Читать книгу Totensteige - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 15
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ОглавлениеIm Fernsehen sah ich einen Bericht darüber, wie Japan seine Kinder auf Erdbeben vorbereitet. Nach den ersten Stößen, die senkrecht verlaufen, haben sie dreißig Sekunden Zeit, unter Tischen und Decken Schutz zu suchen, bevor die waagrechten Stöße beginnen, die Häuser zum Schwanken und Fensterscheiben zum Bersten bringen. Und schon bebte in Japan die Erde und erzeugte nicht nur verheerende horizontale Stöße, sondern auch einen Tsunami, der reichlich zwanzigtausend Menschen mitnahm und vier Meiler im Atomkraftwerk Fukushima zerschlug. Am Abend war klar, dass die Kernschmelze begonnen hatte. Die zufällig für den Samstag seit langem geplante Menschenkette gegen Atomkraft zwischen Stuttgart und Neckarwestheim wurde ungeahnt enggliedrig. Und jählings begriff unsere Kanzlerin, dass ein Ereignis, dem man eine Eintrittswahrscheinlichkeit von einmal in fünfhundert oder einer Million Jahren bescheinigt hatte, auch sofort passieren konnte. Zumindest erklärte sie, dies begriffen zu haben.
»Als Physikerin hätte sie es eigentlich besser wissen müssen«, bruddelte Richard. »Und wenn ihr jetzt behauptet, ihr hättet immer schon gewusst, dass so was passieren würde, ist das natürlich genauso realitätsfern.«
»Wer wir?«
»Ihr Atomkraftgegner.« Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber schaltete in den zweiten Gang und warf mir einen kurzen Blick zu. »Vor dem, was jetzt passiert ist, habt ihr immer Angst gehabt. Was nur zeigt, dass das menschliche Gehirn nicht für Wahrscheinlichkeitsrechnungen gemacht ist. Wie sonst können Leute bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 14 Millionen glauben, sie könnten im Lotto gewinnen.«
Das ließ er mich auf der Fahrt nach Ludwigsburg wissen, wo Kollegin Meisner im bereits hochsommerlich warmen April im Seeschloss Monrepos ihren fünfzigsten Geburtstag feierte. Am Ufer spielten die Mücken, Wasser gluckste unter den Ruder- und Paddelbooten. Im Saal lärmte eine Band, was nicht nur die Raucher auf die Terrasse trieb. Richards Neigung, aus jedem Geplauder eine schwäbische Grübelei zu machen, hatte seinen – unseren – Bistrotisch zum Zentrum einer Diskussion über die Wahrscheinlichkeiten gemacht, dass jemand in einer Dissertation Fehler entdeckte oder sich in einem deutschen Atomkraftwerk eine Kernschmelze ereignete.
»Ich habe Angst vorm Fliegen«, gab eine junge Staatsanwältin in leuchtend roter Busenverpackung zu. »Dabei habe ich kürzlich gelesen, dass das Risiko für einen Absturz bei 1 zu 150 000 steht und man 67 Jahre lang ununterbrochen fliegen müsste, um …«
»Das ist eben der Grundirrtum«, sagte Richard. »Am Ende dieser 67 Jahre hätte man also garantiert einen Flugzeugabsturz nicht überlebt, denken Sie. Aber genau dieser Absturz könnte sich mit derselben Wahrscheinlichkeit auch am ersten Tag ereignen oder nach drei Monaten oder nie.«
Ich hörte nicht mehr hin, bis Meisner rief: »Also, das mit Schrödingers Katze habe ich nie verstanden! Die Katze ist entweder tot oder nicht tot, wenn man den Kasten öffnet. Das ist doch banal.«
Richards Augen funkelten erregt. »Gar nicht. Der Witz ist, dass die Katze weder tot noch lebendig ist, bevor man reinguckt.«
»Meine Katze wird auch immer fetter, wenn ich nicht hingucke«, bemerkte Meisner.
