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Julius wartete auf Zelma Staub vor dem Theater am Bülowplatz, einem schäbig aussehenden Etablissement mit bröckelnder Fassade, in dem sie arbeitete. Sie war während des Kriegs mit Luisa befreundet gewesen und auch dann noch zu ihren Feiern gekommen, als Luisas Zuneigung schon vergangen war. Ihre Rolle war es gewesen, die schmutzigen Gläser einzusammeln und verständnisvoll zu nicken, wenn Männer ihr von anderen Frauen erzählten. Ihr Mantel war schäbig, ihr gefärbtes Haar am Ansatz grau. Sie wusste nichts von Luisas und Julius’ Trennung. Als Julius sie fragte, ob er sie zum Essen einladen dürfe, zögerte sie.

»Sie kannten sie«, sagte er. »Das hilft.«

Sie gingen in ein Café in der Nähe. Zelma aß schnell und legte die Hände um ihren Teller, als hätte sie Angst, jemand könnte ihn ihr wegnehmen. Als Julius auf die alten Zeiten zu sprechen kam, entspannten sich ihre Gesichtszüge.

»Der Abend von Luisas Geburtstag, erinnern Sie sich noch?«, fragte er. Luisa hatte ihm die Geschichte so oft erzählt, dass er das Gefühl hatte, selbst dabei gewesen zu sein. »Als dieser Freund von Luisa Gitarre spielte und der andere Mann dazu sang? Himmel, wie hieß er noch mal?«

»Pieter Placzek. Er soll jetzt im Radio singen.«

»Placzek, genau. Er hat Luisa ein Ständchen gebracht, und alle waren zu Tränen gerührt, erinnern Sie sich? Alle bis auf den Freund, mit dem er da war, groß, blond, jungenhafte Züge …«

»Der Schriftsteller?«

»Sein Name fällt mir auch nicht mehr ein. Werden Sie bloß nicht so alt wie ich, Zelma, da lässt alles nach, man kann nichts dagegen tun. Conrad Soundso, oder?«

»Der einzige Schriftsteller, an den ich mich erinnere, hieß Harald.«

»Harald, natürlich. Er hat immer geprahlt, dass er eines Tages berühmter sein würde als Thomas Mann, wissen Sie noch? Vielleicht ist er es ja schon, und wir haben es nur noch nicht mitbekommen. Wir sollten uns erkundigen. Wie war noch mal sein Nachname?«

»Baeck. Harald Baeck. Obwohl ich nicht glaube, dass er schon etwas veröffentlicht hat.«

Harald Baeck. Julius nippte an seinem dünnen Kaffee und schluckte seine Beschämung hinunter. »Das überrascht mich nicht«, sagte er. »Dieser Mann hatte ein Herz aus Stein.«

An jenem Abend saß er lange in seinem Arbeitszimmer. Was wäre das Leben, schrieb Vincent an seinen Bruder Theo, wenn wir nicht den Mut hätten, etwas zu riskieren? Er war der leeren Wand überdrüssig, des tiefen Schmerzes, den sie in ihm hervorrief, dennoch konnte er nicht aufhören, sie anzustarren. Jede Einzelheit des Gemäldes hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt: das fedrige Gekräusel von Vincents zerzaustem Bart, der grüne Streifen entlang des Nasenrückens, der blaue Schatten unter den Augen, genauso hingestrichelt wie das Gewirr sich überschneidender Pinselstriche um den Kopf herum. Er hatte versucht, stattdessen den Seurat dort aufzuhängen. Der Nagel befand sich auf der richtigen Höhe, man hätte ihn nicht versetzen müssen, doch obwohl seine Finger bereits an dem Draht auf der Rückseite der Leinwand herumnestelten, brachte er es nicht über sich. Letztendlich klingelte er nach Frau Lang und bat sie, das Bild wegzuräumen. Als sie es sah, fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf.

»Meine Güte, das ist ein Akt und nicht die Inkarnation des Teufels«, fuhr Julius sie an, woraufhin die Haushälterin das Gemälde nahm und aus dem Zimmer stiefelte, die Arme steif von sich gestreckt. Als trüge sie ein Tablett mit Fäkalien, dachte Julius mit der üblichen Mischung aus Ärger und Zerknirschung. Nachdem Frau Lang bei ihnen angefangen hatte, hatte er Luisa angefleht, sie wieder zu entlassen, doch Luisa hatte nur gelacht.

