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Es war schon dunkel, als ich mich die Weinsteige in den Kessel hinunter staute und die Blitzer angrinste. »Ich kann nicht schneller, sorry.«

Die Radionachrichten beschäftigten sich mit dem Zug­unglück von Hordorf auf der Eisenbahnstrecke Magdeburg-Thale, bei dem zehn Menschen ums Leben gekommen waren. Hatte der Zugführer des Güterzugs oder der des Personenzugs den Fehler gemacht, oder hatte es eine technische Fehlfunktion gegeben? Daran erinnere ich mich – die Einzelheiten habe ich gerade noch mal nachgeschaut –, vielleicht, weil mir zum ersten Mal die Formulierung »technisches Versagen« auffiel und ich über menschliches Versagen nachdachte. Wie kann Technik versagen? Was heißt überhaupt versagen? Wir sind Versager, wenn wir nicht schaffen, was wir schaffen wollen oder was andere von uns erwarten. Als Tochter habe ich versagt. Zumindest aus Sicht meiner Mutter. Ich sehe das aber so, dass ich mich befreit habe aus katholischer Höllenangst und Festlegung auf Fremdsprachensekretärin und Ehefrau.

Eine Ampel wiederum hat versagt, wenn sie nicht Rot zeigt und Züge ineinanderdonnern. Oder ihr Steuercomputer hat versagt. Oder der Programmierer, der nicht alles bedacht hat, was Technik zum Versagen bringt. Letztlich ist alles menschliches Versagen. Schlecht gebaut, schlecht gewartet. Oder? Als ich am Charlottenplatz abbog, gingen mir die Züge durch den Kopf, die sich in Japan selbständig gemacht hatten, und der PC, der nachts träumte, obgleich er keinen Strom bekam. Kann man von technischem Versagen sprechen, wenn stillgelegte Geräte nicht stillstehen?

Und wie hatte Rosenfelds Mörder überhaupt den Raum verlassen? Durch die Tür jedenfalls nicht. Durch die Fenster auch nicht. Denn er hätte das Eis im Wassergraben nicht betreten können, ohne Einbruchsspuren zu hinterlassen, deren Narben im Eis auch an diesem Montag noch sichtbar gewesen wären.

Ich brachte Charlotte Brontë in ihre Garage – »Sei brav, ja. Fahr nicht weg!« –, stieg die drei Treppen zu meiner Wohnung hinauf, warf den Computer an und schaufelte die Fotos von meinem Handy.

So ’n Hure’seich! Alles verwackelt, unscharf, verblendet, eines sogar ganz schwarz. Total vergespenstert. Auch die, die ich mit ausgestrecktem Arm durch den Türspalt ins Büro von Rosenfeld hinein gemacht hatte. Das gibt’s doch nicht! Nur ein einziges, das ich von der Leiter aus gemacht hatte, ließ immerhin Rosenfelds Beine erahnen, die unter dem Tisch hervorragten. Man erkannte die Lage der Leiche, bevor die Polizei eingetroffen war und die Tür gegen den Widerstand der Beine hatten aufschieben müssen, um hineinzukommen.

Kalte Hände strichen mir über den Nacken. Wo war ich da hineingeraten? Ich nahm Cipión und ging raus, um nachzudenken, was in doppelter Hinsicht ein Misserfolg war. Cipión war es zu nass und zu kalt auf seinen kurzen Dackelbeinen und mein Hirn taugte seit jeher nicht zum Nachdenken.

»Ich bin Freitagnachmittag etwas früher gegangen«, hatte Dr. Barzani der Polizei erklärt. »Professor Rosenfeld wollte noch zum Flughafen und dort Professor McPierson abholen.« Desirée hatte nach eigenen Angaben ebenfalls Schluss gemacht, kaum hatte Dr. Barzani das Haus verlassen. Freitagnachmittag machten alle früher Schluss. Zu der Zeit war unten in der Eingangshalle noch ein Maler damit beschäftigt gewesen, die Toilettentüren zu streichen.

Ich vermutete, dass der Professor seit Freitagabend tot in seinem Büro gelegen hatte. Es war ein klassisches Doyle/Christie-Arrangement, nur dass bei den Briten die Leichen in verschlossenen Räumen nicht derartig nach schwedischem Lustmörder aussahen. Und das Herz fehlte. Auch das hatte ich zufällig mitgehört, obgleich ich es nicht hätte hören dürfen. Aber wieso hatte derjenige, der da gewütet und die Leiche so ausgelegt hatte, dass er selbst den Raum nicht mehr durch die Tür verlassen konnte, hinterher diese Tür auch noch mit einem Schlüssel verschlossen? Vielleicht um Zeit zu gewinnen. Denn wenn ich nicht gekommen wäre, hätten die Damen womöglich noch einige Tage gewartet, bis der Gestank unerträglich wurde und Maden unterm Türritz hervorkrochen.

