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Der Begriff der Scharia
ОглавлениеDer Begriff »Scharia« wird häufig übertragen mit »islamisches Recht« oder »islamisches Gesetz«. Dies ist jedoch teilweise unzutreffend, denn dies legt nahe, dass es um einen Korpus eindeutig definierter Gesetze ginge, das durch ein gesetzgebendes Gremium erlassen worden wäre – was nicht der Fall ist.
Die Scharia umfasst sämtliche rechtlichen, mit dem Islam begründeten Regelungen für alle Lebensbereiche. Sie meint die Gesamtheit der Gebote Allahs, so wie sie im Koran und der islamischen Überlieferung niedergelegt und von maßgeblichen Theologen interpretiert wurden. Als »maßgeblich« gelten in allererster Linie Theologen aus der Zeit des 7.–10. Jahrhunderts n. Chr. Was nun der Koran jedoch genau rechtlich regeln will – lehrt er z. B. die Vielehe oder lehnt er sie gerade ab? –, darüber herrscht im Einzelfall unter Theologen durchaus Dissens, und in ihren Schriften finden sich unterschiedliche Auffassungen. Zudem gibt es zahlreiche Fälle, in denen die Überlieferung vom Koran abweichende Regelungen formuliert. Das bedeutet, dass es die Scharia als verfasstes Gesetz gar nicht geben kann.
Die Scharia behandelt gleichermaßen die vertikalen wie horizontalen Beziehungen jedes Menschen: Sie gibt Anweisungen für das ethische Verhalten in Familie und Gesellschaft (z. B. im Wirtschafts-, Erb-, Stiftungs-, Ehe- und Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Glaubensausübung und die religiösen Handlungen wie die vielen Vorschriften zu Gebet, Fasten oder Wallfahrt. Der Ablauf des täglichen rituellen Gebets ist also ebenso wenig in das Belieben des Einzelnen gestellt wie die schariarechtlich notwendigen Klauseln eines Ehevertrags, die erfüllt sein müssen, um die Ehe zu einer rechtlich »gültigen« Ehe zu machen. Maurits Berger bezeichnet die Scharia zutreffend als:
»… ein Regelwerk für alles, was sich im Leben eines Menschen ereignen kann, für all sein Verhalten und seine gesamte Lebensweise. Sie beschäftigt sich gleichermaßen mit dem richtigen Verhalten im Badezimmer wie auf dem Schlachtfeld, auf dem Markt wie in der Moschee.«2
An der Theorie der unumstößlichen Autorität der Scharia als Gottesgesetz hat sich seit ihrer Entstehung zur Frühzeit des Islam insgesamt wenig geändert, obwohl es selbstverständlich auch kritische muslimische Stimmen gibt, die nachdrücklich für eine Reform der Scharia eintreten. Dennoch sind die Scharianormen, wie sie sich als ein Grundkorpus an Bestimmungen schon in den ersten Jahrhunderten des Islam herausbildeten, in islamisch geprägten Ländern in die Gesetzgebung aufgenommen worden, dies aber in unterschiedlichem Maß.
Aber auch dort, wo dies nur teilweise der Fall war, besitzt die Scharia durch ihre gesellschaftliche Normgebung für alles Verhalten und ihren Anspruch, das eigentlich gültige, weil göttliche Gesetz zu sein, erheblichen Einfluss. Mag man sich auch an die staatlichen Gesetze (wie z. B. die in der Türkei vorgeschriebene Einehe) meistens halten, ist doch die Scharia in ihrem allumfassenden Anspruch niemals grundlegend relativiert oder von Seiten der Theologie oder Politik elementar infrage gestellt worden. Daher gilt sie auch heute vielen Menschen – darunter auch vielen Zuwanderern in westliche Länder – als der eigentliche Bezugsrahmen für ihr Leben und ihren Glauben. Eine Folge davon ist z. B., dass es – besonders im ländlichen Bereich der Türkei – sehr wohl zu den nach der Scharia gestatteten Mehrehen kommt auch, weil dies der ›gefühlten‹ Berechtigung zur Höherordnung der Scharia über jedes weltliche Gesetz entspricht.
Praktisch wird dieser Einfluss der Scharia auf das Rechtsempfinden auch z. B. im vergleichsweise säkular ausgerichteten Syrien. Dort existieren zahlreiche sogenannte »Scharia-Gruppen«, die einem Schülerkreis ergänzend zu den ›eigentlichen‹ rechtswissenschaftlichen Studien an der Universität die Anwendung der Scharia durch persönlichen Unterricht bei einer religiösen Führerpersönlichkeit vermitteln. Diese Anwendung kommt dann auch für das eigene Leben und Rechtsdenken so weit wie möglich im eigenen Umfeld zur Anwendung und schafft ein Bewusstsein, das einem Schüler eines solchen informellen Ausbildungszirkels die Scharianormen als den ›eigentlichen‹ Bezugsrahmen erscheinen lassen. Gleichzeitig besitzen die Leiter dieser Scharia-Gruppen, die Scheichs, auch öffentlichen Lehreinfluss in den Medien, an Universitäten oder als Moscheeprediger und Muftis (Rechtsgutachter). Auf diese Weise wird neben einem recht gemäßigten ›Staatsislam‹ zugleich ein konservativ-orthodoxer Islam verbreitet, der zwar nicht von allerhöchster politischer Stelle spricht (wie etwa im Iran), aber doch quer durch viele Bereiche der Gesellschaft beachtlichen Einfluss ausübt. Durch diese und andere Kanäle der Vermittlung spielt die Beschäftigung mit und die Anwendung der Scharia eine viel größere Rolle im gesellschaftlichen Leben als dies bei einem Vergleich der syrischen Gesetzgebung mit Scharianormen zunächst vermutet werden würde.3
Daher würde eine Geringschätzung der praktischen Bedeutung der Scharia in die falsche Richtung führen, auch wenn sie in zahlreichen Ländern in vielen Bereichen gar nicht oder nur äußerst begrenzt per Gesetz zur Anwendung kommt. Im Alltag sind ihre Normen durch Moscheepredigten, durch die bei Geburten, Heiraten, Trauerfeierlichkeiten, Festivitäten u. ä. zitierten Überlieferungstexte, durch Traditionen und das dadurch geprägte Rechtsempfinden in vielen Bereichen präsent, denn:
»… viele arabische Länder … (sind) in einem schwer nachvollziehbaren Ausmaße vom tradierten Schariatsrecht durchdrungen …, sodass sich für die ihm unterworfenen Muslime alle Handlungen und Lebensäußerungen in erster Linie als in sich abgestufte Formen der Erlaubt- oder Verworfenheit bei und vor Gott darstellen. Es ist das religiöse Recht der Scharia, das die kollektiven und individuellen Überzeugungen und Verhaltenserwartungen in einem für den analytischen Zugriff des westlichen Wissenschaftlers nur schwer rekonstruierbaren Maße steuert und nicht etwa ein abgekoppelt davon fassbarer Bereich von Normen des Rechts und der Moral oder einer bloß ›vernünftigen‹ Ethik, wie dies für die mehr oder weniger positivistischen Rechtsordnungen im kontinentaleuropäischen Bereich mit ihrer Trennung von Religion und Recht, Politik und Moral charakteristisch ist.«4