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Ich blickte Cipión in die nussbraunen Augen. Noch nie hatte Oberstaatsanwalt Dr. Weber mich in seinem Büro sehen wollen. Was ziehe ich da jetzt an? Business- oder Verbrecherkleidung. Was bei ihm keinen Unterschied machte, denn er war Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart, er sah Kriminelle in Boss-Anzügen. Diesmal musste ich mich jedenfalls nicht mit meinem Judo-Ausweis, der die Farbe der Ausweise der Steuerfahnder hatte, zur Hintertür hineinmauscheln. Ich durfte vorn rein, offiziell als Lisa Nerz. Aber was trage ich, wenn ich ich bin? Ich kajalte meine Narben, tat mir alle Lederarmbänder um, die ich besaß, polierte den Brillanten im Ohr, gelte meine Haare, zog das Rip-Curl-T-Shirt mit dem Schädelprint an, dazu eine Boyfriend-Jeans mit Nietengürtel und Sneakers. Und dann doch noch das blaue Nadelstreifenjackett mit den Innentaschen für Geldbeutel, Handy und andere Kleinigkeiten. Ja, so ka’sch auf’d Gass.

Cipión guckte. Die Haarbüschel über seinen Augen gingen abwechselnd hinauf.

»Hast ja recht, alles Verkleidung. Ich hab halt kein Fell.«

War Cipión eigentlich zufrieden mit seinen drahtigen graubraunen Haaren, oder wünschte er sich zuweilen das seidige Fell eines Collies? Verglichen sich Tiere mit andern? Ich bin schlanker, meine Ohren sind hübscher. Oder war das Vergleichen eine ausschließlich menschliche Eigenschaft? So aussehen wollen wie alle und dennoch unverwechselbar und eigen bleiben. Die unmögliche Aufgabe.

»Möchtest du mit?«

Cipión wedelte mit der Rute.

»Richard besuchen?«

Die Rute wedelte frenetisch.

Feierlich traten wir vor die Haustür. Gelassen schlenderten wir zur Fußgängerampel. In der Luft hing der Straßenbahngeruch nach sonnenheißem Schmieröl. Wir winkelten durch Baustellenabsperrungen rüber auf die andere Seite, schritten den staatstragend breiten Fußweg entlang und stiegen die Stufen zur Pforte hoch. Es stimmte natürlich nicht, dass ich noch nie legal in der Staatsanwaltschaft gewesen war, da hatte es mal eine Besprechung mit Meisner gegeben, aber ich war noch nie vorn in der Pforte eingelaufen und hatte laut meinen Namen genannt und »Zu Oberstaatsanwalt Dr. Weber. Er erwartet mich« gesagt.

Der Polizist an der Pforte antwortete: »Ja, er hat eben angerufen. Sie kennen den Weg. Aber das Hundle, das kann fei net nei.«

Na bitte! Es wäre ja auch zu seltsam gewesen, wenn jetzt alles reibungslos verlaufen wäre.

Ich legte den Kopf schief und lächelte. »Das Hundle hat Angst allein. Und ich auch.«

Der Polizist war schon älter. Er kniff die Augen zusammen, drehte sich halb weg und winkte mich fort. Ich nahm Cipión untern Arm und drückte mich durch den Vereinzelungsapparat, wie in solchen Gebäuden die Drehtüren heißen. Und da passte wirklich nur einer durch, und zwar ohne Rucksack. Ich musste aufpassen, dass Cipións Rute nicht abgeklemmt wurde.

Dann war ich drin. Ich ließ Cipión zu Boden und von der Leine. Der Fahrstuhl befand sich rechts. Er hatte ein vorgeburtliches Alter – auf meine Geburt bezogen natürlich – und das gleiche messingverbrämte Design wie die Fahrstühle im Bürgerhospital aus dem Jahr 1958. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft steckte jetzt seit dreißig Jahren – ein ganzes Karriereleben lang – in einem Gebäude aus den Dreißigern, das ursprünglich von einem Oberpostbaurat namens Osswald für das Telegraphenbauamt der Reichspost geplant und nach dem Krieg zunächst vom Süddeutschen Rundfunk genutzt worden war. Der Stil nannte sich Neue Sachlichkeit und war längst denkmalreif. Der Fahrstuhl rumpelte mich in den dritten Stock hinauf. Eine Renovierung war vor einigen Jahren durchs Gebäude gebraust und hatte die Gänge aufgehellt. Auch gab es inzwischen Flachbildschirme.