Das fanden Richards Sekretärin Roswita Kallweit und die junge Staatsanwältin zum Giggeln komisch, während der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter verlegen lächelnd in seinem Kopf kramte, um irgendwas zu finden, was er dazu beisteuern konnte.
»Schrödingers Katze«, sagte Richard, der zwar nur Apfelschorle trank, aber zu vorgerückter Stunde übermütig wurde, »ist das Gleichnis dafür, dass die Quantenphysiker einen an der Klatsche haben.«
Meisner lachte. »So kenne ich Sie ja gar nicht … Richard!«
»Doch, doch«, sagte er. »Der Physiker Erwin Schrödinger selbst«, er schaute belehrend in die Runde der Juristen und meiner ungebildeten Kleinigkeit, »einer der Erfinder der Quantenmechanik, der Theorie von den kleinsten Teilchen im Atom, stellte 1935 fest, dass eine Theorie Schwächen hat, wenn sie davon ausgeht, dass man das Verhalten von Atomen, Elektronen oder Lichtquanten nur erklären kann, wenn man annimmt, dass sie sich beispielsweise gleichzeitig an verschiedenen Orten befinden, bevor … ich betone … bevor man anfängt zu messen. Dann nämlich ändert sich alles. Der Beobachter, also das Messgerät vergibt einen exakten Wert. Was man nicht misst, bleibt unklar. So kann man beispielsweise sagen, wo sich ein Elektron befindet, aber nicht gleichzeitig auch, welche Geschwindigkeit es hat.«
»Und was ist mit der Katze?«, fragte Roswita Kallweit besorgt. Katzen waren ihr Thema, an allen strategisch wichtigen Stellen ihres Büros befanden sich Katzenfigürchen oder Katzenbilder.
»Ja, die Katze!« Richard kannte kaum ein größeres Vergnügen, als seine Wissensschatztruhe zu öffnen. »Stellen Sie sich das so vor: Eine Katze sitzt in einer verschlossenen Kiste. Wir sehen sie nicht. Mit ihr in der Kiste befindet sich ein Apparat mit radioaktivem Material, der Zyankaligas freisetzt, sobald ein Atom zerfällt. Man weiß: Innerhalb einer Stunde kann es einen Zerfall geben oder auch keinen. Die Wahrscheinlichkeit liegt genau bei 50 Prozent.«
Kallweit und die junge Staatsanwältin nickten, LOStA Krautter starrte über sein Bier auf die Tischplatte und ließ sich seine Verunsicherung nicht anmerken. Meisner schnorrte bei mir eine Zigarette. »Ich hab’s vor zwanzig Jahren aufgegeben. Aber wenn man fünfzig wird, ist das Grab eh nicht mehr weit.«
»Da wir in die Kiste nicht hineinschauen können«, redete Richard über Meisners Lebenskrise hinweg, »wissen wir nicht, ob die Katze noch lebt oder schon tot ist.«
»Natürlich wissen wir das nicht«, rief Meisner. »Das ist banal. Wirklich! Prost, Richard!« Alle am Stehtisch hoben die Gläser. »Und wenn wir schon dabei sind … also, ich bin die Gesine. Aber das wissen Sie … das weißt du ja.«
Meisner hangelte ihren Arm durch den von Weber und die beiden wurden zu Richard und Gesine, was in Kallweit sichtlich die Furcht auslöste, auch sie müsse ihren Chef künftig duzen. Das ist das Gefährliche an Geburtstagen kurz vor Mitternacht.
Aber der Kelch ging an Roswita vorüber, denn Richard hatte es eilig, in seinem Thema weiterzukommen.
»Das ist eben nicht banal, Gesine«, sagte er. »Denn die Quantentheorie sagt: Erst in dem Moment, wo wir reinschauen, nimmt die Katze einen der beiden Zustände an. Dann ist sie entweder tot oder lebendig. Bevor wir reinschauen, ist sie beides oder gar nichts davon, sie befindet sich sozusagen in einem Schwebezustand.«
Das war jetzt nicht banal, dafür aber unvorstellbar.