»So grausam würdest du nicht sein«, neckte sie ihn. »Weißt du denn nicht, dass sie dich anbetet?«

Davon hatte er nichts gemerkt, allerdings hatte er sich im Lauf der Jahre an sie und ihr umfangreiches Repertoire an Grimassen gewöhnt. Sie war reizbar und engstirnig und stur wie ein Esel, aber sie kannte seine Gewohnheiten und Vorlieben. Anders als Luisa verstand sie, wie wichtig ihm seine Arbeit war und dass man ihn dabei nicht ablenken oder unterbrechen durfte. Sie war zuverlässig, und sie war loyal. Nachdem Luisa ihn verlassen hatte, hatte Julius Frau Lang gefragt, ob sie zurück nach München gehen wolle, doch sie schüttelte den Kopf.

»Mein Platz ist hier«, sagte sie bestimmt. »Hier bei Ihnen.«

In dem maschinengeschriebenen Bericht von Fräulein Grüber stand, dass Harald Baeck in Friedrichshain wohnte. Er hatte kein Telefon. Das Einwohnerverzeichnis von Berlin führte ihn als Angestellten bei der Siemens-Fabrik in Spandau.

»Eine Fabrik?«, fragte Julius zweifelnd. »Sind Sie sicher, dass er unser Mann ist?«

»Ich habe angerufen, um es zu überprüfen«, entgegnete Fräulein Grüber. »Er arbeitet seit drei Jahren dort. Er schreibt Bedienungsanleitungen für Elektrogeräte.«

Die einfache Fahrt nach Siemensstadt kostete einhundertfünfzigtausend Mark. Harald Baeck sah Julius neben dem uniformierten Polizisten am Drehkreuz stehen und wurde aschfahl. Er fuhr herum und versuchte, sich einen Weg zurück durch die Schar der Passagiere zu bahnen, aber jetzt nach Dienstschluss war der Andrang zu stark. Julius drückte dem Polizisten einen Geldschein in die Hand. Dann zwängte er sich durch die Menge und legte eine Hand auf Baecks Schulter.

»Wir müssen uns unterhalten.«

Sie gingen in eine Bar in der Nähe des Bahnhofs. Julius bestellte für jeden einen Weinbrand. Baeck kippte seinen in einem Zug hinunter. Julius musste an Die Brüder Karamasow denken, an die Stelle, als Rakitin zu Mitja sagt: Ohne Gott ist also alles erlaubt, woraufhin Mitja lachend erwidert: Hast du das noch nicht gewusst? Ein kluger Mensch kann alles tun. Julius glaubte nicht an Gott. Er glaubte an die Schönheit und an das wunderbare, erhabene Streben des menschlichen Geistes. Oder zumindest hatte er früher einmal daran geglaubt.

»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagte er.

Baeck ging darauf ein. Am nächsten Tag unterzeichnete er wie vereinbart in Böhms Büro eine Erklärung, in der er angab, mit der Beklagten in der Nacht des 9. Februar 1923 in ihrer ehelichen Wohnung Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Außer bei der Bestätigung seines Namens habe Harald Baeck, wie Böhm Julius erzählte, kein einziges Wort gesagt.

Mehr Druckerpressen wurden requiriert, um Banknoten zu drucken. Es gab Gerüchte von Papierrationierungen, von Arbeitsniederlegungen und Streiks. Geisheim lud Julius zu einer Besprechung in die Redaktion der Tribüne ein und teilte ihm mit, er würde die Seitenzahl reduzieren, bis sich die Lage gebessert habe. Julius erhob keine Einwände. Es kaufte ohnehin niemand mehr eine Zeitung. Langsam ging er nach Hause, er hatte Kopfschmerzen und das Gefühl, das Hutband ziehe sich um seinen Schädel immer enger zusammen. Frau Lang riss geräuschvoll die Haustür auf.