Roswita Kallweit hatte schon Dienstschluss gemacht. Die Porzellankatzen auf ihrem Schreibtisch weinten ihr nach. Mittlerweile teilte sie sich ihr Büro mit einer weiteren Schreibkraft, die auch schon lange gegangen war. Die Tür zu Richards Büro stand offen.

»Ah!«, sagte er aufblickend.

Cipión startete durch, veranstaltete seinen Begrüßungswirbel, ratzte mit den Krallen über das edle Tuch von Richards Hosen, warf sich auf den Rücken und zwang den Staatsanwalt, sich zu bücken, zärtliche Laute auszustoßen und zu lächeln. Als der Hund genug hatte, fuhr Richard per Tastendruck seinen Computer herunter, stand auf, zog sich das Jackett über, griff sich einen Speicherstick und kam hinter seinem Tisch hervor, der noch original Süddeutscher Rundfunk war.

»Was ist eigentlich los?«, fragte ich.

»Das wirst du gleich sehen.«

Wir begaben uns in den Medienraum, der seit dem letzten Mal mächtig an Technik gewonnen hatte. Neben neueren DVD- und Blu-ray-Playern zur Überprüfung von Produktpiraterie und illegalen Kopien standen aber auch noch der alte Kassettenrekorder und das Videokassettengerät. Außerdem hatten wir hier beide bequem Platz am Tisch. Richard fuhr den Computer hoch, stöpselte den USB-Speicher ein und öffnete einen Bildordner. Ich erkannte meine missglückten Fotos von Rosenfelds Büro wieder.

»Oje!«

»Jetzt pass auf.« Richard vergrößerte eines der Bilder, auf denen verwischte Buntheit herrschte, und fuhr an die linke untere Ecke hinunter. »Siehst du das?«

Ich sah etwas Dunkles. »Total unscharf.«

»Was auch immer das ist, auf den Tatortfotos der Polizei ist es nicht drauf.«

»Ein Gespenst!«, bemerkte ich.

»Oder ein Gegenstand, der sich dort nicht mehr befand, als die Tatortgruppe eintraf.«

»Die mussten doch erst einmal die Tür aufschieben, um hineinzukommen. Es war unvermeidlich, dass sie dabei die Spurenlage an der Tür verändert haben.«

»Wie weit bist du hineingetreten?«

»Gar nicht. Ich habe nur den Arm reingestreckt. Die Tür ließ sich nur einen Spaltbreit öffnen. Außerdem hatte ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen, weil sie patschnass waren. Schon deshalb habe ich es vermieden, einen Fuß in das Zimmer zu setzen.«

Richard nickte. »Deine Fußabdrücke hat man im Eingangsbereich gefunden und dokumentiert.« Er ging zurück in die Datei mit meinen Fotos und rief ein weiteres auf. Es zeigte ein von der Sonne verblendetes parkettfarbenes Geleuchte. »Vermutlich hast du auf den Auslöser gedrückt, als du die Hand mit dem Handy zurückgezogen hast. Schau, hier ist es wieder.«

Der Gegenstand war immer noch dunkel, aber deutlich kantiger, sogar leicht konisch.

»Und jetzt pass auf.« Richard lud das Foto aus einem anderen Ordner noch einmal hoch. »Die IT-Fachleute beim LKA haben dein Foto mit dem verwischten Gegenstand nachbearbeitet und versucht, die Bewegung herauszurechnen.«

Viel schärfer war der Gegenstand allerdings nicht geworden. »Jetzt sieht es aus wie ein schwarzer Käfer mit Leuchtdioden«, bemerkte ich.