»Die arme Katze!«, bemerkte die junge Staatsanwältin.
Kallweit nickte heftig.
»Ja«, sagte Richard, »Schrödinger wollte mit diesem Bild darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmen kann mit den Quantentheorien. Das fand übrigens auch Einstein.«
»Gott würfelt nicht!«, rief der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter.
»Sehr richtig!« Richard richtete seine asymmetrischen Augen auf den Chef der Justizverwaltungsangelegenheiten bei der Generalstaatsanwaltschaft, der zu schwitzen begann. »Aber vermutlich wissen Sie nicht, was Einstein damit meinte.«
»Nun ja, Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«
Richard lächelte. »Einstein gefiel es nicht, dass die Quantenmechanik den Zustand der Teilchen nur mit Wahrscheinlichkeiten angeben konnte. Er fand, Zufall gehört nicht in die Physik.«
Mir gefiel das auch nicht.
»Inzwischen gibt es eine Quantentheorie, die ohne Beobachter auskommt und trotzdem funktioniert. 2004 haben zwei Mathematiker mit neuen mathematischen Gleichungen gezeigt, dass Elektronen und Quarks sehr wohl objektiv existieren. Müssen sie ja auch, denn wie könnten wir, die Beobachter – oder eben die Katze –, sonst objektiv existieren? Wir bestehen letztlich auch nur aus Atomen und …«
»Gnade!«, rief Gesine Meisner. »Es reicht. Ich weigere mich anzunehmen, dass Rosenfelds Tod irgendetwas mit Quantenphysik und Psi zu tun hat. Ich weiiiigere mich!«
»Wieso?«, flutschte es mir aus dem Mund, noch bevor ich die Dimension ahnte. Der Tumult der Party zog sich plötzlich hinter eine Lärmschutzwand zurück, die unseren Tisch umfing. Gleichzeitig verloren die Staatsmächte aus den Augen, dass ich nicht dazugehörte und sie mir gegenüber Stillschweigen hätten bewahren müssen.
»Dann ist also immer noch nicht geklärt, wie der Beschuldigte wieder aus dem Raum hinausgekommen ist«, bemerkte Krautter.
»Die Operative Fallanalyse arbeitet daran.«
»Warum hat er Rosenfeld eigentlich das Herz rausgerissen?«, fragte ich.
Richard ächzte.
»Und was sagt er zu den Steinchen?«, fragte Krautter.
»Steinchen?«, wiederholte Kallweit.
»Ja.« Meisner lehnte sich über den Tisch, der unter ihrem Gewicht wankte. »Es fanden sich Kiessteine im Blut und im offenen Leib. In Rosenfelds Ohrläppchen steckte eine Stecknadel. Verzeihung, Richard.« Sie grinste.
Er lächelte schmallippig. In der ganzen Stuttgarter Staatsanwaltschaft war bekannt, dass er empfindlich war, wenn es um Leichen ging. Deshalb hatte er sich in Verbrechen mit Zahlen verbissen. »Nun ja«, bemerkte er, um sich vor den Damen keine Blöße zu geben, »was der Kerle mit dem Herzen gemacht hat, ist unschwer zu erraten.«
Meisners Augen schwammen zu ihm hinüber. »So?«
»Er hat es zu Asche verbrannt, mit Wasser vermischt und getrunken oder einem anderen zu trinken gegeben.«
»Iiiih!«, riefen Kallweit und die junge Staatsanwältin.
»Ein alter Brauch aus Rumänien, aus Transsilvanien, genauer gesagt.«
»Ich bitte dich, Richard«, stöhnte Meisner mit großer Handbewegung, »erzähl du mir jetzt nicht, dass Rosenfeld ein Vampir war!«
»In Rumänien sagt man Strigoi. Vor fünf oder sechs Jahren habe ich in der Zeitung gelesen, dass einige Männer in einem Dorf in Rumänien ein Grab aufgemacht, dem Toten das Herz herausgeschnitten, es verbrannt und die Asche in Wasser gelöst getrunken und seinen Verwandten zu trinken gegeben haben.«
»Und wozu?«, fragte Meisner.
