Читать книгу Totensteige - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 14
6
ОглавлениеNoch in der Nacht nahm die Polizei den 23-jährigen Malergesellen Juri Katzenjacob in Böblingen unter dringendem Tatverdacht fest. Am folgenden Tag erging richterlicher Haftbefehl. Auf einer Pressekonferenz teilten Staatsanwaltschaft und Polizei mit, dass der Beschuldigte am Freitag auf Burg Kalteneck im unteren Stockwerk die Toilettentüren gestrichen habe. Seine DNS habe sich nicht nur dort, sondern auch in Rosenfelds Büro gefunden. Außerdem habe man in seiner Böblinger Wohnung, die er sich mit einem Kollegen teilte, ein Paar Arbeitsschuhe mit Anhaftungen vom Blut des Opfers sichergestellt. Nach der übrigen Kleidung, die massive Blutspuren aufweisen müsse, werde intensiv gesucht. Der Beschuldigte habe zur Tat keine Angaben gemacht. Auf seinem Computer habe man reichlich Bildmaterial von Tiertötungen sowie Filme und Fotos mit wüst zugerichteten Leichen von allen Kriegsschauplätzen dieser Erde gefunden.
Die lokale Presse fand schnell heraus, dass der nette Junge von nebenan mit neun oder zehn angefangen hatte, Kaninchen die Beine auszureißen und sie aufzuschneiden. Seine Kindheit hatte er in Sigmaringen verbracht. Seine Eltern waren vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Auf glatter Strecke bei Sommers, einem Ort im Schwäbischen Allgäu, von der Straße abgekommen und gegen eine Mauer geprallt. Man sah Archivfotos eines zermatschten Autos, die Straße, eine Senke und das Schild »Totensteige«.
»Haben die braven Leute den Teufel an ihrer Brust genährt?«, fragte ein Boulevardmagazin. Das Foto zeigte einen Burschen mit in sich gekehrtem Blick und vorsichtigem Lächeln in der weißen Arbeitskleidung der Maler. Er hatte seine Lehre in dem Böblinger Betrieb gemacht, der ihn anschließend übernommen hatte. Ein netter, höflicher Mensch, sagten die Kollegen unter Kopfschütteln. Fleißig und gewissenhaft.
Was hatte ihn wohl nach Böblingen verschlagen?
Staatsanwaltschaft und Ermittler verfolgten eine restriktive Informationspolitik, und schon kurz darauf war für die Medien die Frage interessanter, wie man in Doktorarbeiten richtig zitiert und einen Minister stürzt, der uns mit seinem Charme heillos zu verwirren drohte. Ein Aufatmen ging durch die Republik, als er weg war, wir sanken zurück in die gewohnte Glanzlosigkeit und diskutierten im Fernsehen über die Frage, ob die Revolution in der arabischen Welt den Untergang der westlichen Welt bedeutete. Wie gefährlich ist die Demokratie dort, wo Diktaturen das Weltgefüge zementiert haben?
Fern aller Weltfragen steuerte Baden-Württemberg in diesen Tagen auf einen Regierungswechsel zu, was nachhaltige Aufregung in Funk und Zeitungen erzeugte.
Ich dachte schon gar nicht mehr an den Fall Rosenfeld, da klingelte mein Handy. Es war Kitty zu Salm-Kyrburg. Sie fragte, wann denn nun der Artikel über die Geisterjagd im Ludwigsburger Schloss im Stuttgarter Anzeiger erscheine. »Wir haben derzeit andre Themen«, beschied ich ihr. »Außerdem soll es eh ein größerer Artikel über Parapsychologie werden. Woher haben Sie überhaupt meine Telefonnummer?«
»Aus Facebook.«
»Hm, ja.« Da hatte ich meinen Privatsphärenschutz wohl etwas nachlässig behandelt. Andererseits war das ja auch der Sinn der Klatsch- und Tratschplattform. Gefunden werden können. »Wie gesagt … ich muss noch recherchieren.«
»Sie … Sie glauben nicht an diese Sachen. Sie sind Skeptiker.«
»Und ich lasse mich auch nicht missionieren.«
Kitty lachte mir ins Ohr. »Das läge mir fern.« Sie machte eine Pause. Wartete auf eine Antwort. Sie gehörte zu denen, die dem Verstärker von Handys jede Menge Raum gaben, sich zu einem Rauschen hochzutunen.
»Ist noch was?«, fragte ich.
»Ja, also …« Pause.
Ich machte auch Pause.
»Sind Sie noch dran?«, fragte sie.
»Ja.«
Kitty kicherte. Es war ein seltsam abwehrendes Lachen.
»Sie täten’s auch lieber telepathisch, nicht wahr?«, bemerkte ich.
»Was?«
»Reden.«
Pause.
»Dabei kommt Telefonieren der Sache doch schon relativ nah, nicht wahr. Nur dass man am Telefon nicht schweigen sollte. Da kommt der Geist nicht, da geht er, vielmehr, er legt auf.«
Wieder dieses humorlose Gekicher.
