß?«

Derya Barzani schmunzelte. »Sie haben die Dinge gern unter Kontrolle, was? Nach meiner Erfahrung müssten Sie eine gewisse PK-Begabung haben.«

»Bitte, was?«

»PK, Psychokinese. Die unmögliche Aufgabe.«

»Es geht doch aber offenbar, oder?«

»Physikalisch geht es nicht. Der Zufallsgenerator basiert auf radioaktivem Zerfall.«

»Wie bei Schrödingers Katze. Immer diese Radioaktivität.«

Cipión stellte kurz die Ohren, ließ sie dann aber wieder fallen. Radioaktivität war ein Wort, das ihm nichts sagte.

»Früher«, erklärte Barzani, »hat man für PK-Versuche Würfel genommen. Man ließ sie durch eine mechanisch gesteuerte Klappe eine schiefe Ebene hinunterrollen und bat die Probanden, dass sie sich wünschten, dass beispielsweise immer eine Fünf falle. Nun sind Würfel aber nie völlig gleichmäßig gearbeitet, sie haben einen Drall und bevorzugen bestimmte Augenzahlen. Deshalb hat der deutsche Physiker Helmut Schmidt in den siebziger Jahren diese Maschine erfunden. Sie enthält Strontium 90. Im Prinzip funktionieren solche Zufallsgeneratoren so: Ein Geigerzähler misst den Zerfall. Wir kennen die Rate. Im Durchschnitt zerfällt beispielsweise ein Atom pro Sekunde. Das heißt aber nicht, dass in der konkret gemessenen Sekunde tatsächlich ein Atom zerfällt. Andererseits können auch zwei zerfallen.«

Ich nickte.

»Ein Zerfall wird in den Wert Eins übersetzt, eine Sekunde ohne Zerfall in den Wert Null. Bei eins springt das Licht nach rechts weiter, bei null springt es zurück. Aber bedenken Sie: Von Strontium 90 wissen wir zwar, dass die Hälfte in 28 Jahren zerfallen ist, doch niemand kann vorausberechnen, wann welches Atom zerfällt. Und nichts kann den Zerfall beschleunigen oder abbremsen, kein Luftzug, keine Temperaturänderung, keine Feuchtigkeit, nicht die Lage des Kastens, keine elektromagnetischen Wellen.«

»Aber ich kann das? Oder wie?« Ich fühlte mich befreit. Meine Haltung zu harter Arbeit oder unmöglichen Aufgaben war seit jeher die, sie andern zu überlassen.

Sie lächelte. »Und, Frau Nerz, falls Sie vorhaben, nichts zu tun, so merken wir es auch, wenn Sie eine PK-Begabung haben. Dann produzieren Sie sozusagen einen Ausschlag ins Minus.«

Ich nicht! Dessen war ich mir sicher. »Und Cipión? Wo soll der solange hin?«

»Ich nehme nicht an, dass er die Schmidt-Maschine beeinflusst. Es gibt keinen Grund, warum er es tun sollte.«

Mein Dackel wurde mir unheimlich. »Könnte er es denn?«

»Schmidt hatte eine Katze. Die hat er in einen eiskalten Verschlag gesperrt. Darin hing eine Wärmelampe, die an seinen Apparat angeschlossen war. Die Lampe ging zufällig an und aus. Doch irgendwann wich sie vom Zufall ab und brannte länger als sie aus war. Die Katze hatte offenbar ein dringendes Bedürfnis nach Wärme gehabt. Leider hat Schmidt den Versuch mit dieser Katze nie wiederholen können.«

»Immer diese Katzen«, sagte ich. Cipión stellte wieder die Ohren und schaute mich mit Augen wie Haselnüsse an. »Schmidts Katze, Schrödingers Katze …«

»Fangen wir an?«

»In drei Teufels Namen.«

Die Parapsychologin verließ das Zimmer, und ich schaute dem Lichtkreis beim Springen zu. Unter keinen Umständen wollte ich hier irgendwas bewegen. Aber die Lichter hatten etwas Suggestives. Es quälte, dass sie so blödsinnig hin und her leuchteten und nicht über den Sechs-Uhr-Punkt hinauskamen. Es störte mich und mein optisches Gleichgewichtsempfinden. Und dann waren sie endlich mal auf der anderen Seite und kamen nicht rauf, rutschten zurück. Es war frustrierend. Es war ärgerlich und sinnlos, dass ich da draufstarrte. Wenn die Lichter einmal zügig den Kreis entlangglitten, war es eine Erholung, eine Erleichterung, eine Befriedigung. So rutschte ich hinein in das Experiment, das ich hatte torpedieren wollen, und auf einmal war ich dabei, zu fordern, dass die Lichter auf der Kreisbahn blieben, es zu wollen. Und wenn es mir gelang, dass sie in die eine Richtung sprangen, war ich stolz wie Oskar.

Als Dr. Derya Barzani hereinwehte und mich erlöste, war das Sonnenviereck, in dem Cipión sich auf die Seite gelegt hatte, um zu schlafen, schon halb von ihm heruntergerutscht. Benommen folgte ich den prallen Waden und schlanken Fesseln in ein Büro am Ende des Gangs, in dem viele Bücher standen. Derya begab sich hinter ihren Schreibtisch und klickte sich mit starrem Blick durch Kurven und Zahlen.