»Er ist einfach so hereingeplatzt«, zischte sie, während sie Julius den Hut abnahm. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie nicht da sind, und da ist er einfach hereingeplatzt, als wäre er hier zu Hause.«

Julius seufzte. »Wovon reden Sie? Wer ist hereingeplatzt?«

»Ich fürchte, sie meint mich.« Rachmann stand in der Tür zum Morgensalon. »Ich weiß, ich hätte anrufen sollen, aber ich fahre morgen zurück nach Düsseldorf und wollte mich bei Ihnen bedanken. Für die Freundlichkeit, die Sie mir erwiesen haben. Ich hätte nicht auf Sie gewartet, wenn Fräulein Grüber nicht gesagt hätte, dass Sie sich vielleicht … aber wenn es gerade ungünstig ist, verstehe ich das natürlich. Solche Überfälle sind sonst nicht meine Art.« Er lächelte Julius zu, und Julius lächelte zurück, trotz seiner Kopfschmerzen. Der Eifer des Jungen und seine Verlegenheit, seine Unfähigkeit, sich zu verstellen, hatten etwas Herzerfrischendes. Neben ihm fühlte Julius sich verbraucht und verstaubt.

»Dann bin ich froh, dass Sie diesmal eine Ausnahme gemacht haben«, sagte er. »Kaffee bitte, Frau Lang, wenn Sie so nett wären.«

»Natürlich.« Frau Lang lächelte beflissen, doch Julius sah, dass sie Rachmann mit zusammengekniffenen Augen beäugte, als wäre er einer von Luisas unzivilisierten Gästen und könnte sich jeden Augenblick auf die Treppe übergeben oder mit dem Silber davonmachen.

»Und Kuchen«, fügte Julius nachdrücklich hinzu. »Wir haben doch Kuchen, oder?«

Der Kuchen glänzte goldgelb und war ordentlich mit Apfelscheiben belegt. Als Frau Lang ihn ohne viel Aufhebens auf den Tisch stellte, machte Rachmann große Augen wie ein Kind. In den Berliner Bäckereien gab es jetzt keinen Kuchen mehr zu kaufen. Julius schnitt ihm ein Stück ab und sah zu, wie er behutsam jeden einzelnen Krümel verspeiste.

Sie unterhielten sich über Kunst. Rachmanns mangelnde Bildung wurde durch seine ungeheuchelte, überschäumende Leidenschaft wettgemacht. Er habe sich in dem holländischen Städtchen Haarlem unweit der Küste zum ersten Mal und dann immer wieder aufs Neue in die Porträts von Franz Hals und in den Duft des Meers verliebt. Er war damals acht Jahre alt gewesen.

»Obwohl ich das mit Hals wohl gar nicht zugeben sollte«, schob er hinterher. »Nicht wenn mir daran liegt, dass Sie eine gute Meinung von mir haben. Ich sollte lügen und sagen, es sei Rembrandt gewesen.«

Julius lächelte. »Vielleicht, aber ich würde merken, dass Sie gelogen haben. Rembrandt ist der größere Künstler, das ist wohl wahr, aber sein Werk hat etwas Düsteres, es hält uns unsere Sterblichkeit vor Augen. Bei Hals hingegen dreht sich alles um das Diesseits, um die Lebendigkeit, sein impulsiver Pinselstrich ist wie eine Lachsalve. Ein Kind entscheidet sich natürlich für Hals. Es ist eine Frage der Stimmlage, Hals ist Sopran und Rembrandt Bass.«

»Das trifft es«, sagte Rachmann und lachte entzückt. »Das trifft es auf den Punkt.«

Bis zu jenem Nachmittag hatte Julius nicht gewusst, dass er Nostalgie für etwas empfinden konnte, was erst noch kommen würde. An jenem Nachmittag sah er zum ersten Mal seinen Sohn dort sitzen, wo Rachmann jetzt saß, mit hingerissener Miene, den Kopf voller Ideen, die Julius mit Bedacht dort eingepflanzt und eifrig gehegt hatte. Als der Junge zur Welt kam, war es mehr eine Spielerei gewesen, über Orte und Kunstwerke nachzudenken, die die Phantasie eines Kindes am besten anregten und sein ästhetisches Feingefühl förderten. Er nahm die Tierbilder ab, die Luisa im Kinderzimmer aufgehängt hatte, und ersetzte sie durch zwei Aquarelle von Pissarro, eine Bäuerin in blauer Schürze und eine zweite, die ihre Haare flocht.

