Читать книгу Im gleißenden Licht der Sonne - Clare Clark - Страница 7
II
ОглавлениеWie gewöhnlich veranlasste Frau Lang alles Nötige. Der Glaser kam gleich am nächsten Morgen, bevor Julius sein Frühstück beendet hatte. Die Haushälterin führte ihn hinaus in den Garten, damit er den Schaden begutachten konnte. Ihre Stimmen drangen durch das Fenster ins Speisezimmer. Diese Strolche heutzutage, sagte der Glaser, die werden uns alle noch im Bett erschlagen, ehe man sichs versieht. Auf dem Pflaster des Gartenwegs lagen noch Glassplitter. Sie funkelten im Morgenlicht.
Julius hatte die Rosso-Büste unter einem Pfaffenhütchenstrauch gefunden, halb verdeckt wie ein verschossener Fußball. Ihr Gesicht war unversehrt. Die Skulptur starrte ihm entgegen, als er in die Hocke ging, um nach ihr zu greifen. Verschmierte Erde auf einer der bleichen Wangen, das leise Lächeln immer noch auf den Lippen. Erst als er sie hochhob, bemerkte er, dass die Rückseite des Kopfs zertrümmert war. Das fein bearbeitete Wachs hatte einen Riss, unter dem der Gipsabdruck zum Vorschein kam. Reumütig und bekümmert dachte Julius an Rosso in seinem Atelier, dessen Finger die Büste scheinbar aus Luft und Licht erschaffen hatten. Mutwillig ein Kunstwerk zu zerstören, es zerstören zu wollen – zu einer solchen Gefühllosigkeit fähig zu sein, hätte er sich niemals vorstellen können. Er hielt den Kopf behutsam in der Hand, die Finger schützend um den Riss im Schädel gelegt. Schließlich zog er ein gebügeltes Taschentuch aus der Hosentasche, wickelte es sorgsam um die Büste und trug sie ins Haus zurück.
Seit dem Vorfall war seine Scham größer geworden, sie drückte ihm wie ein Stein auf die Kehle. Er konnte kaum schlucken. Julius schob seine Kaffeetasse beiseite. In der Eingangshalle schimpfte Frau Lang leise vor sich hin, als sie ihm Hut und Mantel reichte.
»Der Glaser nagelt jetzt das Fenster zu«, sagte sie. »Obwohl ich ihm gesagt habe, er soll das lassen, Sie könnten derart eingesperrt unmöglich arbeiten, aber er meint, es geht nicht anders. Die Scheibe ist zu groß, sie muss erst bestellt werden.«
Julius ließ sich mit dem Taxi zur Kanzlei seines Anwalts bringen. Langsame Handkarren behinderten den Verkehr, und die Schaufenster der Geschäfte leuchteten im Sonnenlicht. Als er in der Invalidenstraße eintraf, spürte er erneut den Hass in sich. Er wehrte Böhms Höflichkeitsfloskeln ab und drückte ihm umstandslos Luisas Brief in die Hand. Nachdem der Anwalt ihn gelesen hatte, sah er Julius über seine Brille hinweg stirnrunzelnd an.
»Also gehört ihr das Bild gar nicht?«, fragte er. »Sie haben es ihr nicht geschenkt?«
»Natürlich nicht«, gab Julius wütend zurück. »Warum auch? Sie hat es gehasst.«
Böhm beschwichtigte ihn. Eine Ehefrau dürfe nicht einfach das Eigentum ihres Mannes an sich nehmen. Ein scharf formulierter Brief an Luisas Anwälte würde genügen, um das Gemälde sicher zurückzubringen. Und falls nicht, könne man rechtliche Schritte einleiten.
»Und was die Scheidung betrifft, würde ich dazu raten, jegliche Entscheidung aufzuschieben, bis die Sache mit dem Gemälde geklärt ist«, sagte er. »Vielleicht kommt sie ja zurück.«
»Nicht wenn ich es verhindern kann.«
»Wie dem auch sei. Mit Provokationen ist nichts gewonnen.«
Widerstrebend ließ Julius sich überzeugen. Luisa war impulsiv und unberechenbar, Gott allein wusste, was sie unternehmen würde, nur um ihn zu ärgern. Im Aufzug, während der livrierte Fahrstuhlführer seine Hebel bediente, lehnte sich Julius erschöpft an das Messinggeländer. Ihn quälte der Gedanke, sein Gemälde in dem überheizten Haus seines Schwiegervaters achtlos in der Ecke stehen zu wissen, ausrangiert zwischen den hässlichen braunen, mittelalterlich anmutenden Möbeln, dem geschmacklosen Nippes, der allüberall die Räume verunstaltete. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah Julius das Gemälde so lebhaft vor sich, als würde er davorstehen, Vincent im Dreiviertelprofil, eine Pose, die an Rembrandts große Selbstbildnisse erinnerte, mit Palette und Pinseln in der Hand, die Augen stechend im ausgemergelten Gesicht, während um seinen Kopf herum die Leinwand in einer rasenden Kakophonie violettblauer Wirbel und Striche geradezu surrte. Der Künstler und der Verrückte, die einander in die Seele blicken.
