Читать книгу Totensteige - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 17

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Sie nahm dem Catering-Buben mit den glasigen Augen eine Runde Schnäpse, Bier und Wein ab und schickte ihn heim. Dann saßen wir im toten Partysaal an einem Tisch und versuchten, auf einen Nenner zu bringen, was wir eben gesehen hatten. Ein Lehrstück für die junge Staatsanwältin. Es war nicht möglich, auch nur zwei in der Runde auf ein und dieselbe Wahrnehmung festzulegen. Was war zuerst gewesen? Der Knall oder das Licht? War Richards Apfelschorleglas auf der Brüstung zersprungen oder heruntergefallen? Am Schluss zerbröselte uns alles, und dankbar vertrauten wir uns Richards Plausibilitätssinn an. Vermutlich hatte ein Auto auf dem Spazierweg um den See zu wenden versucht, dabei war sein Scheinwerfer zwischen den Bäumen hindurch über den See geblitzt. Womöglich war er rückwärts gegen einen Stein oder eine Sitzbank gekracht. Was nachts knallt, klingt wie ein Kanonenschlag, wenn man sich im Halbschlaf oder in einer spiritistischen Sitzung befindet. Als es knallte, hatte Krautter sich umgedreht und dabei eines der Gläser gestreift, das auf der Brüstung stand.

Ich erzählte schließlich von Nina Kulagina, der Meisterin der Salzstreuer, von der Rache des Schachcomputers, dem träumenden PC und dem italienischen Dorf, in dem die elektrischen Geräte in Flammen aufgingen, obgleich sie keinen Strom hatten, und vom Rosenheim-Spuk.

Als wir endlich das Schloss über die Freitreppe verließen, fragte sich Meisner laut, wie man so einen nannte, der Salzstreuer bewegte. »Medium?« Dann wäre er Mittler zwischen Geisterwelt und gegenständlicher Welt. »Ein Übersinniger«, schlug ­Roswita Kallweit vor. »Psi-Agent«, meinte Richard, der seine auf Pumps taumelnde Kollegin fürsorglich am Ellbogen hielt. »Para­psychopath«, schlug ich vor. »Nein, ich hab’s, man nennt ihn ­Channeler«, trötete Meisner in die schwäbisch stille Nacht zwischen Schloss und Schlosshotel. Sie habe da mal was gelesen – ob zu privaten Zwecken eigener Bewusstseinserweiterung oder nicht, ließ sie offen. Channeln sei das Empfangen oder Senden von Nachrichten über einen geistigen Kanal, den es zu finden gelte, um der dichten, materiellen, niedrig schwingenden Erde in die feinstoffliche Sphäre geistiger Wahrheiten zu entkommen. »Da gibt es Ratgeber dafür! Huch!«

Richards Hand sicherte sie. »Ich fahre dich am besten nach Hause.«

Der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter war noch nüchtern und vernünftig genug, sich daran zu erinnern, dass Meisners Heim eher an seinem als an Richards Weg lag, nämlich ganz andere Richtung aus Ludwigsburg hinaus, gen Markgröningen.

Erst in Richards Limousine fühlte ich mich wieder sicher in der Welt. Sie wird zuverlässig geordnet von Ampeln, Pfeilen auf Fahrbahnen, Schildermasten und Halte- und Parkverboten. Mehr braucht kein Mensch, um zu wissen, wo er verweilen darf und wo nicht, wohin seine Reise geht und dass ein U-Turn an dieser Stelle verboten, weiter vorn aber erlaubt ist.

Auf meinem Handy war, wie ich feststellte, ein Anruf eingegangen, und zwar schon gegen 21 Uhr. Es war eine Nummer mit einer Vorwahl, die ich nicht zuordnen konnte.

Wir passierten auf breiter Stadtschneise das Blühende Barock, das hinter feudalistischen Mauern und Pforten mit seiner riesigen Schlossanlage und dem Küfer Paul schlummerte, der die kleine Ecke zwischen Kirche, Fasskeller und Glockenstuhl bespukte.

»Die Vorwahl 07571, wo gehört die hin?«, fragte ich Richard.

»Sigmaringen.«

»Ich kenne niemanden in Sigmaringen!«, behauptete ich. »Nein, ich kenne da doch wen: Kitty zu Salm-Kyrburg.«

»Die Retterin Hohenzollerns.« Richard sprangen die Hirnschubladen wieder von alleine auf. »Amalie Zephyrine von Salm-Kyrburg, geboren 1790 in Paris, verstorben 1841 in Sigmaringen. Sie hat die Souveränität des Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen gegenüber Baden und Württemberg behauptet, übrigens auch die von Hohenzollern-Hechingen.« Richard war in Balingen im Schatten der Burg Hohenzollern aufgewachsen.

»Meine Geister-Kitty betreibt einen Schönheitssalon in Sigmaringen. Und sie kennt Juri Katzenjacob.«

»Hm.«

Es war zu spät für einen Rückruf, oder vielmehr zu früh.