»Die KT hat«, fuhr er mit mehr Anspannung in der Stimme fort, als mir dieser Schmutzfleck auf dem Foto zu rechtfertigen schien, »unter alle Schränke geschaut, in alle Ecken, alle Ritzen, aber nichts gefunden, was auch nur annähernd so aussieht.«

»Verdammt, was ist das nur für ein Ding?«

Er schaute mich an. »Auf der Liste der KTU stehen Kiessteine, eine Büroklammer unterm Schreibtisch, Hydrokügelchen aus dem Topf mit dem Philodendron, Klemme und Feder eines zu Bruch gegangenen Kugelschreibers, eine leere CD-Hülle unter einem Schrank, ein altes Zehn-Pfennig-Stück. Und so einen Tatort untersucht man besonders sorgfältig. Man ist sogar noch einmal hin, um sich das Büromaterial im Institut anzusehen. Aber es hat sich nichts gefunden, was annähernd so aussieht.«

»Und wem ist jetzt erst aufgefallen, dass auf meinen Fotos etwas drauf ist, was die Polizeikamera nicht erfasst hat?«

»Den Fallanalytikern im LKA. Dieses Foto von dir hilft abzuschätzen, wie weit die Tür sich gegen den Widerstand der Füße öffnen ließ. Die Fallanalytiker haben ausprobiert, ob die Lage der Leiche so sein konnte, wie sie sich auf deinen Fotos erahnen lässt, wenn jemand die Tür knapp vierzig Zentimeter geöffnet hat, um hinauszuschlüpfen. Die Antwort ist Nein. Die Leiche hätte dann anders liegen müssen.«

»Das heißt, man geht davon aus, dass der Täter das Büro durch die Tür verlassen hat.«

»Es gibt keine andere Möglichkeit. Das Büro hat zwar noch eine zweite Tür, aber sie ist seit Jahren verschlossen, mit Styropor isoliert und auf beiden Seiten mit schweren Regalen zugestellt. Es gibt einen Wandschrank, aber die Farbabdeckung zeigt, dass dort keine Bretter bewegt worden sind. Die drei Fenster waren von innen verriegelt. Die Zimmerdecke weist keine Spuren einer Manipulation auf, genauso wenig die Dielen auf dem Dachboden darüber. Die Suche nach einer anderweitigen Geheimtür verlief erfolglos. Es geht also nur die Tür.«

Ich verstand, was ihn quälte. Auf meinen Fotos lag am Türrahmen ein Gegenstand, der möglicherweise verraten hätte, wie der Täter es geschafft hatte, den Raum durch die Tür zu verlassen, ohne sie so weit zu öffnen, wie er musste, um durchzupassen. Doch der Gegenstand hatte sich verflüchtigt, als die Polizei ihre Arbeit aufnahm.

»Und nun hast du den Verdacht«, stellte ich fest, »dass ich das Ding an mich genommen habe?«

Er blickte mich an. »Und?«

»Nein, habe ich nicht, Richard! Sonst hätte ich längst damit geprahlt, dass ich wüsste, wie er es gemacht hat. Verdächtigt Meisner mich etwa?«

»Nein. Im Gegenteil, ihrer Überzeugung nach haben sich deine Fotos als wertvoller erwiesen, als es zunächst aussah. Sie zeigen, so verwackelt sie sind, die Lage des Toten. Er liegt genau senkrecht zur Tür. Und mit Hilfe der Blutspuren lässt sich belegen, dass der Körper erst drei bis vier Tage nach dem Tod seitlich verschoben wurde, nämlich als die Polizei die Tür öffnete.«

»Woran ist Rosenfeld eigentlich gestorben? In der Zeitung habe ich darüber nichts gelesen.«

»Das ist Täterwissen.«

Tabu. »Weiß es denn der Tatverdächtige auch?«, fragte ich.

Und wieder geschah etwas Seltsames: Richard drehte sich zu mir um und sagte: »Wenn du mir versprichst, dass das, was ich dir jetzt sage, nicht diesen Raum verlässt …«

Ich nickte.

»Rosenfelds Leiche wies eine doppelte Drosselmarke am Hals auf. Demnach wurde er von hinten mit einem Elektrokabel gewürgt, wobei der Täter zwei Mal ansetzte. Aber es fehlen Petechien und andere Anzeichen, dass Rosenfeld zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war.«

»Ups!«

»Rosenfelds Organismus hat auf den Gewaltakt nicht mehr reagiert. Der Todeszeitpunkt lässt sich auf zwischen 13 Uhr 30, dem Zeitpunkt, wo Dr. Barzani und sofort danach die Sekretärin das Institut verlassen haben, und ungefähr 22 Uhr 30 eingrenzen. Rosenfeld hatte etwas Alkohol im Blut, und er hat etwa eine halbe Stunde vor seinem Tod ein Käsebrötchen gegessen, woraus man schließen könnte, dass er am Spätnachmittag oder Abend noch lebte.«

