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Ein Gespenst ging um in Stuttgart: die Bauwut. Überall verschwanden Häuser, ganze Blocks wurden zu Schutt und Staub, in den Straßen klafften Löcher, wo man gerade ein Jahr zuvor neuen Asphalt gegossen hatte, Routinegänge zum Bioladen wurden zu Slalomparcours. Auch die Gleisanlage am Stöckach unter meinem Fenster, wo die Stadtbahnen in den Osten abbogen, war eines Morgens wieder aufgerissen worden. Und jedes Mal, wenn eine Stadtbahn kam oder fuhr, stieß ein Bauarbeiter ins Signalhorn, damit die Kollegen aus den Gleisen treten konnten. Das Getröte begann morgens um sieben und wiederholte sich alle fünf bis sieben Minuten. Schon Viertel vor acht war wieder Ruhe, weil Vesperpause, ich aber wach. Eines Tages werde ich aus meinem Küchenfenster auf den Stöckach schauen, und der Hochbahnsteig ist weg, das Zeppelingymnasium von der Abrissbirne zu Staub gekloppt und der Bunker der Staatsanwaltschaft eingeebnet.

Ich fuhr raus aus dem Krach und Staub über den Riegel der Schwäbischen Alb durch Trochtelfingen nach Sigmaringen und fragte mich in der Altstadt auf dem Hügel rund ums Schloss herum durch Bäckereien, Metzger, Friseurläden bis in die Nachbarschaft des Hauses, in dem die Adoptiveltern von Juri Katzenjacob gelebt hatten. Ein Metzger erzählte mir, der Juri habe eine Lehre bei ihm begonnen, sei aber immer unpünktlich gewesen. Davon, dass er leidenschaftlich gern Viecher ausnahm, habe er nichts bemerkt, er habe aber ordentlich zupacken können und gegen das Töten nichts gehabt. Er habe sich dann aber immer wieder für länger krankgemeldet. Angeblich Allergie. Mit dem Kerle habe was nicht gestimmt. Angeblich habe es Schwierigkeiten daheim gegeben, er habe sich dann verliebt und sei mit 18 ausgezogen. »Bei Adoptivkindern weiß ma halt id, was ma krieget. Wer weiß, was der Kerle in Rumänien schon elles erlebet hätt.«

In der Nachbarschaft lebte auch ein inzwischen pensionierter Hauptschullehrer. Der hatte den Journalisten gleich nach der Verhaftung erzählt, dass Juri schon als Kind seine Stallhasen gestohlen habe, später habe er sie völlig zerfleddert gefunden. Das sei mehr als nur ein Bubenstreich gewesen. Der Junge sei krank, das habe er immer schon gefunden. »Übrigens ein schlauer Bub, aber jesusmäßig faul, und zwar im Kopf faul. Keine Lust zu denken, wie bei allen jungen Leuten. Die daddeln sich das Hirn weg an den Computern. Wenn der Juri sich nur ein bisschen angestrengt hätte, dann hätte er auch das Abitur geschafft und studieren können.«

Ins Schwäbische Allgäu hinüber brauchte ich anderthalb Stunden. Die Sonne warf schon sehr lange Schatten, als ich meine Charlotte ein paar Kilometer von Wangen im Allgäu in dem Ort namens Sommers abstellte und die Landstraße entlangspazierte, wo Juris Adoptiveltern den Tod gefunden hatten. Das Schild mit der Aufschrift »Totensteige« wies in einen Feldweg, der zwischen Maisanbau einen Hang hinauf in den Himmel führte. Hier musste es passiert sein. Warum, verriet die sanft geschwungene, etwas abschüssige Straße nicht. Charlotte hatte währenddessen einigen älteren Herren schöne Augen gemacht und ließ sich vom Dorfvolk bewundern. Einer der Männer erinnerte sich an den Unfall. Er deutete in die Senke. »Die send von außerhalb gsi. Wahrscheins hat die Sonn sie blendet. Da hats die neibetschet. Sofort tot.«

Das brachte alles nicht viel.

Ich rief beim Hamburger Abendblatt an. Nach einigen »Ich stell Sie mal durch« hatte ich einen Lokalreporter dran, der Oiger Groschenkamp kannte. »Ja, er legt größten Wert darauf, dass er auf keinem Foto drauf ist. Und wir dürfen ihn in keinem Artikel namentlich nennen. Er sei nicht wichtig, erklärt er. Er lehnt auch jede Ehrung ab. Er tut ja viel für sozial Schwächere, er vergibt Kleinkredite.« Der Reporter beschrieb Groschenkamp als unauffälligen Mann um die achtzig. »Es geht übrigens die Rede, er leide unter Agoraphobie. Aber bestätigen kann ich das nicht.« Über die Edmund-Gurney-Stiftung wusste der Reporter nichts. »Ich glaube, ich weiß, welche Villa an der Elbchaussee das ist. Sie hat auffällig viele Blitzableiter, sie ist förmlich überzogen damit.«

Ich bedankte mich, holte mir von der Seite der Koestler Para­psychology Unit in Edinburgh die E-Mail-Adresse von Prof. Dr. Finley McPierson und schickte ihm eine journalistische Interviewanfrage für ein Buchprojekt über die Parapsychologie zwischen Gauklerei und Quantenphysik.