»Weil ein Strigoi Unglück und Tod über die Lebenden bringt.«
»Zum Glück sind wir aber in Deutschland«, bemerkte ich.
»Keine Chance, Lisa!«, antwortete Richard vergnügt. »Hier nennt man sie Nachzehrer. Man kennt sie seit Pestilenzzeiten. Da hat man erfahren, dass tote Leute, sonderlich tote Weibspersonen, im Grabe ein Schmätzen getrieben wie eine Sau …«
»Herr Dr. Weber«, mahnte Krautter. »Es sind Damen anwesend.« Damit konnte er mich nicht meinen. Es war die junge Staatsanwältin, die sein Lächeln erwiderte.
»Und bei solchen Schmätzern«, fuhr Richard fort, »hat die Pest gemeiniglich heftig zugenommen. So hat es ein gewisser Pfarrer Bohemus um sechzehnhundert festgestellt. Auch im Hexenhammer, 1486, findet sich ein Bericht von einer Frau, die im Grab ihr Leichentuch verschlinge. Die Pest, heißt es, werde nicht eher enden, als bis die Hexe das Tuch ganz verschlungen habe. Man öffnete das Grab und fand das Tuch durch Mund und Hals schon halb verschlungen. Der Schulze schlug der Toten mit dem Schwert den Kopf ab, und von Stund an hörte die Pest auf.«
»Mir ist nichts bekannt, dass in Holzgerlingen die Pest grassiert«, bemerkte ich.
»Das ist doch abartig!«, rief die junge Staatsanwältin. »Worauf Menschen so alles kommen!«
»Es ist gar nicht so verwunderlich«, erwiderte Richard und wandte sich der in Rot geschlagenen jungen Frau zu. »Damals wusste man nichts über Leichen. Aber in Pestzeiten hat man frische Massengräber immer wieder öffnen müssen. Da sah man halb verweste Leichen und den Bakterienfraß in Leichentüchern und glaubte, sie holten die Lebenden herunter. Tatsächlich starben ja auch reihenweise Menschen.«
Ein Schauer schüttelte Meisner. »Richard, ich würde gerne noch ein paar Jährchen leben!« Bisher hatte ich geglaubt, die rundliche brünette Staatsanwältin vom Dezernat Tötungsdelikte lasse sich nur von einer Bäckertheke voll süßer Stückle aus der Ruhe bringen. Und Richard wiederum konnte merkwürdig kaltsinnig über historische Kadaver sprechen.
»Luther hat sich dagegen verwahrt und …«
»Bleib mir fort mit dem elenden Wüstgläubigen!«, rief ich und bekreuzigte mich.
»Es ist durchaus bedenkenswert, Lisa, was Luther einem Pfarrer antwortete, der von einem Schmätzer im Grab berichtete, der das halbe Dorf mit in den Tod zöge. Luther meinte, nur wer daran glaube, werde dahingerafft. Es ist der Teufel selbst, der uns Menschen mit Gespenstern narrt. Wer um Vergebung der Sünden betet, wird gerettet.«
»Folglich ist Juri Katzenjacob kein Protestant«, stellte ich fest.
Meisner nickte. »Daher auch der Rosenkranz.«
»Bitte?«
»Rosenfelds Hände waren mit einem Rosenkranz gefesselt … oder umschlungen, wie man es nimmt.«
»Ja, wenn man verhindern will, dass einer zum Nachzehrer wird«, mischte sich Richard erneut ein, »muss man ihm den Mund verschließen, die Augen zudrücken und die Hände fesseln. Je Region gibt es dann noch ein paar Besonderheiten. Zum Beispiel …«
»Knoblauch!«, sagte die junge Staatsanwältin, die von der Aufmerksamkeit des Leitenden Oberstaatsanwalts verleitet wurde, ihre eigene Bedeutung zu überschätzen.