Als ich mit Cipión wieder in die Neckarstraße bog und mein Blick auf den von Anti-Terror-Strahlern erleuchteten Bunker der Staatsanwaltschaft fiel, klingelte mein Handy.

»Meisner!« Der Name der Staatsanwältin fiel dunkel auf die Waagschale meiner Schuld. »Wieso waren Sie wieder mal vor Ort, bevor die Polizei eingetroffen ist? Das kann doch kein Zufall sein. Langsam glaube ich an widernatürliche Kräfte.«

»Ich auch. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, können Sie mich sehen. Ich winke.«

»Sie wissen doch, dass mein Fenster nach hinten rausgeht.« Sie schaute auf den Parkplatz mit den vom Dezernat für Wirtschaftsdelikte konfiszierten Autos von Betrügern und Steuerhinterziehern.

»Dann sind Sie zuständig? Nicht Tübingen?«

»Und ich möchte umgehend die Fotos sehen, die Sie gemacht haben. Wieso muss ich das von der Polizei erfahren, und wieso hat die es nur von einer Zeugin erfahren?«

»Sie sind nichts geworden, Frau Meisner. Es sind nur Gespenster drauf.«

»Gespenster?«

»Lichteffekte, schwarze Schatten, alles unscharf. Nur auf einem ist die Lage der Leiche zu erahnen. Ich schicke es Ihnen per Mail.«

Meisner schnaufte besänftigt. »Sie schicken mir alle!«

Die Ampel ließ mich über die Straße. »Stimmt es, dass der Leiche das Herz fehlt?«

»Dazu kann ich nichts sagen, Frau Nerz. Wir müssen das rechtsmedizinische Gutachten abwarten.«

»Wo wird er obduziert? In Tübingen?«

Das durfte und konnte sie mir sagen. »Ja.«

»Hätte man nicht den Rechtsmediziner zum Fundort bitten können? Das ist doch alles sehr merkwürdig. Die zugeklebten Augen, der zugeklebte Mund …«

»Haben Sie mir nicht gerade eben erklärt, Ihre Fotos seien nichts geworden?«

»Ich habe vorher mit einem Spiegel hineingeschaut.«

Meisner seufzte. »Aber bitte nichts in der Presse!«

»Zu Befehl. Ich habe übrigens ein ganz ungutes Gefühl«, sagte ich unbedacht, während ich nach meinem Hausschlüssel suchte.

»Ich habe immer ein ungutes Gefühl bei einer Leiche«, antwortete die Staatsanwältin.

Verdammt, wo war der Schlüssel? Eine Katastrophe bahnte sich in mir an. »Das ist irgendwas Großes! Was ganz Hässliches! Ich finde meinen Hausschlüssel nicht.«

»Wenn man was sucht, muss man den Weg noch mal von Anfang an gehen. Haben Sie ihn überhaupt eingesteckt?«

Die Gute, immer praktisch. Also zurück auf Anfang. Aber ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, wie ich vor einer halben Stunde mit Cipión meine Wohnung verlassen hatte. Leere im Kopf. Man muss sich immer an das erinnern, woran man sich nicht erinnern kann, dann ist das Problem für alle Zukunft gelöst. Das Paradoxon der Freud’schen Schulpsychologie. Lisa Nerz ist eine Neurose.

Wie soll ich jemals den Anfang finden? Meinen Moment geistiger Instabilität, wo ich Teil der Verschwörung wurde? Ich bin immer geistig instabil. Als Todt Gallion mit seinem Porsche und mir gegen den Birnbaum fuhr, hatten wir uns gestritten. Doch in der Sekunde, als er von der Fahrbahn abkam, war ich nicht mehr bei der Sache gewesen. Ich hatte an was anderes gedacht. An was? An die drückenden Schuhe? An den drohenden Geburtstag meiner Mutter? Und da war noch etwas gewesen. Ich erinnere mich plötzlich an mein Gefühl: an einen unendlichen Überdruss, an Sehnsucht nach woanders, eine kraftlose Sehnsucht ohne Ausblick. Gedankenlos und lebensunlustig befand ich mich in dieser Nacht auf einer Landstraße in einer Ehe, die nicht mehr meine war. Als ob ich kurz vergessen hätte, die Leine immer schön straff zu halten. Prompt war mein Schicksal ausgeschlenkert. Todt war tot, ich im Krankenhaus und ganz wer anderes mit ganz anderer Zukunft. Ja, immer wenn etwas passierte, was Lebenswege umkehrte, hatte ich gerade nicht richtig aufgepasst.

Plötzlich hatte ich den Hausschlüssel in der Hand.

Totensteige

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