Читать книгу Totensteige - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 19

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Als ich am Sonntagnachmittag nach drei Bechern Kaffee und einem Spaziergang mit Cipión wieder zurechnungsfähig war, aktivierte ich auf meinem Handy den Rückruf meines Anrufs in Abwesenheit.

Es meldete sich mit schwäbischer Pausenanfälligkeit Kitty zu Salm-Kyrburg, Haunt Hunter’s Agency.

»Sie haben mich gestern Abend angerufen?«, eröffnete ich.

Pause. »Ja.« Pause.

»Und, was gibt es?«

»Janette hatte gestern Abend wieder ein Erlebnis.«

»Ah so, Rosenfeld ist ihr erschienen und hat von großen Gefahren gesprochen?«

Pause. »Ja. Aber Janette sagt, sie sei zu schwach dafür. Er braucht ein stärkeres Medium. Es müsse jemand sein, der … entschuldigen Sie … aber ich sage nur, was Janette mir gesagt hat … Es müsse jemand mit Narben sein.«

Ich lachte lauthals. »Wollen Sie mich verkackeiern?«

Stille. Mein Handyverstärker rauschte. Ich zündete mir eine Zigarette an. »Kann ein Geist eigentlich an zwei Orten gleichzeitig erscheinen?«

»Geister sind nicht unserer Zeit unterworfen.«

»Aber sie erscheinen immer nur nachts.«

»Nein. Wir wissen auch von Tagesspuks. Allerdings ist es nachts ruhiger, weniger Schwingungen. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Nachts schlafen die meisten Menschen. Da sind weniger Gedanken in der Luft, gewissermaßen. Und wir hören die Toten besser.«

»Aha!« Ich erzählte ihr von unserem Tischrücken.

Pause.

»Was sagen Sie dazu?«, schubste ich sie an.

»Nun … ich war nicht dabei. Daher lässt sich schwer sagen, ob Rosenfelds Geist tatsächlich präsent war oder ob es nur … verstehen Sie … So wie Sie es mir erzählt haben, war es eher ein Gesellschaftsspiel. Ein Partygag. Natürlich kann sich dabei auch etwas ereignen.«

»Und was halten Sie von dem Hinweis auf Neuschwanstein?«

»Wie gesagt …« Ihre Stimme versackte in Stille.

»Verstehe. Wären Sie und Ihre Truppe bereit, eine PU in Neuschwanstein zu machen?«

Jetzt lachte Kitty laut. »Was glauben Sie, wie oft wir schon versucht haben, nach Neuschwanstein reinzukommen? Ich meine, außerhalb der Besuchszeiten, nachts. Null Chance!«

Ich überlegte, ob ein Oberstaatsanwalt beim Stuttgarter Landgericht einen Richter bewegen konnte, einen Beschluss zu unterschreiben, der eine spiritistische Sitzung bei Nacht im Schloss Neuschwanstein anordnete. »Dann machen wir es eben bei laufendem Betrieb.«

»Waren Sie schon mal dort?«

»Nein. Ich interessiere mich nicht für Adelshäuser.«

Die Nachfahrin der Retterin von Hohenzollern-Sigmaringen schluckte. Vielleicht war es aber auch nur eine ihrer regulären Pausen. »Ohne Führung kommen Sie da nicht hinein. Und Sie dürfen nicht fotografieren oder filmen. Wir könnten keinerlei Messungen vornehmen und keine Daten sammeln.«

»Auf den elektronischen Beleg würde ich in diesem Fall verzichten. Wenn Rosenfeld dafür sein schreckliches Geheimnis preisgibt.«

Das Lustige war, dass ich Kitty gar nicht vom Sinn eines solchen Unternehmens überzeugen musste. Schwieriger würde das bei Richard werden. Und er musste mit. Denn wenn ein Physiker und Psychologe wie Rosenfeld ein Medium suchte, das ihm geistig gewachsen war, dann nicht mich, sondern einen Mann wie Richard mit starkem Verstand und kritischem Sinn, ein Skeptiker, der, wenn er erst einmal überzeugt war, nicht ablassen würde, bis das Rätsel gelöst war. Narben besaß auch er, nur weniger deutlich sichtbare. Sie lagen verborgen unter seiner textilen Schale von Eleganz und Lebensplan.