»So lesen wir es bei Bram Stoker. Töten kann man sie, indem man ihnen den Kopf abschlägt, sie verbrennt oder ihnen einen Eichenpfahl ins Herz rammt. Aber hier geht es darum, wie man verhindert, dass ein Verstorbener zum Nachzehrer wird. Und diese Maßnahmen wendet man bis heute an. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen, junge Kollegin?« Richard kriegte sie alle, vor allem jene, die glaubten, sie könnten mitreden, weil der Stellvertreter des Generalstaatsanwalts sie aus dem Kreis herausgelächelt hatte. »Augen zudrücken, Mund schließen, bei den Katholiken noch der Rosenkranz …«
»Aber Rosenfelds Augen waren nicht einfach zugedrückt, sie waren zugeklebt«, unterbrach ich das patriarchale Kleinen-Mädchen-Angst-Machen. »Sein Mund auch.«
»Und in seinem Ohrläppchen steckte eine Nadel. Als Reminiszenz ans Pfählen. Da hast du, Gesine, übrigens einen Hinweis auf das Dorf im slawisch-griechischen Verbreitungsraum des Vampirglaubens, aus dem Katzenjacob vermutlich stammt.«
»Er stammt aus Sigmaringen«, bemerkte ich.
»Nein«, widersprach Gesine Meisner. »Juri wurde im Alter von sechs Jahren aus Rumänien adoptiert. Er befand sich zuletzt in einem Bukarester Waisenhaus. Wo seine Eltern lebten, ist nicht bekannt. Aber vielleicht …« Sie überlegte. »Haben wir einen Vampirexperten beim LKA?«
Krautter gab vor, dies ernsthaft zu überlegen.
»Und der Kies«, fragte ich, »was spielt der für eine Rolle?«
Staatsanwältin Meisner richtete sich auf. »Da bin ich aber mal gespannt, Richard!«
»Ein numerologischer Trick. Man kann auch Samen nehmen. Der Nachzehrer muss sie zählen, bevor er andere Seelen verzehren kann. Weil aber ein Nachzehrer des Teufels ist, kommt er niemals über die heilige Zahl 3 hinaus, denn die kann er nicht aussprechen.«
»Hm.« Meisner legte den Kopf schief. »Und wie soll ein Nachzehrer mit geschlossenen Augen zählen? Ganz abgesehen davon, dass er ja keiner mehr ist, wenn man ihm Augen und Mund verschlossen hat.«
»Logik ist nicht das Instrument, um dem Aberglauben beizukommen, Gesine.«
Meisner stöhnte. »Na, wunderbar! Da hat uns Katzenjacob vor einem Vampir gerettet.«
Richard schmunzelte, als sei er Herr über alle finsteren Mächte dieser Welt.
»Wieso eigentlich«, überlegte ich laut, »ist Rosenfeld dem Juri Katzenjacob wie ein Nachzehrer vorgekommen? Was sagt er denn dazu?«
Meisner seufzte. »Er sagt gar nichts.«
»Habt ihr es schon mal mit dem guten alten rationalen Cui bono probiert?«, fragte Richard. »Wem nützt Rosenfelds Tod?«
»Unserem Beschuldigten jedenfalls nützt er nichts. Und du wirst jetzt nicht ein neues Fass aufmachen, Richard.«
»Könnte doch sein, dass Juri nur der Auftragskiller war«, schlug ich vor.
»Warum sollte er uns dann seinen Auftraggeber nicht nennen?«
Richard öffnete den Mund, klappte ihn aber wieder zu.