»Aber erschrocken warst du schon auch?«, erkundigte ich mich, als die Häuser links und rechts der fürstlichen Stadt­autobahn, die Ludwigsburg zweiteilte, zurückblieben und wir ins Dunkel der Schnellstraße rollten.

»Ja!«, antwortete Richard freimütig. »Das war ganz großes Kino. Und weißt du, was mich am meisten erschreckt hat? Dass es irgendwie passte. Ich dachte nämlich gerade: Jetzt läuft alles auf Neuschwanstein raus. Auf König Ludwig und seinen mysteriösen Tod im Starnberger See. Und wenn jetzt Neuschwanstein rauskommt, dachte ich, dann ist das der Beweis, dass es nicht Rosenfelds Geist sein kann. Und bums, kam der Abbruch!«

»Ein arg verrückter Zufall!«

»Glaubst du, dass uns wirklich Rosenfelds Geist erschienen ist?«, erkundigte er sich.

»Nee! Quatsch! Das waren wir selber mit dem, was uns so im Kopf herumspukt. Was hätte Rosenfelds Geist im Seeschloss Monrepos verloren?«

»Eben. Und zufällig weiß ich, dass unser Vizegeneral Krautter Ende vergangenen Jahres Neuschwanstein besucht hat.«

Ah ja! Und genau das zu sagen, wenn unsere Séance vorbei war, hatte er sich vorgenommen, als es knallte und blitzte. Und zwar damit vor allem seine Vorzimmerdame Roswita Kallweit nicht in der ganzen Staatsanwaltschaft herumerzählte, sogar der immer so kühle und rationale Oberstaatsanwalt Weber sei hinterher von der Existenz der Geisterwelt überzeugt gewesen. Doch genau dieser Erklärungsbeweis war von einem zufällig in diesem ­Augenblick am Seeufer wendenden Auto vernichtet worden, bevor er entstanden war. Das war selbst schon wieder spukig.

»Aber das mit Edward Gurney …«

»Edmund!«

»Zum Teufel, das hast du erfunden! Ich glaube durchaus an dein Gedächtnis, aber ich weiiiigere mich zu glauben, dass es Randfiguren der britischen Geschichte mit einschließt.«

Richard warf mir einen zufriedenen Blick zu. »Freut mich, dich noch verblüffen zu können. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Edmund-Gurney-Stiftung ist mir in einem anderen Zusammenhang schon einmal untergekommen.« Wenn er so sprach, wollte er den Zusammenhang nicht nennen. Er lenkte auch sofort ab. »Übrigens ist dieser Gurney unter reichlich mysteriösen Umständen gestorben.«

»Richard, ich bin müde! Was für Umstände?«

Ich werde nie verstehen, wieso manche Menschen meinen, es sei alles gesagt, wenn über den Tod eines anderen Menschen gesagt wird, er sei nach langer oder kurzer schwerer Krankheit (welcher?) oder aber unter mysteriösen Umständen (welchen?) gestorben. Das hat nichts mit Neugierde zu tun, jedenfalls nichts mit meiner persönlichen. Es ist vielmehr ein soziales Recht zu wissen, woran und wie Mitmenschen sterben, damit man den gleichen Fehler vermeiden kann.

»Nun ja«, sagte Richard, »Gurney bekam einen Brief, der ihn nach Brighton rief. Ohne seiner Frau oder sonst wem Bescheid zu geben, ist er dorthin gereist und hat sich im Hotel Royal ­Albion eingemietet. Am nächsten Morgen war er tot. Man fand ihn mit einem Tuch auf dem Gesicht, das mit Chloroform getränkt war.«

»Mit Rosenkranz?«

»Nein, Lisa. Es ist nicht, wie du denkst. Alle haben damals mit Chloroform hantiert. Gurney soll es verwendet haben, um neuralgische Schmerzen zu betäuben. Ob sein Tod aber ein Unfall war oder Suizid, ist nicht geklärt.«

»Oder ob ihn der Unbekannte ermordet hat, von dem der Brief stammte.«

»Es gab Gründe für einen Suizid, Lisa. Gurney war zwar Freund etlicher berühmter Zeitgenossen, aber selbst nicht so erfolgreich, wie er es gern gewesen wäre. Er soll an einer Depression gelitten haben. Auch vermutet man, dass seine Ehe nicht glücklich war, denn seine Frau heiratete wenige Monate nach seinem Tod ein zweites Mal.«

»Na, die hat in der Tat nicht lang suchen müssen.«

»Das Datum seines Todes ist übrigens bemerkenswert. Er starb am 23. Juni, also im 6. Monat. Die Zahl 6 steht im Okkultismus für die Offenbarung des Johannes, also für Weltuntergang und den Antichrist, vor allem als 666. Und im griechischen Alphabet heißt der 23. Buchstabe Psi …«

Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken.