»Warum kümmert dich das überhaupt?«, wandte Luisa ein, doch er bestand darauf. Ein Kind war noch formbar, wie Ton. Er würde nicht zulassen, dass sein Sohn durch etwas verrohte, das brutal, geistlos und hässlich war.

Was für eine Hoffnung hatte der Junge jetzt noch, abgeschottet in München bei Luisas Eltern? Sie würden dem Jungen eine bayerische Provinzialität einimpfen, ihn mit Böcklin-Reproduktionen, Lederhosen und rabiaten Spielen im Freien ersticken. Julius war in Gesellschaft solcher Jungen aufgewachsen. Er hatte sie alle verachtet.

Er zeigte Rachmann van Goghs Zeichnung des Mädchens in der gestreiften Jacke, von Vincent La Mousmé genannt, als Frau Lang an die Tür klopfte. Er hatte gar nicht gemerkt, wie spät es schon war. Widerstrebend legte Rachmann die Zeichnung nieder, als könnte er sich nur schwer davon trennen.

»Überfallen Sie mich doch bald einmal wieder«, sagte Julius beim Abschied, und es gab ihm ein Hochgefühl, wie das Gesicht des jungen Mannes daraufhin zu strahlen begann, wie unverhohlen er seine Freude zeigte. Julius wollte an jenem Abend zu einem Konzert in der Philharmonie, und er hätte eigentlich nach oben gehen und sich umziehen müssen, doch er blieb in seinem Arbeitszimmer, eine Hand an der Lehne des Stuhls, auf dem Rachmann gesessen hatte. Auf dem Tisch glänzte goldgelb der Apfelkuchen, umgeben von butterigen Bröseln. Julius hätte Rachmann den Kuchen mitgeben sollen, Frau Lang hätte ihm einen Korb zusammengepackt. Er hätte ihm Geld aufdrängen, ihm heimlich ein paar Scheine in die Jackentasche stecken sollen. Von nur einem Dollar hätte er wochenlang leben können. Stattdessen hatte er den Jungen mit leeren Händen ziehen lassen, er, Julius, der wie König Midas von Tag zu Tag reicher wurde und dafür keinen Finger rühren musste.

Er machte sich auf den Weg zu Böhm. Es schneite ein wenig, der erste Schnee des Winters. Fröstelnd rief Julius eine Pferdedroschke. Bis vor kurzem waren Droschken ein Relikt aus vergangenen Zeiten gewesen. Jetzt sah man sie auf einmal wieder. Die Droschke war alt und klapprig, das Pferd bestand nur aus Haut und Knochen, aber Julius war trotzdem froh darüber. In Berlin war es nicht mehr sicher. Jeden Tag gab es neue Gerüchte, die einen wütenden Mob auf die Straßen trieb: dass die staatliche Arbeitslosenversicherung eingestellt werden sollte, dass die Bauern Lebensmittel horteten, dass die Wurst auf dem Fleischmarkt aus Menschenfleisch bestand. Man gab den Politikern, den Geschäftsleuten, den Juden die Schuld. Als Enkel eines Juden, der dreißig Jahre vor Julius’ Geburt zum Protestantismus konvertiert war, wusste Julius, was der Stempel »Jude« bedeuten konnte – seine mangelnde Wertschätzung der deutschen Kunst brachte ihm schon seit langem mehr oder weniger verhüllte Verunglimpfungen durch seine Kritiker ein –, doch es schockierte ihn trotzdem, wie tief der Hass saß und wie gewaltsam er hervorbrach. Im jüdischen Viertel wurden Männer mit Bärten und hohen schwarzen Hüten regelmäßig überfallen, ihrer Kleider beraubt und blutig geschlagen.

In Böhms Kanzlei brannte kein Feuer im Kamin, und im Zimmer war es so kalt, dass Julius seinen Atem sehen konnte. Er behielt seinen Mantel an. Der Anwalt bat um Entschuldigung, die Zivilgerichte seien noch immer schrecklich überlastet, man habe ihm noch nicht einmal ein Datum für eine erste Anhörung genannt, aber Julius war nicht wegen der Scheidung hier. Er erklärte Böhm, er wolle Vorsorge für seinen Sohn treffen und eine Treuhandschaft für ihn bis zu seiner Volljährigkeit einrichten.