Beim Senden brachte mir mein Mailprogramm die Anfrage der Chefredakteurin der Sonntagsbeilage, ob mein Artikel über Parapsychologie bis Donnerstag fertig werde. Man wolle ihn nun am Sonntag endlich mal bringen.

Ich sagte zu und flüchtete in Recherchen über die Edmund-Gurney-Stiftung und das Kalteneck-Experiment, fand aber nichts. Also begab ich mich auf die elegante und mit bläulichen Bildern von Frieden und Freiheit durch technischen Fortschritt bestückte Netzseite von QarQ. Unter dem Link Presse verbarg sich wie bei Industriekonzernen üblich nicht die Presseabteilung, sondern eine Sammlung von Presseartikeln über den Konzern. Erst im Impressum gab sich die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zu erkennen. An oberster Stelle von fünf Gesichtern stand ein dicklicher Jungkarrierist namens Ingmar Neuner mit E-Mail-Adresse und Telefonnummer.

Ich wählte die Nummer und meldete mich als Journalistin.

Der Chef der Pressestelle war in einer Besprechung. Worum es denn gehe, fragte mich seine Vorzimmerdame. Ich wolle Herrn Neuner fragen, erklärte ich, warum das Unternehmen die Edmund-Gurney-Stiftung unterstützt. Was für eine Stiftung? Wie die sich denn schreibe? Ich diktierte es ihr. Sie versprach, Herr Neuner werde mich baldmöglichst zurückrufen.

Heute weiß ich, dieser Tag, dessen Datum ich nicht mehr fixie­ren kann, war der point of no return. Ich hatte nach Berlin, Hamburg und Edinburgh rückverfolgbare Signale geschickt, dass in Stuttgart eine Schwabenreporterin Lisa Nerz angefangen hatte, sich für die Kalteneck-Experimente zu interessieren. Während ich die Vorschläge meiner Facebook-Gemeinde zum Problem der Leiche im verschlossenen Raum las – sie reichten von Zauberei bis lockere Latte in der Zimmerdecke – und auf den Anruf des Pressefritzen von QarQ wartete, begannen andernorts ein paar Neuronen zu funken, ein Mensch wurde nervös und nahm Kontakt mit anderen auf. Etwas Neues entstand, formierte und organisierte sich. Am Abend war angelaufen, was wir jetzt nicht mehr kontrollieren können.

Ingmar Neuner rief nach etwa einer halben Stunde an. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte er mit geölter Konzernrhetorik. »Meine Assistentin sagte mir, Sie möchten etwas über unser Engagement in der Edmund-Gurney-Stiftung wissen. Wir unterstützen diese Stiftung, das ist richtig, aber im Detail bin ich damit nicht befasst, und ich wollte mir erst die Unterlagen heraussuchen lassen. Sie möchten wissen, warum der QarQ-Konzern die parapsychologischen Forschungen unterstützt. Wir fördern vielfältige wissenschaftliche Aktivitäten, wie Sie vermutlich wissen. Im Fall der Edmund-Gurney-Stiftung handelt es sich, soweit ich das erkennen kann, um eine einmalige Zahlung in den Stiftungsfonds im Jahr 2009, die im Übrigen nicht hier im Mutterhaus geleistet wurde, sondern von unserem Tochterunternehmen Inter-Q-Orporate. Über die genauen Gründe kann also auch ich nur spekulieren. Aber wie Sie vielleicht wissen, ist Inter-Q-Orporate ein international agierendes Kommunikationsunternehmen. Und bei diesen parapsychologischen Phänomenen«, er lachte kurz, »handelt es sich gewissermaßen um einen Sonderfall der Kommunikation. Und wie gesagt, die Förderung zukunftsweisender Forschung halten wir ganz grundsätzlich für außerordentlich relevant. Wir dürfen neue Technologien und Entwicklungen nicht den Russen oder Chinesen überlassen. Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit weiterhelfen, Frau Nerz.«

Dass ich noch drankommen würde, hatte ich nicht mehr zu hoffen gewagt. »Danke«, sagte ich. »Eine Frage hätte ich noch. Die Edmund-Gurney-Stiftung hat eine Million Euro ausgelobt für denjenigen, dessen paranormale Fähigkeiten einer Überprüfung unter Laborbedingungen standhalten.«

»Wenn Sie es sagen.«

»Diese Experimente wurden im Institut für Grenzwissenschaften in Holzgerlingen durchgeführt. Das ist ein kleiner Ort bei Stuttgart.«

»Und wie kann ich Ihnen in der Frage weiterhelfen?« Seine Stimme hatte sich einen Tick bedeckt.

