Читать книгу Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen - Christoph Keller - Страница 58
b) Sachliche Zuständigkeit
ОглавлениеDie sachliche Zuständigkeit könnte sich aus § 1 Abs. 1 Satz 1 und 3 PolG NRW i. V. m. § 11 Abs. 1 Nr. 1 POG NRW ergeben. § 1 PolG NRW ist die Generalklausel des Polizeiaufgabenrechts. Sie statuiert den allgemeinen Grundsatz der polizeilichen Aufgabenzuweisung, gilt als solche jedoch nicht abschließend.6
Die aufgabenrechtliche Generalklausel ist in mehrfacher Hinsicht eine subsidiäre Regelung:
– Sie ist subsidiär gegenüber einem Anwendungsvorrang beanspruchenden höherrangigen Recht von Bund (Art. 31 GG) und EU
– Sie ist subsidiär gegenüber gesetzlichen Spezialregelungen des Landesrechts7
– Sie ist subsidiär gegenüber aufgabenbezogenen Spezialregelungen im PolG NRW selbst.8
§ 11 Abs. 1 Nr. 1 POG NRW weist die Aufgabe der Gefahrenabwehr den Kreispolizeibehörden zu.9 Die eingreifenden Polizeibeamten mussten demnach Beamte einer Kreispolizeibehörde (§ 2 POG NRW) sein. Mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt ist hiervon auszugehen. Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Nr. 1 POG NRW lagen demnach vor. Gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW hat die Polizei die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Gefahrenabwehr).
BVerwG, Urt. v. 26.2.1974 – I C 31/72, NJW 1974, 807
Eine Gefahr liegt vor, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehen mit Wahrscheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut schädigen wird.
Gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW hat die Polizei die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Gefahrenabwehr). Gefahr ist eine Sachlage, die einen Schaden für die öffentliche Sicherheit erwarten lässt. Das Rechtsgut der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Ehre, Freiheit und Vermögen der Bürger, die Unverletzlichkeit des Staates, seiner Einrichtungen und Veranstaltungen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung. Die öffentliche Ordnung wird als Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln angesehen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten Zusammenlebens innerhalb eines Gebiets angesehen wird.10
Klausurhinweis: Nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, ob das Vorliegen einer Gefahr schon bei der Feststellung der Zuständigkeit nach § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW zu prüfen ist. Ohne eine Gefahr handelt die Polizei nicht zur Gefahrenabwehr, auf der anderen Seite würde eine Erörterung der vielschichtigen Anforderungen einer Gefahrenlage unter dem Prüfungspunkt „Zuständigkeit“ Aspekte, die erst in der materiellen Rechtmäßigkeitsprüfung unter dem Punkt „tatbestandliche Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage“ zu behandeln sind, vorziehen. Überdies gibt es Ermächtigungen, die keine Gefahrenlage voraussetzen, gleichwohl aber zu Maßnahmen ermächtigen (z. B. § 12 Abs. 1 Nr. 2a PolG NRW). Entgegen der hier favorisierten Lösung ist es somit vertretbar, bei der sachlichen Zuständigkeit lediglich auf den präventiven Charakter des Handlungswillens der Polizeibeamten abzustellen.11 Verfehlt wäre es indes, innerhalb der – zumeist unproblematischen – Zuständigkeitsprüfung – eingehend darzulegen, dass eine konkrete oder gar qualifizierte (z. B. gegenwärtige) Gefahr vorliegt. Eine solche Erörterung wirkt besonders befremdlich, wenn die spätere Eingriffsnorm überhaupt keine konkrete Gefahr voraussetzt (z. B. § 12 Abs.1 Nr. 2a PolG NRW).12
Im vorliegenden Sachverhalt stand schon ein Zimmer des Altenheimes in Flammen. Die Gefahr für zumindest die Einrichtung, also die Sachwerte, war schon realisiert. Im Heim befand sich eine unbekannte Zahl von Bewohnern, denen der Fluchtweg durch den Mittelgang versperrt war. Die Gefahr, dass die eingeschlossenen Heimbewohner körperlichen Schaden erleiden könnten, war gerade angesichts des körperlichen Zustandes der meist älteren Leute unmittelbar bevorstehend. Somit lag eine Gefahr sowohl für das Eigentum als auch für die körperliche Unversehrtheit der Heimbewohner vor.