»Sie wollen ihn absichern?«, entgegnete Böhm zweifelnd. »Mit Geld?«

Julius nickte. Kaum jemand in Berlin bezahlte noch mit Geld. Die Preise waren Phantasiepreise – ein einzelnes Streichholz für 900 Millionen Mark – und änderten sich sechsmal täglich, man hatte nie genug Bares dabei. In dem Kino neben Böhms Kanzlei stand auf dem Schild an der Kasse: Eintritt: zwei Stück Kohle. Die berühmtesten Ärzte Berlins ließen sich in Form von Lebensmitteln bezahlen.

»Eintausend amerikanische Dollar«, sagte Julius. »Ich möchte, dass er frei ist.«

»Dann kaufen Sie ihm ein Haus. Kaufen Sie ihm zwei Häuser. Eine Sachanlage, die im Wert steigt und Einnahmen bringt.«

»Sie meinen wohl, ich soll es meinen Mitbürgern stehlen? Das kann ich nicht. Und außerdem, warum sollte ich das Risiko eingehen? Wissen Sie, wie schnell der Dollar steigt? Es heißt, morgen wird er die 700-Milliarden-Marke reißen.«

Böhm gluckste. »Bei allem Respekt, Julius, Ihr Sohn ist noch nicht einmal ein Jahr alt. Glauben Sie, das wird so weitergehen, bis er einundzwanzig ist?«

Bei den Zeitungen wurde gestreikt. Die Kioske an den Straßenecken waren leer und gegen die Kälte verrammelt. Schon seit Monaten waren die Schlagzeilen düster gewesen, Julius konnte sich kaum überwinden, sie zu lesen, aber die Worte hatten wenigstens Ordnung geschaffen, das herrschende Chaos in einen Rahmen gebannt, zwischen Spalten und Absätze. Ohne sie griff der Wahnsinn um sich, breitete sich aus wie Gas. Niemand wusste mehr, was vor sich ging. Davon geht doch die Welt nicht unter, hatte ihn sein Vater angeschnauzt, wenn Julius als Kind wegen irgendeiner Kleinigkeit geweint hatte. Jetzt fühlte es sich genauso an.

Er saß gerade beim Frühstück, als das Telefon klingelte. Fräulein Grüber klopfte an die Tür des Speisezimmers. Herr Böhm wünsche ihn zu sprechen, sagte sie, und es sei dringend. Am Hörer schallte ihm Böhms heisere Stimme entgegen. Böhm fragte, ob er schon Radio gehört habe. Die Reichsbank habe endlich auf den Devisenmärkten interveniert. Für die neue Rentenmark sei ein Wechselkurs von 4,2 zum Dollar festgesetzt worden. Auf einen Streich hatte die Bank zwölf Nullen weggestrichen. Niemand konnte sagen, ob es Bestand haben würde, aber falls ja, wäre es mit der Inflation vorbei. Als Böhm auflegte, stand Julius im Morgensalon und starrte zu Boden.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Fräulein Grüber.

»Ich weiß es nicht.« Er blickte verwirrt auf den Hörer in seiner Hand, dann reichte er ihn der Stenotypistin, die ihn zurück auf die Gabel legte.

»Sie sehen aus, als wäre Ihnen nicht gut«, sagte sie. »Setzen Sie sich besser hin.«

Julius schüttelte den Kopf. Er konnte es kaum fassen. Es schien so einfach, so unwahrscheinlich zu sein wie in einem Märchen. Jemand wedelte mit dem Stift wie mit einem Zauberstab, und Simsalabim war der Irrsinn vorbei. Falls es Bestand hatte. Er richtete die Augen auf das Feuer im Kamin neben Fräulein Grübers Schreibtisch, auf die schimmernden Kohlen im Kohleneimer. Falls es Bestand hatte, war er kein reicher Mann mehr.