Der Aufzug hielt ruckend an. Von allen Selbstporträts, hatte Vincent an seinen Bruder Theo geschrieben, sei dieses das einzige, das seinen wahren Charakter erfasse. In den dreißig Jahren, seit Julius es besaß, hatte er Dutzende andere Bilder gekauft und verkauft. Er verabscheute die neuerliche Tendenz, Kunstwerke auf Vorrat zu lagern, als wären sie Rohmetall oder Erdöl, und sie in Lagerhäusern auf künftige Wertsteigerungen hin zu horten. Julius behielt ein Bild so lange, bis er beim Betrachten nichts Neues mehr darin entdeckte, dann gab er es weiter. Als die Preise für van Goghs in die Höhe schossen, hätte er das Selbstbildnis für das Zehnfache dessen verkaufen können, was er einmal dafür bezahlt hatte, dann für das Fünfzig- und Hundertfache und sogar noch mehr, aber er trennte sich nicht davon. Er wollte es sich jederzeit ansehen können. In Vincents nackter Angst, in der rückhaltlosen Aufrichtigkeit seines kompromisslosen Blicks war etwas, das Julius nur als heldenhaft bezeichnen konnte.
Von der Invalidenstraße ging er direkt zum Hotel Adlon. Auf dem Pariser Platz flanierten Menschen im Sonnenschein. Die übliche Plage ausländischer Spekulanten. Nachdem die Mark auf dem Börsenmarkt immer tiefer gesunken war, fielen sie wie Heuschrecken in die Stadt ein. Hoch über den Säulen des Brandenburger Tors gab die Siegesgöttin Viktoria ihren Pferden die Peitsche, in Seladongrün vor einem hellblauen Himmel. An diesem Vormittag wünschte sich Julius nichts weniger, als den jungen Mann zu treffen, den Salazin geschickt hatte, aber er wusste, es ließ sich nicht umgehen. Der Gesichtsausdruck des Händlers, als Fräulein Grüber die Tür zum Arbeitszimmer geöffnet hatte, war ihm nicht entgangen, sein ebenso schockierter wie faszinierter Blick, das Funkeln in seinen Augen, das vielleicht Berechnung verriet oder auch einfach nur Belustigung. Heutzutage kannten Händler keine Skrupel. Rachmann war Salazins Kreatur. Er würde keinem von beiden den Eindruck gönnen, sie hätten ihn in der Hand.
Er hätte Rachmann erneut in die Meierstraße einladen können, es gab dort genügend Räume mit intakten Fenstern, aber Julius wollte nicht, dass ihm der Bursche noch einmal auf die Pelle rückte und ihn an Unangenehmes erinnerte. Das Musikzimmer im Adlon war für bevorzugte Gäste des Hotels reserviert. Mit seinem Bechstein-Flügel und der farbigen Stuckdecke verkörperte es verhaltenen Luxus. Dort konnte Julius die öffentliche Person sein, die man als Deutschlands überragenden Kunstkritiker kannte, gelassen, kultiviert und Respekt einflößend, ein mit den Privilegien lebenslangen Erfolges bekränzter Mann. Ein Mann, dem heftige Gefühlsausbrüche fremd waren, jemand, der zu Geschrei und zum Zerschmettern von Fensterscheiben nicht fähig war. Ebenso unmöglich wäre es einem Möchtegern-Kunsthändler aus der Provinz gewesen, sich das Adlon mit seinen astronomischen Preisen zu leisten.
Julius bestellte beim Ober Kaffee und drückte ihm einen Geldschein in seine diskret aufgehaltene Hand. »Wenn mein Gast eintrifft, tragen Sie ihm bitte auf zu warten. Ich werde ihn um zwölf empfangen.«
Das Treffen war für halb zwölf vereinbart. Julius ließ sich am Tisch nieder und breitete um sich herum Bücher und Schriftstücke aus. Er trank Kaffee, erst aus der einen, dann aus der anderen Tasse. Kurz nach zwölf geleitete der Ober Rachmann herein. Mit stirnrunzelndem Blick über seine Brille hinweg hob Julius einen Finger und fuhr fort, etwas aufzuschreiben. Es vergingen mehrere Minuten. Als er schließlich seinen Füllfederhalter zuschraubte, stellte Rachmann das Bild, das er bei sich trug, auf den Boden. Dann legte er erst beide Hände auf sein Herz, um sie schließlich wie zur Entschuldigung und Bitte zugleich Julius entgegenzustrecken. Bei der zarten Anmut dieser Geste dachte Julius an Degas.