»Sollte diese Million eines Tages ausbezahlt werden müssen, wer bringt sie auf? Sind Sie daran beteiligt, ich meine QarQ oder Inter-Q-Orporate?«

»Da müsste ich mich kundig machen. Aber wenn diese Experimente, wie Sie eben sagten, durchgeführt wurden, dann stellt sich die Frage wohl nicht unmittelbar.«

Hui. »Sie passen aber genau auf!«

»Das ist mein Job.«

»Sicher kein einfacher Job bei einem Unternehmen wie QarQ, das ja nun hin und wieder in die Kritik gerät.«

»Wenn alle Jobs einfach sein müssten, dann säßen wir heute noch auf den Bäumen. Haben Sie sonst noch Fragen?«

So gefragt, fiel mir keine mehr ein.

»Dann darf ich Ihnen eine Frage stellen. Warum interessieren Sie sich für die Stiftung? Meine Assistentin sagte mir, Sie arbeiten für den Stuttgarter Anzeiger ?«

»Nicht direkt. Ich bin freie Journalistin.« Nicht, dass er noch in der Redaktion anrief, um sich über mich zu beschweren. »Ich arbeite an einem größeren Artikel über Parapsychologie. Er soll am Sonntag in der Sonntagsbeilage erscheinen. Wir haben hier eine Agentur, die eine Geisterbeschwörung im Schloss Ludwigsburg veranstaltet hat …«

»Ihr Interesse hat nicht zufällig etwas mit dem Tod von Professor Rosenfeld zu tun? Der ist doch aufgeklärt. Ein junger Mann sitzt in Untersuchungshaft. Und die Staatsanwaltschaft wird demnächst Anklage erheben.«

»Ach, das hat man in Berlin alles so im Detail mitbekommen?«

Zum ersten Mal kam er ins Schleudern. »Man … liest auch hier Zeitung.«

»Unsere Staatsanwaltschaft ist gerade bei diesem Fall außerordentlich zurückhaltend. Aber als Pressesprecher lesen Sie vermutlich alle lokalen Blätter.«

»Nun, nicht alle. Aber … ich habe in Hohenheim Publizistik studiert. Sie denken vermutlich, dass ich dann besser über diese Stiftung Bescheid wissen müsste. Aber sehen Sie, die Sache ist sowohl von der Summe als auch von der Thematik her ein Exot, wenn Sie so wollen. Ich persönlich glaube nicht an diesen Hokuspokus. Zudem war die Spende an die Edmund-Gurney-Stiftung einmalig und liegt drei Jahre zurück. Von einem Engagement des Konzerns beim Thema Parapsychologie kann keine Rede sein. Das interessiert uns null.«

»Es könnte Sie aber interessieren, wenn es einen gäbe, der per Geisteskraft technische Systeme beeinflussen kann.«

»Inwiefern? Helfen Sie mir auf die Sprünge, Frau Nerz. Ich fürchte, ich habe nicht genug Phantasie. Flugzeuge per Geisteskraft abstürzen lassen? Das Riesenrad in London umstürzen? Das käme Terror gleich. Und ich wüsste nicht, inwiefern das dem QarQ-Konzern von Nutzen sein sollte. Wir liefern Technik, die funktioniert, nicht solche, die havariert.«

»Na, sie funktioniert doch ganz gut, Ihre Phantasie«, sagte ich.

Ingmar Neuner lachte. Ich bedankte mich. Wir schieden.

Schluss für heute mit dem Telefonieren, fang an, den Artikel zu schreiben, sonst wird das nichts. Aber Facebook hatte noch Nachrichten für mich. Meine FreundInnen hatten die Kommentarliste unter meiner Rätselfrage nach der Leiche im geschlossenen Raum verlängert.

Steffi Pelzer-Bartosch: Wie ist das mit dem Paranuss-Psychologen, der da in dem hermetisch verschlossenen Zimmer vor sich hin gammelt? Muss ich bei Conan Doyle nachlesen? (Dir, Dora Asemwald, Axel Starke und 15 weiteren gefällt das.)

Lisa Nerz: Ihr nehmt mich nicht ernst! (Dora Asemwald, Steffi Pelzer-Bartosch, Maria Lehmann, Berufsdemonstrant Schroeder und 3 weiteren gefällt das.)