Ich rang um meine Ich-Renaissance und gierte nach einer Kippe. Also runter und raus. Auch Cipión freute sich über die Rückgewinnung seiner Identität als pinkelnder Rüde.

Ein Paar Stockenten durchpflügte das grüne Wasser im Graben. Mein Handy klingelte. Ich hatte es gar nicht leise gestellt, fiel mir auf. Und trotzdem rief Richard erst jetzt an und fragte: »Wo steckst du denn?«

Mir fiel ein, dass ich Dr. Barzani eigentlich nach Rosenfelds Besuch in Neuschwanstein hatte fragen wollen und es nicht getan hatte. »Auf Kalteneck«, antwortete ich. »Ich habe gerade einen PK-Test gemacht und warte auf die Auswertung.« Meine Armbanduhr zeigte halb zwei. »Wieso rufst du erst jetzt an?«

Ich hörte ihn schlucken. Er versuchte meine Frage einzuordnen. Nerz’sche Neckerei oder Gefahr im Verzug? »Störe ich?«

»Nein. Aber vor fünf Minuten hättest du mich noch beim Experiment gestört, und es wäre vermutlich misslungen.«

»Ah.« Er entschied sich für seine eigene Richtung: »Ich hatte bis eben zu tun. Dann hast du es noch nicht in den Nachrichten gehört?«

»Was denn?«

»Es hat einen Anschlag auf einen Gefangenentransport gegeben. Juri Katzenjacob saß im Wagen.«

»Ach was!«

»Es sieht nach einem Befreiungsversuch aus. Heftig. Ein Polizeibeamter wurde lebensgefährlich verletzt, einer der Angreifer ist tot. Dem ersten Augenschein nach kam er durch die vorzeitige Explosion eines Sprengsatzes ums Leben. Laut Pass stammt er aus Rumänien. Zwei, womöglich auch drei weitere sind flüchtig. Für den genauen Tathergang wird man die Auswertung der Überwachungskameras abwarten müssen.«

»Krass!« Ich sortierte mich. »Wann war das?«

»Kurz nach halb elf. Katzenjacob sollte zu einem Haftprüfungstermin gebracht werden. Sie haben den Transporter direkt an der Einfahrt angegriffen, vor dem Tor. Du weißt, wo das ist? Cannstatter Straße, hinter der Tankstelle.«

Natürlich wusste ich das. Es war genau hinter der Staatsanwaltschaft.

»Ich habe die Knallerei gehört.«

»Aber warum heute?«, fragte ich. »Was ist heute anders als letzte Woche oder vor zwei Wochen?« Damit konnten meine drei Kontaktaufnahmen nichts zu tun haben, denn eine bewaffnete Befreiung musste vorbereitet werden.

»Letzte Woche war kein Haftprüfungstermin«, antwortete ­Richard.

Das war eine gute Erklärung. »Also eine undichte Stelle bei der Polizei oder in der Justizverwaltung?«

»Von einem Haftprüfungstermin kann jeder wissen, der es wissen will. Die Presse wusste es. Der Anwalt hat es mitgeteilt. Am Freitag hat sich einer vom Stuttgarter Anzeiger bei uns erkundigt, wann genau der Termin ist. Seit einer Stunde versuche ich, ihn aufzutreiben. Zur Arbeit ist er nicht erschienen, er hat sich nicht krankgemeldet, und bei den Streiks der Redakteure gegen Lohnkürzungen ist er auch nicht dabei.«

»Eine Schweinerei ist das. Die wollen doch wirklich die Löhne senken, um fünfundzwanzig Prozent für Neueinsteiger.«

»Ja, Lisa. Aber weswegen ich dich anrufe … Er geht auch nicht ans Handy. Roland Hoffmann heißt er.«

»Kenne ich nicht. Vielleicht einer der neuen Freien.«

Ich hörte Richard enttäuscht ausatmen. »Hätte ja sein können.«

»Ich bin nur noch ganz selten in der Redaktion, weißt du doch. Wo wohnt der Kerl denn?«

»Die Polizei ist schon unterwegs zu ihm.« In so was war die Polizei gut. Auch im Aufspüren von Verbindungen in den osteuropäischen Raum. »Ich hatte nur gehofft, dass du Hoffmann …« Richard stockte bei der unverhofften Sinnhaftigkeit, »zufällig kennst und mir was über ihn sagen kannst.«

Mumpitz, dachte ich, das ist nicht der Grund seines Anrufs. Richard wandte sich sonst auch nicht an mich, wenn es um seinen Job und meine Kollegen ging. »Glaubt ihr denn, er hat was damit zu tun?«

»Wir glauben momentan gar nichts, Lisa. Aber es wäre mir sehr lieb, wenn du in dieser Sache äußerste Zurückhaltung walten ließest. Was machst du auf Kalteneck? Hatten wir nicht gesagt, dass es dort nichts …«

»Sorry«, unterbrach ich ihn. »Ich muss Schluss machen.« Es war nicht mal gelogen, denn soeben trat Dr. Derya Barzani vor die Tür auf die Terrasse. »Ich melde mich nachher.«

Totensteige

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