»Stellen Sie die Kuh über den Eimer, Kitty. Hat Ihr Medium, wie hieß sie noch gleich, ach ja, Janette … hat sich Rosenfelds Geist bei Janette gemeldet oder was?«
»Woher wissen Sie das?«
»Wie bitte?«
»Ich habe alles über die schreckliche Tat in der Zeitung gelesen. Wir …«
Ich unterbrach sie: »Kannten Sie Rosenfeld?«
»Wie man es nimmt. Ich war einmal bei ihm im Institut. Ich hatte ihm Bildmaterial von uns geschickt von einer PU …«
»Was?«
»Einer Parapsychologischen Untersuchung. Im Sigmaringer Schloss. Da standen wir noch am Anfang. Ich hatte mir von ihm Tipps und Unterstützung erhofft. Aber er hat es nicht einmal für nötig befunden zu antworten. Das Material zurückgeschickt hat er uns auch nicht. Da bin ich nach Holzgerlingen gefahren. Er hat mir dann ziemlich arrogant erklärt, dass wir Scharlatane wären und dem Ansehen der Parapsychologie schaden würden. Im besten Fall wären wir nur dumm und naiv, im schlimmsten Betrüger. In jedem Fall müsste man uns das Handwerk legen. Dabei nehmen wir kein Geld für unsere PUs. Wir arbeiten ehrenamtlich.«
»Dankbare Spenden werden aber sicher gerne angenommen.«
»Manche wollen eben unbedingt etwas geben. Rosenfeld hat schließlich auch kassiert. Die eine Stunde beim Professor, wo ich mich habe abkanzeln lassen, hat mich 25 Euro gekostet.«
»Ja, wir sind alle Nepper. Ich koste hundert Euro pro Stunde.«
Kitty schluckte. Der Verstärker rauschte hoch. Bei manchen Leuten sind Scherze ein echter Konversationsstopper.
»Wofür denn?«, fragte sie nach reiflicher Überlegung.
»Ihnen mache ich es gratis. Was wollten Sie mir denn nun erzählen über Ihr Medium und Rosenfeld?«
»Ja, also … Janette hatte ein Erlebnis. Ich vertraue ihr da. Janette hat etwas gespürt, sagt sie, das mit Rosenfelds Tod zu tun hat. Sie hat eine große Gefahr gespürt. Wir haben überlegt, ob wir nicht im Institut mal eine PU machen sollten.«
Ich musste lachen.
»Sie haben doch den Artikel über Rosenfelds Tod geschrieben«, fuhr Kitty fort. »LiN, das ist doch Ihr Kürzel, nicht wahr, und da dachte ich, Sie könnten …«
»Aber der Fall ist geklärt. Der Tatverdächtige sitzt ein. Ach übrigens, er soll aus Sigmaringen stammen. Kennen Sie ihn?«
Pause. »Die Eltern hatten die Bäckerei, bis zu dem tragischen Unfall. Sie hatten ihn adoptiert, als er so fünf oder sechs war.« Sie druckste.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht. Na ja, er hat sich in mich verknallt. Da war er sechzehn, siebzehn. Ich bin ja nun ein gutes Stück älter. Er hat mich auf der Straße gestellt und wollte es wissen. Ich habe ihm erklärt, dass ich einen Freund habe und so. Darauf drehe ich mich um und gehe weg. In meinem Rücken fühle ich seine Augen. Man fühlt das ja. Ich gucke mich um. Da fällt ein Blumenkasten runter, auf meine Schulter. Hätte ich mich nicht umgeschaut, hätte er meinen Kopf getroffen, und ich wäre tot gewesen.«
»Wenn man’s nur immer so genau wüsste.«
»Ich bin mir absolut sicher. Es hat auch nicht geklärt werden können, wieso der Blumenkasten so plötzlich heruntergestürzt ist.«
Ich hustete das Unheimliche zurück zu ihr. »Warum ist er nach Böblingen in die Lehre gegangen?«
»Kann ich nicht sagen. Schwierigkeiten mit den Eltern, nehme ich an. Es waren liebe, aber etwas starre Leute.«
»War bekannt, dass er tote Tiere fleddert?«
»Also mir persönlich nicht. Und ich kann mir das auch nicht vorstellen. Die Polizei wird sicher gute Gründe haben, warum sie ihn verhaftet, aber …«
»Hat sie.«
»Das ist auch nicht mein Thema. Aber wo Rosenfeld sich jetzt bei Janette gemeldet hat.«
»Und was will er?«
»Also, das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber er … also er kann nicht zur Ruhe kommen. Er hat ein großes und schreckliches Geheimnis.«
Ich kramte nach meiner Zigarettenschachtel und zündete mir eine an.
»Ich weiß«, nahm Kitty den Gesprächspfad wieder auf, »Sie halten mich vermutlich für verrückt. Wer sich wie ich seit Jahren in der Welt der Geister bewegt, merkt manchmal gar nicht, wie befremdlich das auf Menschen wirkt, die keine spirituellen Erfahrungen haben.«
»Na!« Es ärgerte mich ganz grundsätzlich, dass eine gut zehn Jahre jüngere Frau mir Erfahrungen absprach, egal welcher Art.
»Am leichtesten finden wir Lebenden Kontakt zum Geist eines Verstorbenen am Ort seines Todes.«
»Und Sie erwarten jetzt von mir, dass ich die Leute vom Institut überzeuge, dass Ihre Agentur dort eine PU machen kann?«
Pause.
»Okay«, sagte ich. »Ich werd’s versuchen. Der Spaß ist es mir wert. Allerdings geht dort derzeit niemand ans Telefon.«