»Wo stammt das Käsebrötchen her?«

»Gewöhnlich wurde die Sekretärin zu einem nahegelegenen Imbissbäcker geschickt, um einzukaufen. Das Screening auf Betäubungsmittel, Drogen, Medikamente und Gifte hat nichts ergeben. Aber natürlich gibt es etliche Substanzen, die nicht mehr nachweisbar sind, wenn eine Leiche sechzig Stunden lang herumliegt.«

»Das heißt, man weiß gar nicht, woran Rosenfeld gestorben ist?«

Richard nickte. »Laut Gutachten war er, abgesehen von typischen Alterserscheinungen und Arthrose in den Knien, organisch gesund, soweit man das bei dem Zerstörungsgrad der … der Organe feststellen konnte.«

Ich stellte mir vor, wie das Team in der Rechtsmedizin die rausgeschnittenen und zerhäckselten Organe begutachtet hatte. »Vielleicht hat er einen Herzinfarkt erlitten. Das Herz fehlt immer noch, oder?«

»Ja. Aber ein Infarkt war es nicht, sagt das forensische Gutachten. Trotz des fortgeschrittenen Zerfallsprozesses hätte sich im Blutserum ein Bioindikator dafür noch nachweisen lassen müssen.«

»Und Katzenjacob sagt nichts dazu?«

»Nein. Er hat sich nach seiner Festnahme zu ein paar Fragen geäußert und sagt jetzt nichts mehr.«

»Es könnte also sein, dass er den Professor gar nicht getötet, sondern lediglich nachträglich bearbeitet hat. Oder ist das auch nicht sicher?«

»Doch. Er war nachweislich in Rosenfelds Büro und hat sich an der Leiche zu schaffen gemacht. Das hat er auch eingeräumt, ohne ins Detail zu gehen. Er hatte Rosenfelds Blut an den Schuhen, die neuwertig waren und die er darum nicht mit den anderen Kleidern entsorgt hat.«

»Gefunden hat man sie bisher nicht?«

»Nein. Aber man hat seine DNS und Farbspuren an signifikanten Stellen im Raum und an der Leiche gefunden. Und er hat auf dem Sessel sitzend, der im Büro steht, masturbiert. Man hat sein Sperma sichergestellt.«

»Reizend. Wie nennt man diese Art der Perversion?«

»Nekrophilie.«

»Hat er gesagt, dass er Rosenfeld erdrosselt hat?«

»Nein. Das Kabel stammte übrigens von einem der Computer in Rosenfelds Büro. Der Täter hat es beim Verlassen des Tatorts nicht mitgeführt. Es lag dort. Und es hat Anhaftungen von Katzenjacobs DNS aufgewiesen.«

»Na dann … ach nein. Rosenfeld war ja schon tot. Gab es Spuren eines Kampfs?«

»Nein.«

»Sind wir überhaupt sicher, dass Rosenfeld in seinem Büro verstorben ist?«

»Ja, der Auftrag von …«, Ekel schüttelte Richard, »… Körperflüssigkeiten auf dem Büroboden weist darauf hin. Demnach lag er zunächst diagonal und mit dem Kopf zur Tür auf dem Bauch, wurde von hinten mit der Schlinge gewürgt und dann in die Lage gebracht, in der du ihn fotografiert hast.«

Ja, die Kriminaltechnik war heutzutage schon sehr gut.

»Katzenjacobs Anwalt«, sagte Richard, »wird es der Anklage jedenfalls sehr schwer machen zu beweisen, dass der Beschuldigte derjenige ist, der Rosenfeld getötet hat, auch wenn man nachweisen kann, dass er ihn post mortem stranguliert und die Leiche … manipuliert hat. Die Störung der Totenruhe – und hier geht es zweifellos um einen schweren Fall – wird nach ­Paragraph 168 StGB mit einer Freiheitsstrafe von nur bis zu drei Jahren bestraft.«

»Oha!«

Irgendwo im Gebäude wurde eine Tür zugeworfen. Richard zuckte zusammen. Er griff nach dem USB-Stick, packte aber nicht zu, ließ die Hand schweben. Die Schritte gingen draußen vorbei, und Richard nahm seine Hand wieder zu sich. Dämmerung hatte das Fenster zugezogen.