Er verließ das Haus. Ihm fiel nichts Besseres ein. Er ging zum Landwehrkanal und wandte sich von dort nach Westen Richtung Zoo. An einem Novembertag wie diesem, fünf Jahre zuvor, hatte Deutschland den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet, der den Krieg beendete. Es war sehr still. Die grauen Gebäude wirkten vor dem fahlen weißen Himmel wie Scherenschnitte und der Kanal wie ein Metallband, in dem sich die kahlen schwarzen Äste der Bäume spiegelten. Julius fühlte sich an eine Fotografie erinnert, es fehlte jede Farbe, und auf einmal hatte er das sichere Gefühl, dass nichts davon real war, dass er ein Darsteller in einem Film war, auf dem Weg in ein Schicksal, das ein anderer für ihn bestimmt hatte.

Er überquerte die Brücke. Auf der anderen Seite schlenderten ihm zwei Männer entgegen, ins Gespräch vertieft. Der größere der beiden redete eifrig und gestikulierte dabei. Der andere sah aus wie Rachmann. Er war es tatsächlich, wie Julius im Näherkommen feststellte, und als er seine Schritte beschleunigte, blickte Rachmann auf und erkannte ihn. Julius lächelte, doch Rachmann wandte den Kopf ab und murmelte seinem Begleiter etwas zu, der nach einem kurzen Blick zu Julius in eine Nebenstraße davoneilte. Rachmann wartete, bis er außer Sicht war. Dann drehte er sich mit ausgestreckten Armen und lächelnd zurück zu Julius. »Herr Köhler-Schultz, was für eine angenehme Überraschung. Ich hoffe, Sie entschuldigen meinen Bruder. Er hatte eine dringende Verabredung, die keinen Aufschub duldete.«

»Selbstverständlich.«

Seite an Seite standen die beiden Männer am Kanal und starrten ins dunkle Wasser. »Man erinnert sich unwillkürlich daran, nicht wahr?«, sagte Rachmann leise. »Vor fünf Jahren ist schon einmal etwas zu Ende gegangen.«

Julius nickte. Er hatte einen Kloß im Hals. »Ich weiß.«

»Seltsam, ich habe gerade an Sie gedacht. Aber ich denke immer an Sie, wenn ich hier langgehe.«

Keiner von ihnen wollte zurück an die Arbeit. Sie spazierten am Kanal entlang zurück zur Meierstraße.

»Ist das jetzt das Ende?«, fragte Rachmann. »Wird es Bestand haben?«

»Wer weiß? Wir können nur hoffen.« Böhm zufolge waren die neu ausgegebenen Geldscheine wertbeständig. Als ob irgendjemand in Deutschland noch an so etwas glaubte, und mit einem Mal war Julius nach Lachen zumute. »Hoffnung bedeutet, auch dann noch zu hoffen, wenn alles hoffnungslos scheint. Wer hat das noch mal gesagt? Jedenfalls bestimmt kein Deutscher.«

Rachmann grinste, und das merkwürdige Hochgefühl, das Julius erfasst hatte, verstärkte sich. »Ich finde, wir sollten feiern«, sagte er. »Bevor der Wahnsinn wieder anfängt.«

Zu Hause ließ er sich von Frau Lang eine Flasche von seinem besten Billecart-Salmon bringen. Seit Luisa fort war, hatte man in der Meierstraße am Vormittag keinen Champagner mehr getrunken. Schweigend stellte die Haushälterin den Sektkübel und die Gläser ab und stolzierte aus dem Zimmer. Julius brach in Lachen aus.

»Das ist alles Ihre Schuld«, sagte er zu Rachmann. »Sie üben einen schlechten Einfluss aus. In München war Frau Lang eine Stütze des Abstinenzvereins.«

»Und hier in Berlin?«

»Gibt es so etwas überhaupt in Berlin?« Immer noch lachend schälte Julius die Folie von der Flasche und drehte den Korken heraus. Er schenkte zwei Gläser ein und reichte eines davon Rachmann. »Zum Wohl. Auf das Wertbeständige, was immer das sein mag.«

»Auf das Wertbeständige. Und auf Sie, Herr Köhler-Schultz, weil Sie daran glauben.«

»Bitte, nennen Sie mich doch Julius«, entfuhr es Julius zu seiner eigenen Überraschung. »Und wir können uns auch gern duzen.«

Rachmann lächelte. »Matthias«, sagte er. Er beugte sich vor und stieß mit Julius an. Matthias, dachte Julius, während er trank, der Jünger, der auserwählt wurde, den Verräter Judas Iskariot zu ersetzen. Der Name bedeutet Geschenk Gottes.