»Und zu vererben hatte Rosenfeld nur ein paar Tausend Euro«, fuhr Meisner fort. »Seine Frau hat sich vor fünfzehn Jahren von ihm scheiden lassen und in Berlin einen Staatssekretär geheiratet. Die gemeinsame Tochter ist inzwischen eine gut verdienende Journalistin beim rbb in Berlin, sie ist kinderlos und verheiratet mit dem Pressesprecher eines Konzerns. Für Peanuts geben die keinen Mord in Auftrag.«
»Und die Burg Kalteneck? Wem gehört die?«
»Einer gewissen Edmund-Gurney-Stiftung.«
»Ach«, sagte Richard.
»Rosenfeld hat sie vor zehn Jahren der Stiftung überschrieben, weil er die Renovierung der Burg wegen seiner Scheidung nicht bezahlen konnte. Davor, bis in die Achtziger, gehörte sie einem Ehepaar, das sie wiederum in den Siebzigern von einem Mann erworben hatte, der ebenfalls wegen einer Scheidung den Unterhalt nicht mehr zahlen konnte.«
»Ein Fluch liegt auf der Burg«, bemerkte ich.
»Der Mann betreibt heute in Nördlingen einen Drehorgelverleih. Er hatte die Wasserburg in völlig desolatem Zustand erworben und mit den ersten grundlegenden Instandsetzungen beginnen können.«
»Und dabei hat der Scherzbold in den Raum, wo Rosenfelds Büro untergebracht ist, eine Geheimtür eingebaut.«
»Wir haben ihn danach gefragt. Der Architekt und die Handwerker wissen auch nichts von einer Geheimtür.«
»Und wer ist Edmund Gurney?«, fragte ich.
»Ein englischer Philosoph. Mitbegründer der Society for Psychical Research in London. 1882 war das. Die erste gemeinschaftliche Anstrengung unserer Gesellschaft, den unkontrollierbaren Mächten von Zauberei, Magnetismus und Hellseherei Einhalt zu gebieten, sie aus den schummrigen Hinterstuben ins Licht der Labore und der Naturwissenschaft zu holen.« Richard griff zufrieden nach seinem Schorleglas und sagte in einem Ton, als müsse er sein abseitiges Wissen erst mühsam aus den Regalen holen: »Ich meine mich zu erinnern, dass es dieser Gurney war, der erstmals Kriterien für paranormale Erscheinungen aufstellte: Berichte nur aus erster Hand und durch einen Zeugen bestätigt. Besonders interessierte ihn das, was er Krisen-Erscheinungen nannte. Irgendwo befindet sich eine Person in einer meist tödlichen Krise und woanders sieht oder hört ihn im gleichen Moment eine ihm nahestehende Person.«
»So wie bei Sally«, bemerkte ich. »Als ihr Vater starb, fiel bei ihr ein Geschenk von ihm, ein Bierkrug, runter und zerbrach.«
»Gurney hätte gesagt: Sie hat eine telepathische Botschaft empfangen. Allerdings würde ich sagen: Nichts ist so trügerisch wie unsere Erinnerung. Wer weiß, wann Sally den Bierkrug runtergeworfen hat. War es wirklich in der Stunde, als ihr Vater starb? Oder womöglich zwei Tage vorher? Ihre Erinnerung hat dann zwei Ereignisse zusammengeschweißt und daraus eine Legende gemacht, die man gut erzählen kann. Nicht absichtlich natürlich.« Er lächelte selbstzufrieden. Entzaubern war eines seiner Hobbys.
Aber diesmal konnte er keinen Erfolg haben. Die Macht des Narrativen war zu groß.
»Ich glaube aber schon, dass es so etwas gibt«, meldete sich die junge Staatsanwältin ernst. »Mein Onkel ist mit seiner ganzen Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich war damals sieben. Drei Nächte vor dem Flug hat seine Tochter geträumt, dass ein Flugzeug abstürzt. Und die Frau meines Onkels hat es am Vorabend der Reise meiner Mutter erzählt. Meine Mutter hat sie noch gefragt, ob sie denn keine Angst hätten. Aber wer bucht schon einen Flug um, nur weil ein Kind schlecht träumt? Hätten sie mal!«
Richards asymmetrischer Blick ruhte prüfend auf der kurzhaarigen jungen Frau, die noch so viel werden wollte und der die Herren doch bloß auf die Brüste in festlich roter Verpackung guckten. »Jetzt reden Sie aber nicht mehr von Gedankenübertragung, sondern von Hellsehen.«
»Glauben Sie, meine Mutter hat sich das alles nur so ausgedacht, um mir Angst zu machen?«, fuhr sie auf.