»Was ist los?«, fragte ich.

Er zögerte. »Lisa …«

»Ja.«

Er schaute mich an, todesmutig. »Glaubst du an diese Sachen?«

»An was?«

»Gespenster, Telekinese …? Du hast erzählt, du hättest einen Test in diesem Institut gemacht und man habe eine PK-Begabung festgestellt.«

Ich musste lachen. »Das ist eher ein statistischer Trick. Da geht es um Abweichungen von der Normalverteilung von ein paar null Komma null irgendwas Prozent. Ich bin weit davon entfernt, per Geisteskraft Gegenstände zu bewegen. Dass jemand so was kann, ist auch noch nie wissenschaftlich untermauert worden, sagt die Doktorin Barzani.«

Richard holte tief Luft. »An dem Tag, als der Gefangenentransport mit Juri Katzenjacob auf den Hinterhof des Ermittlungs­gerichts fahren wollte, da … ging das Tor nicht auf. Irgendwas hat geklemmt. Später funktionierte es wieder. Einen Defekt hat man nicht feststellen können. Außerdem hat die Überwachungskamera nichts aufgezeichnet. Nichts.« Er schaute mir unglücklich in die Augen. Die eherne Rationalität seines Verstands bekam Risse. Ich konnte zuschauen.

»So was kommt vor«, sagte ich. »Ein nicht zufälliges Zusammentreffen von aus einer leichten Instabilität des Systems resultierenden Sonderfällen. Wenn Juri Katzenjacob ein Telepath ist, dann hat er den Transporter aufhalten wollen, damit seine Befreiung gelingt. Wahrscheinlich hat er auch diesen rätselhaften Gegenstand an der Tür weggezaubert, damit wir nicht herausfinden, wie er nach der Tat herausgekommen ist.«

Richard simulierte ein Lachen.

»Oder er kann durch Wände gehen. Wäre auch eine Möglichkeit.«

Richard schaute mich vorwurfsvoll an.

»Okay, okay. Dann fragen wir mal so: Warum sollte Juri Katzenjacob ein Interesse daran haben, dass die Polizei sich nicht erklären kann, wie er aus dem Raum herausgekommen ist?«

»Vielleicht ist das nicht die Frage, Lisa.«

»Was ist dann die Frage?«

Richard zog den Speicherstick aus dem Computer, ließ ihn in die Innentasche seines Jacketts gleiten, schloss die Bildprogramme und stand auf. Cipión war wie immer froh, dass nun wieder Bewegung in uns Langbeine kam, und hibbelte zur Tür.

»Vielleicht«, sagte Richard, »ist Juri Katzenjacob tatsächlich jener, welcher … Ich meine …«

»Der Parapsychopath, der das Kalteneck-Experiment bestanden hat? Nee, Richard!« Ich durchpflügte mein zerrupftes Gedächtnis. »Er war der Maler. Er hat die Klotüren bepinselt.« Ich kam in Fahrt. »Als er fertig war, so gegen 16 Uhr 30 oder 17 Uhr, hat ihn die Neugierde gepackt, oder er wollte sich verabschieden, und er ist raufgegangen ins Institut. Dort schien niemand mehr zu sein. Doch dann hat er Licht in Rosenfelds Büro gesehen. Ende Januar war es dunkel um diese Zeit. Er ist hineingegangen und hat … Ja, er hat Rosenfeld leblos auf dem Boden liegen sehen, und sein Interesse für das Innenleben organischer Körper hat ihn übermannt. Um sicherzustellen, dass Rosenfeld tot ist, hat er ein Kabel aus dem Computer gerissen und ihn gewürgt. Vielleicht hat er das mit Katzen und Hunden auch so gemacht. Es ist ein Ritual. Der Akt des Tötens am Toten, dann die Eingeweide herausholen, das Herz für eine spätere Sonderbehandlung sichern. Und zum Schluss Augen und Maul verschließen und mit einer Nadel pfählen, Kies verstreuen, damit aus dem Malträtierten kein Nachzehrer wird, der sich an ihm, Katzenjacob, rächt. Erst hinterher ist ihm klar geworden, dass Rosenfeld ein Mensch und kein Fuchs am Straßenrand war und es für ihn diesmal brenzlig wird. Daraufhin hat er wie ein gewöhnlicher Verbrecher versucht, Spuren zu verwischen. Aber wie alle hatte er keine Vorstellung davon, was die Spurensicherung bei der Polizei heute leistet. Zur Herkunft der Kiessteine hat er sich nicht geäußert, nehme ich an?«