Klausurhinweis: In der eingriffsrechtlichen Fallbearbeitung sind alle in Betracht kommenden Aspekte zu erörtern. Häufig verstößt ein Verhalten gegen (mehrere, vollständig zu nennende) Normen der objektiven Rechtsordnung und beeinträchtigt zugleich Individualrechtsgüter. Zwar würde ein mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohender Schaden (bzw. eine bestehende Störung) für ein geschütztes Gut ausreichen, eine Gefahr zu begründen. Es kann jedoch für die Verhältnismäßigkeitserwägungen relevant sein, ob etwa neben eine Normverletzung zusätzlich die Gefährdung eines hochrangigen Rechtsgutes tritt (zum Verhältnis der öffentlichen Sicherheit zur öffentlichen Ordnung). Vorrangig sollten allerdings Verstöße gegen die objektive Rechtsordnung untersucht werden, zumal dies aus prüfungstaktischen Gründen eine Subsumtion unter die Voraussetzungen der möglicherweise verletzten Rechtsnorm ermöglicht.13
Unstreitig ist bei einer hinzutretenden Fremdgefährdung das Interesse des Staates an gefahrenabwehrendem Handeln gegeben. Die Ursache für die Fremdgefährdung ist dann zweitrangig (durch andere Personen oder durch sonstige Gefahrenquellen, z. B. Brandgefahr). Es besteht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Öffentliches Interesse ist vorliegend gegeben. Die Beamten wurden zur Abwehr dieser Gefahren tätig. Sie waren somit nach § 1 Abs. 1 Satz 1, 3 PolG NRW sachlich subsidiär zuständig. Der in § 1 Abs. 1 Satz 4 PolG NRW auferlegten Pflicht zur Benachrichtigung der originär zuständigen Behörden kamen die Beamten durch den Anruf bei der Feuerwehr nach.
Das PolG NRW folgt dem Grundsatz, dass Gefahrenabwehr primär den dafür zuständigen Behörden der allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsverwaltung obliegt. Das Gefahrenabwehrrecht von Nordrhein-Westfalen zeichnet sich durch eine formelle und materielle Trennung von Polizei und Ordnungsbehörden aus.14 Die Regelungen der jeweiligen Aufgaben und Befugnisse finden sich in unterschiedlichen Gesetzen: einerseits im Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) sowie andererseits im Gesetz über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden (OBG NRW). Dabei ist von einem grundsätzlichen Vorrang des ordnungsbehördlichen Handelns auszugehen. Die Polizei wird in der Regel erst dann tätig, wenn ein Handeln der anderen Gefahrenabwehrbehörden nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint (§ 1 Abs. 1 Satz 3 PolG NRW: Grundsatz der Subsidiarität). Dieses Prinzip der Eilzuständigkeit wird auch als „Recht zum ersten Zugriff“ bezeichnet, obwohl sich hieraus keine formelle Berechtigung gegenüber der an sich zuständigen Behörde ergibt.15 Allerdings wird der häufig zu lesende Hinweis, die Polizei sei hier nur in „Eil- und Notfällen“ zum Handeln berufen, der Realität polizeilicher Einsätze nicht gerecht: Meist ergibt sich die Zuständigkeit schon allein daraus, dass die Polizei als erste Gefahrenabwehrbehörde vor Ort ist. Nur wenn das Eintreffen der Ordnungsbehörden abgewartet werden kann, hat die Polizei in diesem „subsidiären“ Handlungsfeld die Ordnungsbehörden gem. § 1 Abs. 1 Satz 4 PolG NRW unverzüglich von allen Vorgängen zu unterrichten, die deren Eingreifen erfordern.16 Diese Unterrichtungspflicht ergänzt die Regeln über das Verhältnis der Polizei zu den anderen Behörden der Gefahrenabwehr, um einen möglichst lückenlosen Schutz der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten, der unter Zuständigkeitsabgrenzungen mehrerer Behörden nicht leiden soll. Die Unterrichtungspflicht besteht nur bei solchen Vorgängen, die ein weiteres Tätigwerden der in erster Linie zuständigen Behörde erfordern.
Auf der Grundlage des § 1 Abs. 1 Satz 4 PolG NRW ist die Unterrichtung aber nur insoweit zulässig, als sachbezogene Daten mitgeteilt werden. Zur Übermittlung personenbezogener Daten bedarf es einer speziellen Ermächtigungsnorm (§ 27 PolG NRW).17