»Wieso denn Angst?«, hakte ich ein.
»Das ist doch total unheimlich, finden Sie nicht? Ich bin mit der Angst aufgewachsen, dass ich vielleicht eines Tages den Tod meiner Eltern und meiner ganzen Familie vorhersehen würde. Und ich habe immer schon Angst vorm Fliegen gehabt.«
»Sie brauchen weder vor dem einen noch dem anderen Angst zu haben«, sagte Richard onkelhaft. »Die meisten Menschen halten Hellseherei zwar für möglich, aber gerade die ist, soviel ich weiß, von den Parapsychologen noch nie bestätigt worden.«
»Wieso nicht? Meine Mutter hat sich das nicht ausgedacht!«
»Ihre Geschichte in Ehren, und ohne Ihrer Mutter zu nahe treten zu wollen, aber die Sache ist zwanzig Jahre her. Da gilt, was für alle Zeugenaussagen gilt. Nach so langer Zeit erinnert sich ein Zeuge an gar keine Zusammenhänge mehr, und die, an die er sich erinnert, erweisen sich als falsch. Und wenn ein Mensch eine Geschichte wiederholt erzählt, erinnert er sich immer nur an die zuletzt erzählte Version. Das Original geht gänzlich verloren.«
»Ich erinnere mich aber genau, es war im Mai …«
»Sie erinnern sich an die Geschichte, die man bei Ihnen daheim erzählt. Bereits ordentlich abgeschliffen und logisch verknüpft. Ein Indiz dafür ist die Zahl 3. Warum hat Ihre Cousine drei Nächte vor der Reise von einem Absturz geträumt? Warum nicht vier? Warum nicht zwei? Und was genau hat sie geträumt? Was war Interpretation der Eltern am andern Morgen? Und welche Interpretation hat Ihre Mutter nach dem Unglück der Geschichte gegeben, die ihre Schwägerin am Vorabend der Reise am Telefon erzählt hatte?«
»Aber sie hat doch die Schwägerin sogar noch gefragt, ob sie keine Angst hätten, dass der Traum sich erfüllen wird!«
»Hat sie das wirklich?«
»Warum sollte sie das erfinden?« Die junge Staatsanwältin glühte.
Richard schlitzte den Blick. Ich sah ihm an, dass er sich in diesem Moment entschied, nicht zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. »Es ist oftmals schwierig, sich zu erinnern, wann genau man was zu wem gesagt hat«, sagte er beschwichtigend und lenkte ab. »Auf jeden Fall ist sich kein Kind von sieben Jahren bewusst, dass gerade Mai ist. Das ist schon mal nicht Ihre eigene Erinnerung.«
Die junge Staatsanwältin schluckte.
»Mein lieber Herr Dr. Weber«, sagte Krautter, »seien Sie doch nicht so erbarmungslos.«
»Eine Freundin von mir«, plauderte Roswita Kallweit los, »die war mal bei einer spiritistischen Sitzung dabei. Da hat man den Geist eines Toten gerufen. Und er ist gekommen.«
Richard lachte ratlos.
»Wie?«, erkundigte sich Meisner. »Mit Tischrücken? Ich habe das als Studentin auch mal gemacht. Man setzt sich im Kreis um einen Tisch … so wie den hier … und alle legen die Hände darauf. Los, das machen wir jetzt. Alle müssen die Hände auf den Tisch legen … Aber vorher sollten wir besser die Gläser runternehmen.«