Dora Asemwald: Und wie! Die Paranuss war hier. (Peter Schlegel gefällt das.)

Dem Kommentar hatte Dora einen Link angehängt zu einem Artikel der Allgäuer Zeitung vom 7. Januar mit dem Titel: »Geisterjäger in Neuschwanstein. Auch Prof. Rosenfeld kann das Phänomen des schwingenden Leuchters nicht erklären.« Das Foto zeigte Gabriel Rosenfeld in roter Trekkingjacke vor grauen Türmen. Dem Artikel zufolge sahen immer wieder mal Touristen den Kronleuchter im Thronsaal von Neuschwanstein schwingen. Ingenieure und Mechaniker waren dem Phänomen bisher nicht auf die Spur gekommen, so hatte man den Geisterexperten Rosenfeld geholt. Oder er hatte sich von sich aus angeboten. Da legte sich der Reporter nicht so genau fest. Das fiel unter die journalistische Unschärferelation, die da lautet: Wenn etwas gut klingt, dann suche nicht nach der Wahrheit.

Natürlich hatte der Kronleuchter sich nicht bewegt, als Rosenfeld dort war. Er habe es auch nicht erwartet, hatte er hinterher gesagt, Spuk sei elusiv, er sei scheu und schwer fassbar. Man dürfe ihn sich nicht als Geisterhand denken, sondern man müsse ihn sich als den Ausschlag eines komplexen, in sich geschlossenen Systems ins Unerwartete vorstellen. Dies hatte der Journalist nicht weiter zu ergründen versucht. Der Artikel verriet auch nicht, wann genau Rosenfeld seine Feldstudien im Schloss gemacht hatte. Da er nach Dreikönig erschienen war, konnte es gut sein, dass er schon lange für die Zeit nach den Feiertagen herumgelegen hatte.

Mir klopfte das Herz. So ganz verstand ich nicht, warum. Waren es die offenen Augen in Rosenfelds freundlichem Wissenschaftlergesicht, die sein Mörder mit Paketband zugeklebt hatte? Ein heller und verhaltener Blick. Oder war es, weil Neuschwanstein schon wieder aufstieg aus der Kommunikationssoße? Dora Asemwald war ein Phantom der Facebook-Welt und definitiv nicht dabei gewesen, als Neuschwanstein beim Tischrücken auf der nächtlichen Terrasse von Monrepos zu erscheinen im Begriff gewesen war. Als ob ich in eine bestimmte Richtung geschoben werden sollte. So kam es mir vor.

Ich beschloss, Gespenst zu werden und den Schwingungen zu folgen.

Zuerst rief ich in der Redaktion der Allgäuer Zeitung an. Der Autor klang jung, schimpfte aber schon wie ein alter. Er habe nur zufällig von dem Termin erfahren, von seiner Freundin, die im Schloss Führungen mache. Irgendwann kurz nach Neujahr. Man habe die Presse offenbar nicht dabeihaben wollen. Eine Pressekonferenz sei nicht geplant gewesen. Er habe auch nicht mit hineindürfen. Eine komische Aktion. Ihm sei auch bis dato nichts von einem schwingenden Kronleuchter bekannt gewesen. Ach, der Professor sei tot, ermordet? Ja, da schau her.

Man überschätzt leicht den Wissensdurst von Journalisten.

»Rosenfeld war doch sicher in Begleitung?«, stocherte ich.

»Ja, soweit ich mich erinnere, waren es vier oder fünf Leute. Techniker, hieß es.« Nein, Fotos von der Gruppe habe er nicht gemacht, soweit er sich erinnere. Er habe ja geglaubt, er könne es dann im Schloss tun. Er könne aber noch mal nachschauen.

Die bessere Quelle für Rosenfelds Reisen war wohl Dr. Barzani in Holzgerlingen. Desirée leierte den Satz »Institut für Grenzwissenschaften und Parapsychologie, guten Tag, Sie sprechen mit Frau Motzer, was kann ich für Sie tuuuuun?« herunter.

»Mein Sonnenscheinchen, ich komme«, sagte ich und legte auf.

Charlotte Brontë flog über die Autobahn. Im Rückspiegel schoben sich die dunklen Autos mit Überholprestige von der linken auf die rechte Spur, aber ein bestimmtes, das mir folgte, konnte ich nicht ausmachen. Auf der Autobahn Richtung Böblingen und weiter Richtung Singen herrschte das enge Geschiebe eines Vormittags. An der Ausfahrt Holzgerlingen löste es sich auf. Wahrscheinlich, weil ich von der Autobahn runterfuhr. Als Gespenst löst man seltsame Phänomene aus und wundert sich nicht darüber.

Totensteige

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