Dabei glaubte ich nicht daran. Ehrlich. Aber nach all den Jahren, die ich zuerst für das Emanzenblatt Amazone, dann für den Stuttgarter Anzeiger und jetzt für die Sonntagsbeilagen der Südwestpresse durchs süddeutsche Kuriositätenkabinett geturnt war, hatte ich begonnen, daran zu glauben, dass ich Journalistin war. Und für eine gute Show und eine krasse Story konnte ich meine persönlichen Überzeugungen auch einmal hintanstellen.

Vielleicht war das der Moment, wo ich Teil der Verschwörung wurde. Als ich nämlich einschwenkte und so tat, als hielte ich es für möglich, dass Rosenfelds Geist uns in Neuschwanstein das Geheimnis seines Todes eröffnen würde, obgleich ich eigentlich nur Richards neuronale Datenbanken anzapfen wollte. Denn insgeheim war ich überzeugt, dass er beim Stehtischrücken einen größeren Beitrag zur Verrätselung der Causa Rosenfeld geleistet hatte, als ihm selbst bewusst war. Statt des rationalen Wegs, ihn so lange zu löchern und zu piesacken, bis er mir verriet, was er bereits wusste, was er ahnte und was er befürchtete, schlug ich den irrationalen ein.

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich im weltweiten Netz. Ich fragte meine Freunde in Facebook, was ihnen zu einer Leiche einfalle, die sich auf einer Wasserburg in einem verschlossenen Zimmer befand. Geheimtüren nicht bekannt, der Weg durch die Fenster nachweislich unmöglich, weil das Eis des Wassergrabens andernfalls hätte beschädigt sein müssen, der Weg durch die Tür ebenfalls verwehrt, weil die Füße des Toten sie versperrten.

Und ich fand heraus, dass es sich bei dem Flugzeugabsturz, von dessen spukhaften Begleiterscheinungen die junge Staatsanwältin erzählt hatte, um den von 1991 im Westen Thailands handeln musste. Am 26. Mai hatte sich bei einer Boeing von Lauda-Air nahe Bangkok wegen eines Systemfehlers beim Steigflug die Schubumkehr eingeschaltet. Die Maschine stürzte ab, alle 213 Insassen kamen ums Leben. Unter den Passagieren hatten sich hauptsächlich Österreicher, aber auch Deutsche befunden, denn das Flugzeug war auf dem Weg von Bangkok nach Wien gewesen. Ich stutzte. Hatte die junge Staatsanwältin uns nicht erzählt, die Maschine sei auf dem Flug nach Bangkok abgestürzt? Ein Erinnerungsfehler, der zur Schubumkehr für die ganze Geschichte wurde. Denn damit hatte die Tochter der verunglückten Familie nicht drei Nächte vor dem Unglück irgendwas geträumt, sondern – je nach Länge des Urlaubs – ein oder mehrere Wochen vorher.

Ich dachte an Karin Beckers Erkenntnis, dass sich bei all diesen Geschichten über seltsame Ereignisse die realen Daten in vielfältigen Widerspruch zueinander begaben und die Kraft des Narrativen die Regie übernahm.

Doch warum tradierte man in der Familie der jungen Staatsanwältin die Legende vom vorher geträumten Unglück? Am meisten aufgeregt hatte sie sich, als Richard in Zweifel zog, dass die Mutter wirklich die Frage gestellt hatte, ob die Schwägerin keine Angst habe, der Traum der Tochter könne sich bewahrheiten. Und ich wusste auf einmal, was er gemeint hatte: Schuldgefühle! Hinterbliebene neigen zu Schuldgefühlen, wenn ein Angehöriger stirbt. Die Mutter der jungen Staatsanwältin hatte sich auf originelle Weise schuldfrei gestellt. Sie hatte es gesagt, hatte den Bruder mit Hilfe der Schwägerin zu warnen versucht. Ja, hätte man nur auf sie gehört!

»Wie hieß eigentlich diese junge Staatsanwältin?«, fragte ich Richard, als er am Abend bei mir eintrudelte.

»Nadja Locher«, antwortete er. »Warum?«

»Das mit dem Flugzeugabsturz war doch ziemlich anders, als sie es in Erinnerung hat.«

Er nickte nur, langte mir um die Hüften und zog mich an sich. So nah besehen, zerfiel die milchkaffeebraune Iris seiner Augen in goldbraune radiale Streifen mit grünen und rotbraunen Einsprengseln. Man konnte erkennen, dass die Asymmetrie seines Blicks daher rührte, dass sein linkes Augenlid hing, was er auf eine Ohrfeige seines Vaters und eine partiale Lähmung zurückführte.