»Obwohl ich sagen muss«, fügte Matthias scherzend hinzu, »dass ich wohl das bessere Los gezogen habe. Herr Köhler-Schultz ist schon ein ziemliches Wortungetüm.«

Julius lächelte. »Ich fürchte, daran bin ich selbst schuld. Mein Geburtsname lautet Köhler. Als ich zur Universität ging, nahm ich zum Gedenken an meine Mutter das Schultz mit dazu. Mein Vater empfand es als Kränkung, was, wie ich zu meiner Beschämung zugeben muss, wohl auch Zweck der Übung war.«

»Warst du noch jung, als deine Mutter starb?«

»So jung man nur sein kann. Sie starb bei meiner Geburt.«

»Das tut mir leid. Du fühlst dich bestimmt dafür verantwortlich.«

Julius schwieg. Wie kam es, fragte er sich, dass der Sohn eines Schmieds aus Düsseldorf in den tiefsten Winkel seines Herzens blicken konnte?

»Die Frau meines älteren Bruders starb an Kindbettfieber«, erklärte Matthias. »Es war während der Blockade, als es weder Lebensmittel noch Medikamente gab. Das Kind überlebte. Obwohl Erich seinen Sohn sehr liebt, gibt er ihm auch die Schuld. Und kann ihm selbst nach all den Jahren nicht ganz verzeihen.«

Julius dachte an seinen eigenen Vater, einen Industriellen, für den die Welt nur aus Bilanzen bestand, aus Zahlungseingängen und Verbindlichkeiten. Wäre es nach ihm gegangen, wäre Julius Maschinenbauingenieur geworden. »Ich nehme an, es wird immer etwas geben, was unsere Eltern uns nicht verzeihen können. Und was wir einmal unseren Kindern nicht verzeihen werden.«

»Leider habe ich keine Kinder, denen ich etwas verzeihen könnte«, entgegnete Matthias. »Du schon, glaube ich?«

»Ja. Einen Sohn.«

»Wie heißt er?«

»Konstantin. Er heißt Konstantin.«

»Und gibt es etwas, was du Konstantin nicht verzeihen kannst?«

Julius dachte an das Foto auf seinem Frisiertisch, an die knubbeligen Hände und die ängstliche Miene seines Sohns. »Bis jetzt nicht. Aber er ist ja auch noch nicht mal ein Jahr alt. Das hat noch reichlich Zeit.«

Matthias lächelte matt und starrte in sein Glas. »Vielleicht sollten wir uns gar nicht wünschen, dass unsere Eltern uns verzeihen. Vielleicht bringt uns gerade das Streben nach ihrer Vergebung dazu, ein gutes Leben zu führen.« Er zögerte. »Ich habe nicht gekämpft. Im Krieg. Ich wurde 1916 eingezogen, kam zu meinem Regiment, aber ich hatte … ich bin zusammengebrochen. Sie nannten es Granatenschock. Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Es gab eine Offensive, und dann war ich im Lazarett. Mein Vater hält mich für einen Feigling. Er sagt es nicht laut, aber ich weiß es. Ich habe ihn enttäuscht. Er denkt, ich habe unser Land im Stich gelassen. Das trage ich immer mit mir herum. Es ist ständig da, treibt mich an. Das Gefühl, dass ich es vielleicht wiedergutmachen kann, wenn ich mich nur genug anstrenge, wenn ich ihn stolz auf mich mache. Dass er mir dann verzeihen wird.«

»Suchst du die Vergebung deines Vaters oder deine eigene?«

Matthias schwieg. »Die meines Vaters, glaube ich«, antwortete er schließlich. »Obwohl ich weder auf das eine noch auf das andere große Hoffnung setze.«

»Du warst krank. Wie viele gute Männer. Es war nicht deine Schuld.«

»Geboren zu werden war auch nicht deine. Das verhindert bei uns beiden nicht, dass wir uns schuldig fühlen.«

Als Matthias schließlich ging, war es schon dunkel und sehr kalt. Julius kehrte nicht in sein Arbeitszimmer zurück. Er stand in der leeren Eingangshalle unter dem Vuillard, und in seinem Kopf wirbelten die Gedanken, bevor sie sich wie frischer Schnee legten.

Im gleißenden Licht der Sonne

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