»Allerdings«, fuhr Richard vergnügt fort, »wird die Bezeichnung Psi erst nach dem Zweiten Weltkrieg für paranormale Phänomene verwendet. Das mag der Grund sein, warum erst im zwanzigsten Jahrhundert die Zahl 23 zum Symbol für das Geheime und Zerstörerische wird, zur Zahl der Illuminaten.«

Es lachte aus mir heraus. Es war einfach zu viel. »Die Illuminaten! Jawoll! Vampire, Gespenster und Illuminaten!«

Es war einer der seltenen Momente, wo ich Richard feixen sah. »Gut, gell? Es gibt so wenige Ziffern und so viele Bedeutungen. Da landet man immer einen Treffer. Die Illuminaten sind übrigens keine Erfindung der Romanciers. Es gab sie wirklich in Ingolstadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als in Europa Könige und ihre Mätressen regierten. Die Illuminaten wollten Aufklärung und sittliche Verbesserung der Gesellschaft. Das verstanden die absolutistischen Despoten natürlich als Angriff auf sich selbst. Die Gruppe wurde verboten. Erst die Romanschreiber und Filmemacher haben sie zu erbitterten Feinden der katholischen Kirche und zu Agenten einer finsteren Weltverschwörung stilisiert.«

Mir flashte das Bild der Uhr am Giebel von Kalteneck ins Hirn. Drei nach acht. »Die Uhr!«, sagte ich. »Sie stand! Und zwar 20 Uhr 3 – 23!«

»Welche Uhr?«

»Das kann kein Zufall sein, Richard. So viele Zufälle gibt es nicht. Die Illuminaten haben den Mord an Rosenfeld angeordnet und von einem abergläubischen Adoptivkind aus Rumänien ausführen lassen.«

»Und zwar warum?«

»Weil … weil …« Plötzlich hatte ich es. »Weil Rosenfeld beim Kalteneck-Experiment Erfolg hatte.«

»Was für ein Experiment?«

»Die suchen nach dem, der es kann. Dafür haben sie eine Million Euro ausgelobt. Und Rosenfeld hat ihn gefunden. Den Mann, der anderen seine Gedanken aufzwingen kann, oder die Frau.«

»Unsinn, Lisa!«

»Na gut, dann kann er Gedanken lesen. Wem würde so was nützen? Geschäftsleuten, Drogenhändlern, Außenministern … Sie wüssten, was der Gegner denkt. Nein, das ist Pippikram. Es muss was Größeres sein. Eine Macht! Sie beeinflusst Maschinen, Computer, die Börse. Stell dir vor, es gäbe einen, der Flugzeuge abstürzen lassen könnte …«

»Bitte, Lisa!«

»… oder Atomkraftwerke zur Kernschmelze bringen! An so einem hätte die halbe Welt Interesse. Die USA, Russland, China, die Taliban, al-Kaida, jede verkrachte Oppositionsbewegung, Terroristen, ein Großkonzern, einfach alle, die Macht gewinnen wollen. Und die Israelis sowieso. Die fürchten sich vor ihrer Vernichtung. Sie haben doch erst kürzlich mit einem Computer­virus im Iran das Atomprogramm zu stören versucht.«

Darauf erwiderte Richard nichts mehr. Aber die Knöchel seiner Hand auf dem Lenker waren weiß geworden, obgleich sein servogelenktes Gefährt keine harte Hand verlangte.

»Sag, dass ich spinne, Richard! Sag, dass das Quatsch ist!«

»Natürlich ist das Quatsch, Lisa.«

»Aber wenn es so wäre, Richard. Nur mal angenommen. Dann hätte Rosenfeld sterben müssen, weil er den einen kannte, der es kann. Oder die eine. Weil er ihn entdeckt hat, aber den Namen niemandem mehr nennen sollte. Denn dieser eine ist längst entführt und befindet sich in den Händen derer, die mit seiner Hilfe irgendwas anrichten wollen, was ihnen immens nützt und anderen – uns – immens schadet.«

Richard ächzte. »So was hat man in den dreißiger Jahren geglaubt, Lisa. Die Nazis waren damit ganz vorn dran. Und die USA im Kalten Krieg. Mind-Control und so weiter. DerCIAhat im geheimen Projekt Stargate Hellseher beschäftigt, die sowjetische Militäranlagen im fernen Sibirien beschreiben sollten, die kein Westler je zu sehen bekam. In Einzelfällen soll es sogar gelungen sein, aber es ist niemals eine Dokumentation darüber erschienen, wie viele Fehlversuche es dabei gegeben hat und wie oft die Visio­nen falsch waren, falls man das überhaupt überprüfen konnte. Lisa, es geht nicht. Es gibt diesen einen – oder diese eine – nicht.«

Das Gelächter kehrte zurück und gluckerte in mir herum.

»Was gibt es da zu lachen?«

»Ich stelle mir nur … ge… hihi …rade vor, dass der Psi-Agent die Wahlmaschinen beeinflusst hat und wir … hihi … darum jetzt plötzlich eine grün-rote Landesregierung haben.«

»Darum haben wir in Deutschland keine Wahlcomputer, sondern machen unser Kreuzchen mit Bleistift auf Papier in der Kabine, Lisa. Genau darum.«

»Ach was, echt?«

Totensteige

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