»Lisa«, sagte er und tippte mir gegen die Stirn. »Ich kann deine Gedanken lesen. Du willst, dass ich Einblick in die Dokumentation der Kalteneck-Experimente verlange.«

»So ungefähr.« Eigentlich wollte ich jetzt, dass wir nach Neuschwanstein fuhren.

»Aber man wird sie mir nicht gewähren, Lisa. Das weißt du. Ich bin durch nichts autorisiert.«

»Schick die Steuerfahndung hin.«

»Dazu gibt es keinen Anlass. Die Buchführung des Instituts ist glasklar und wegen ein paar vielleicht zu viel abgerechneter Klopapierrollen beantragt man keinen Durchsuchungsbeschluss.« Er hatte es sich also auch schon überlegt.

»Und die Stiftung?«, schlug ich vor. »Stiftungen haben einen Briefkasten in Liechtenstein und sind Steuerhinterziehungs­modelle.« Ich knibbelte den obersten Knopf seiner Weste auf.

»Diese nicht. Sie hat ihren Briefkasten in der Elbchaussee in Hamburg-Blankenese.«

»Und wer beaufsichtigt sie?«

»In Hamburg ist es die Justizbehörde. Ich habe mir die Unterlagen bereits schicken lassen.«

Brav. Ich knöpfte mich bis zum Gürtel hinunter.

»Der Satzung zufolge«, sagte er, »leistet die Edmund-Gurney-Stiftung Anschubfinanzierung für Projekte im Bereich der parapsychologischen Forschung, die ohne private Unterstützung nicht möglich wären, insoweit diese eine gewisse Aussicht eröffnen, die Existenz paranormaler Phänomene zu belegen oder zu beweisen.«

Juristische Satzschrauben gingen ihm immer locker von der Zunge.

»Sie schreibt europaweit Forschungsstipendien aus. Im vergangenen Jahr haben sechzehn Wissenschaftler von einschlägigen Instituten einen Antrag gestellt, vierzehn sind bewilligt worden, darunter eine Reise von Dr. Derya Barzani aus dem Insti­tut in Holzgerlingen ins südtürkische Hatay zur Untersuchung eines Reinkarnationsfalls bei den dort lebenden Aleviten.«

»Einer Wiedergeburt? Schräg!«

»Ja, anders als die Moslems glauben die Aleviten wie die Inder an die Seelenwanderung. Die Rechenschaftsberichte des Stiftungsvorstands an die Stiftungsaufsicht sehen über die Jahre immer ähnlich aus. Fünf Millionen Vermögen, Ausgaben in Höhe von rund anderthalb Millionen, denen Einnahmen aus Aktienfonds und einige kleinere Spenden in ähnlicher Höhe gegenüberstehen, so dass am Jahresende immer wieder eine 5 vorne steht. Alles sehr solide, Lisa. Sehr solide.«

»Und wer hat die Stiftung gegründet?«

»Gegründet wurde sie 1989 mit einer Einlage von damals 900 000 D-Mark aus dem Erbe einer Hamburgerin und Anhängerin des Spiritismus, der auch die Villa an der Elbchaussee gehörte. Die Einlage wurde 1997 aus dem Privatvermögen des Stiftungsvorsitzenden auf drei Millionen und 2009 durch eine Spende von Inter-Q-Orporate in Berlin auf die heutigen fünf Millionen erhöht. IQO vertreibt Kommunikationssysteme und ist eine Tochter des Flugzeug- und Rüstungskonzerns QarQ.«

»Oha!«

»Ja, Lisa.« Die Krawatte fuhr wie eine Schlange aus seinem Kragen. »Das sind die Bösen.«

Solche Abkürzungen zur Klassifizierung hochkomplexer wirtschaftlicher Verflechtungen erlaubte Richard sich selten. Aber QarQ war ein Sonderfall. Erst kürzlich hatte der Artikel eines Zeitungsjournalisten Aufsehen erregt, der in Spanien ein Tochterunternehmen von QarQ aufgespürt hatte, das Streubomben fertigte und an Despoten lieferte, die ihre Armeen bevorzugt die eigene Bevölkerung massakrieren ließen. Derzeit gerade in der arabischen Welt.

