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Die Überlieferung

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Die zweite Quelle der Scharia ist die islamische Überlieferung, der »hadith« (arab. Überlieferung, Tradition, Bericht), »eine Art von Kommentar und Ergänzung des Koran«8. Darunter sind vor allem Berichte von und über Muhammad, seine Familie und seine Prophetengefährten zu verstehen, die in einigem Abstand von Muhammads Tod gesammelt und schriftlich niedergelegt wurden. Neben Berichten über Ereignisse aus Muhammads Zeiten enthält die Überlieferung zahlreiche Detailanweisungen zur Religionsausübung und behandelt eine Reihe von Rechtsfragen. Dieser Umstand ist mit Sicherheit Folge des Auftretens konkreter Rechtsfälle, die an Muhammad und nach seinem Tod an seine Nachfolger herangetragen wurden.

Während muslimische Gläubige in Bezug auf den nichtrechtlichen Bereich der Überlieferung lediglich aufgefordert sind, Muhammads »Gewohnheit« (arab. »sunna«) und sein Vorbild so weit wie möglich nachzuahmen, ist die Befolgung der rechtlichen Bestimmungen der Überlieferung unbedingte Pflicht. Wenn daher die Überlieferung berichtet, Muhammad habe einen Bart getragen, dann gilt dies als »sunna« (nachzuahmende Gewohnheit) für Männer, um Muhammads Vorbild nachzueifern, denn der Gläubige zeigt damit seine »Liebe zum Propheten«9. Wer es jedoch nicht tut, macht sich keiner Straftat und keiner Sünde schuldig, denn es geht nicht um ein Gesetz oder eine rechtsverbindliche Vorschrift.

Anders liegen die Dinge in Rechtsfragen: Wo die Überlieferung zu Rechtsfragen konkret Stellung bezieht (z. B. zum Scheidungsrecht), hat sie ebenso große Autorität wie der Korantext selbst, ja soll sogar nach überwiegender Auffassung diesem vorgezogen werden, sofern sie anderslautende, gewichtige Aussagen macht. So vertrat z. B. der sicher bedeutendste muslimische Jurist der islamischen Frühzeit, der »Vater der islamischen Rechtswissenschaft«10, ash-Shafi‘i (767–820 n. Chr.), dass der Koran durch die Überlieferung ausgelegt werde (nicht umgekehrt!).11 Ash-Shafi‘i betrachtete die Rechtsurteile Muhammads – die zahlenmäßig häufiger in der Überlieferung niedergelegt sind – als göttlich inspiriert und daher für alle Zeit bindend für die islamische Gemeinschaft.12 Da zudem einzelne Berichte der Überlieferung im Alltag häufiger tradiert werden und als Kulturgut insgesamt besser bekannt sind als der in seiner spezifischen Sprache oft nicht leicht verständliche Korantext, besitzt die Überlieferung in der Praxis erheblichen Einfluss auf das allgemeine Rechtsbewusstsein.

Ergänzend muss erwähnt werden, dass es sich bei »der Überlieferung« nicht um einen einzelnen Text handelt, sondern – im sunnitischen Bereich – um sechs als autoritativ anerkannte, umfangreiche Sammlungen unterschiedlicher Autoren mit mehreren zehntausend Einzeltexten zu zahlreichen Themen, die wiederum untereinander Unterschiede, ja sogar Widersprüche in rechtlichen Aussagen erkennen lassen.

In der Überlieferung finden sich zahlreiche Ausführungsbestimmungen zu den manchmal knappen koranischen Anweisungen wie etwa zum Ehe- und Familienrecht. Es ist die Überlieferung, die recht unmissverständlich und mehrfach berichtet, dass Muhammad Abtrünnige vom Islam zum Tod verurteilte, während der Koran selbst keinen derartigen Bericht enthält. Vor allem aufgrund der Überlieferungstexte ist die Forderung der Scharia nach der Todesstrafe für Abgefallene (Konvertiten) unter Theologen aller vier sunnitischen sowie der schiitischen Rechtsschule weitestgehend unstrittig – wobei in der Praxis Apostasiefälle nur höchst selten vor Gericht verhandelt werden. Das ändert aber nichts an der prinzipiellen rechtlichen Gültigkeit und Akzeptanz dieser Schariabestimmung.

Wer den rechtlichen Regelungen der Überlieferung nicht Folge leistet, begeht sowohl eine Sünde als auch eine Straftat (z. B. indem er zwei Schwestern heiratet und damit eine nach der Scharia verbotene Form der Eheschließung vollzieht). Auch wenn der Korantext festlegt, dass erst die gleichlautenden Zeugenaussagen zweier Frauen die Aussage eines Mannes aufwiegen (Sure 2,282), dann mögen das viele Muslime heute als ungerecht und nicht zeitbedingt beurteilen, aber trotzdem fand dieses Prinzip in den Gesetzeskodifikationen einiger islamischer Länder – wie z. B. im Strafgesetzbuch des Iran – seinen Niederschlag. Obwohl deshalb noch lange nicht »die Scharia« als ganze in einem solchen Land zur Anwendung kommt, ist unübersehbar, dass die in den religiösen Quellentexten verankerten Bestimmungen für die heutige Gesetzgebung einzelner Länder nicht ohne Bedeutung sind.

Wenn also der Koran nach überwiegender Auffassung die Polygamie ebenso gestattet (Sure 4,3) wie die Weisungsbefugnis des Ehemanns über seine Frau – u. U. bis zu ihrer »maßvollen« Züchtigung (4,34) –, dann sind dies nicht vor allem kulturbedingte und heute zu revidierende Auffassungen des 7. Jahrhunderts n. Chr., sondern sollten nach Auffassung längst nicht aller, aber doch heute einer insgesamt zunehmenden Anzahl von Muslimen als göttliche Gebote ihren Niederschlag in der heutigen Gesetzgebung muslimischer Länder finden. Denn, so lautet eine in der jüngeren Vergangenheit häufig vorgebrachte Forderung, nicht die Scharia müsse modernisiert, sondern die Moderne an der Scharia ausgerichtet werden.13

Frauen- wie Menschenrechtsorganisationen in islamischen Ländern protestieren vehement gegen solcherart ›zeitlos‹, historisch unreflektierte Generalanwendungen eines (Koran-)Textes aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. Die Problematik besteht jedoch darin, dass bei einer insgesamt fehlenden historischkritischen Aufarbeitung der islamischen Geschichte und Theologie der Ruf nach einer modernen Auslegung schnell in den Bereich des Vorwurfs der »Ketzerei« oder des »Unglaubens« gerät und die Reformer in den Augen vieler Traditionalisten als »unislamisch« diskreditiert.

Die Scharia

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