»Nein. Aber sie stammten höchstwahrscheinlich von einer Baustelle in Holzgerlingen.«

»Das sieht nach Planung aus. Er muss sie sich ja in die Tasche gesteckt haben, bevor er zum Malen in die Burg fuhr.«

Richard nickte. »Es macht das Geschehen nicht gerade besser nachvollziehbar.«

»Aber dann kann er nicht der Channeler sein. Er ist nur das Werkzeug. Das glaube ich. Wenn Katzenjacob die Entdeckung wäre, wüsste man das seit vergangenem Sommer, wo die letzten Kalteneck-Experimente durchgeführt wurden, denn die Presse wäre ganz groß darauf eingestiegen. Das kannst du mir glauben. Wir lieben so was. Wenn er die Million gewonnen hätte, wäre er zweitens auch nicht mehr der Maler, sondern ein begehrter und heftig umkämpfter Gast in allen Talkshows. Vermutlich hätte er sogar längst seine eigene Show.«

»Ich erinnere mich noch gut«, bemerkte Richard, »wie du auf der Heimfahrt von Gesines Geburtstag ziemlich vehement die These vertreten hast, der Telekinese-Agent sei entdeckt.«

Das musste ich einräumen.

»Würde für den nicht das Gleiche gelten? Er wäre inzwischen bekannt.«

»Nicht, wenn er sofort entführt und Rosenfeld ermordet worden wäre. Ich kann mir eben nur schwer vorstellen, dass Juri seinen Entdecker getötet haben soll.«

»Es sei denn, Katzenjacob meinte, er habe diese Begabung, doch Rosenfeld hat ihm das Zertifikat verweigert. Im Umfeld dieser Experimente gibt es einige Fälle, in denen die Leute sich darüber beschweren, dass Rosenfeld das Experiment mit ihnen abgebrochen habe, weil er befürchtete, so ihre Interpretation, dass sie unter Laborbedingungen bestehen würden.«

Ich stutzte. Wie tief hatte er sich eigentlich bereits in diesen Fall eingearbeitet? Wirklich nur, weil ihn seit der Befreiungsaktion und dem technischen Versagen, das sie begleitet hatte, der Gedanke nicht mehr losließ, es könnte doch finstere Kräfte geben, die sich seinem rationalen Zugriff entzogen? Womöglich hatte ihn die Séance auf Schloss Monrepos tiefer beeindruckt, als er es damals wahrhaben wollte.

Er klinkte die Tür auf, Cipión trabte auf den dunklen Gang hinaus, und Richard schloss ab.

Ich amüsierte mich. »Wird etwa geklaut hier in der Staatsanwaltschaft?«

»Grundsätzlich ist überall alles möglich.«

Die Weisheit resignativer Menschenkenntnis rückte ihn mental halbwegs wieder ins Lot. Zügig steuerte er die Treppe an. Immer sportlich.Ich fing Cipión ein und klemmte ihn mir unter den Arm. Dackel, insbesondere meiner, neigen dazu, sich auf Treppen vom eigenen Hinterteil überholen zu lassen und den Weg holterdipolter zu beenden.

»Übrigens«, plauderte ich, »sind die Kalteneck-Experimente hauptsächlich von einem Doktoranden aus Alicante durchgeführt worden. Er heißt Héctor Quicio. Ich habe ihn noch nicht auftreiben können. Er hat die spanische Asociación de Investigaciones Parapsicológicas wohl verlassen.«

»Vielleicht hat er seine Doktorarbeit inzwischen veröffentlicht.«

»Und wie weiß ich das?«

Richard schmunzelte. »Alle Dissertationen müssen veröffentlicht werden und befinden sich in den zentralen Universitäts­katalogen. Und die sind alle online einsehbar.«

Tja, ich war halt nicht vertraut mit den geheimen Regeln der akademischen Bruderschaften, was hiermit wieder einmal klargestellt war.

Richard blieb abrupt stehen und zog das Handy. Sein Gesicht hellte sich etwas auf. »Frau Barzani!«

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