»Und warum gibt eine solche Firma Geld für parapsychologische Studien her?«, fragte ich. »Auch wenn zwei Millionen eher wenig sind.«

»Das hat der US-Flugzeugbauer Boeing schon in den dreißiger Jahren getan. Man wollte herausfinden, ob ein Mensch die In­strumente im Cockpit mental beeinflussen könnte.«

Ich zupfte ihm das Hemd aus dem Hosenbund. »Und ein Unternehmen wie QarQ, das sich mit Weltherrschaftsinstrumenten wie Internetkommunikation und Kriegstechnik befasst, will nun auch wissen, ob ein Mensch ihre Systeme manipulieren könnte.«

»Oder die der Konkurrenten.« Er langte zum anderen Handgelenk und fummelte den Manschettenknopf aus der Manschette.

»Hast du schon mal mit dem Gedanken gespielt«, erkundigte ich mich, »dich sonntags etwas knopfärmer anzuziehen?«

»Wozu den Anzug für morgen auf dem Kleiderbügel mitbringen, wenn ich ihn am Leib tragen kann.«

Knopflogisch! Ich fuhr ihm über den muskelgeribbelten Bauch. Er zuckte. Der Nachteil des Sixpacks war seine Härte, aber Richard hatte auch weiche Stellen, beispielsweise oberhalb der Hüfte. Sogar er!

Er schnurrte. »Im Kuratorium der Stiftung sitzen fünf Leute: ein Physiker, ein Chemiker, ein Psychologe, eine Krankenhausärztin, ein Neurologe und ein Betriebswirtschaftler. Als Vorstand firmiert Oiger Groschenkamp, bekannt als Börsenspekulant und Aufkäufer von Zeitungen und Fernsehsendern. Er ist der Neffe der Dame mit den spiritistischen Neigungen und hat die Villa in Blankenese geerbt. 2001 hat er Burg Kalteneck erworben und ins Stiftungsvermögen eingebracht. Groschenkamp hält Anteile bei QarQ und IQO. Andererseits vergibt er über seine Privatbank Kleinkredite an Existenzgründer und mittelständische Betriebe hauptsächlich im norddeutschen Raum.«

»Das ist aber jetzt nicht der Gute.«

Richard deutete ein Achselzucken an. »Schwer zu sagen. Es gab vor ein paar Jahren in Börsenkreisen mal ein bisschen Aufregung, weil man meinte, eine seiner Zeitungen habe das Gerücht gestreut, eine italienische Bank sei pleite, was zur Pleite dieser Bank führte. Aber dass er dahintersteckte, ließ sich nicht beweisen. Groschenkamp hat es bislang geschafft, sich so gut wie ganz aus der öffentlichen Aufmerksamkeit herauszuhalten.«

»Dann sollten wir ihn mal besuchen.«

»Dafür gibt es nicht den geringsten Grund, Lisa.«

Ich gab Richard einen Stoß gegen die Schulter. »Dann streng dich halt ein bissle an!«

Richard fing sich mit einem raschen Schritt und schnappte meine Hand. »Das tue ich ja.« Er zog mich an sich. Ein feines Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Nur Geduld.«

Richard lächelte selten und nie aus sozialtaktischen Gründen. Er gehörte zu den Männern, die bei Begrüßungen ernst blieben, insbesondere wenn sein Gegenüber mächtig war und die Geste freundlicher Unterwerfung erwartete. Richard hielt es mit Luther, er fürchtete nur Gott, und manchmal hatte ich den Verdacht, nicht einmal den. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen hatte er sich jedoch vor etlichen Jahren entschlossen, sich mir mit Haut und Haaren auszuliefern. Dabei hätte er jede haben können. Er war zwar kein schöner, aber ein attraktiver Mann, eher klein, dafür gut trainiert mit sturer Stirn, bissigem Kinn, heftiger Asymmetrie um die Augen und Zähnen, die niemals von einer Zahnspange in Reih und Glied geschraubt worden waren. Wenn er sie zeigte, war er deckungslos, und ich wusste dann wieder, warum ich den Affen im Anzug in mein Leben, meine Möse und meine Wohnung gelassen hatte. Wobei Letzteres am schwersten wog.

Sonntagabend kam er besonders gern von seiner Halbhöhe in meine verkorkste Neckarstraße herab, und nicht nur, weil er dann Montag früh nur über die Straße zu gehen brauchte, um ins Amt zu kommen, sondern vermutlich weil sich ihm die teure Jugendstilmöblierung seiner Junggesellenwohnung in der Kauzenhecke am Haigst aufs Gemüt legte.

»Warst du schon mal in Neuschwanstein?«, fragte ich.

Richard lachte.

Totensteige

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