»Ich habe Sie warten lassen«, sagte der junge Mann, »das tut mir leid.« Seine Stimme war klar und leise, die verschliffenen Konsonanten verrieten einen leichten, aber eindeutigen Düsseldorfer Akzent. Julius blickte auf die goldbronzefarbene Kaminuhr.
»Nun ja«, sagte er kühl. »Jetzt sind Sie ja hier.«
»Ich war pünktlich da, aber man hat mich nicht zu Ihnen durchgelassen. Man hat mir wohl nicht geglaubt, als ich sagte, dass Sie mich erwarten. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob ich selbst es mir geglaubt hätte.« Sein Lächeln war warm und ungeheuchelt. »Ich bewundere Sie schon sehr lange. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenlernen zu dürfen.«
Im Lauf der Jahre hatte sich Julius an die Schmeicheleien gewöhnt, die solche Begegnungen begleiteten. Seine Expertise konnte den Wert eines Gemäldes um mehrere Nullen steigern. Aber an diesem Jungen war etwas anderes, fand er, weniger kriecherische Berechnung als eine Art schutzlose Offenheit. Er würde härter werden müssen, wenn er als Händler überleben wollte. Ein Mann ohne Tricks würde in Berlin nicht lange bestehen.
»Kaffee?«, fragte er. »Wir lassen eine neue Tasse bringen.«
»Danke. Und danke, dass Sie mich empfangen. Ich bin Ihnen so dankbar. Wirklich. Und so beeindruckt, ehrlich. Als Herr Salazin vorschlug – ich rede zu viel. Das passiert mir immer, wenn ich nervös bin, entschuldigen Sie. Und jetzt rede ich immer noch. Bitte sagen Sie, dass ich den Mund halten soll.«
Julius lächelte und läutete nach dem Ober. »Warum zeigen Sie mir nicht, was Sie mitgebracht haben«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht bin ich dann ebenfalls dankbar.«
Das Gemälde war ein impressionistisches Stillleben mit Blumen und Äpfeln – unverkennbar ein Schuch, die gedämpften Farben mit den für den Künstler charakteristischen groben Pinselstrichen aufgetragen. Recht hübsch, doch wie viele von Schuchs Werken etwas zu bemüht. Als Julius die Zuordnung bestätigte, lächelte der junge Mann in sich hinein, ein leises, entschlossenes Lächeln, bei dem sich seine Augenwinkel in Falten legten. Mit der Fingerspitze berührte er eine Ecke der Leinwand. Er hat die Hände eines Pianisten, dachte Julius, oder die eines Dichters. Die meisten Maler haben Hände wie Bauern.
»Stimmt es, dass Schuch wie van Gogh zu seinen Lebzeiten nur ein einziges Bild verkauft hat?«, fragte Rachmann, während Julius das Echtheitszertifikat ausfertigte.
»Das stimmt, allerdings wollte Schuch, anders als van Gogh, gar keines verkaufen. Er verachtete diesen ganzen Zirkus, sagte er, und außerdem stammte er aus wohlhabenden Kreisen und konnte sich ein wenig Dünkel leisten.«
»Ich weiß nicht«, sagte Rachmann. »Vielleicht war es gerade Schuchs Dünkel, der seine Farben so eingetrübt hat. Vielleicht hätte ihm ein bisschen Armut und Leidenschaft ganz gutgetan, wie Fou-Feu.«
Erstaunt sah Julius den jungen Mann an. Fou-Feu, verrücktes Feuer, war der Spitzname, den Julius sich für van Gogh ausgedacht hatte, für dessen Zeit bei den Huren von Arles. Die hochnäsigen Kritiker des Buchs hatten solche Einfälle als unlauter abgekanzelt, als Hirngespinste von Julius’ übersteigerter Phantasie, aber was waren dann Vincents violette Felder, seine gelben Himmel? Was ich tue, mag eine Art Lüge sein, hatte Vincent an seinen Bruder Theo geschrieben, aber nur, weil es die Wahrheit deutlicher zeigt.
Rachmann lächelte verlegen. »›Der Sturm in seiner Brust und die wilde Sonne in seinem Herzen.‹ Ihr Buch, ich – es hat alles für mich verändert. Wie Sie über van Goghs Leben geschrieben haben, über seine Werke. Es ist das erste Buch, das beschreibt, was ich selbst beim Betrachten der Bilder empfinde. Und ich habe geglaubt, dass sich Bilder einfach nicht mit Worten erklären lassen. Aber beim Lesen Ihres Buches war es, als würden Sie sämtliche Fenster aufstoßen und Luft, das Licht und die Musik hereinströmen, und damit wurde nicht nur Vincent lebendig. Seine Bilder fingen an zu tanzen. Ihre Worte haben sie zum Tanzen gebracht.«
Schweigen. Julius hätte nie gedacht, dass sein Vincent ein solcher Erfolg werden würde. Er hatte in dem Buch einfach nur versucht, so zu schreiben, wie van Gogh malte, er hatte die alten Regeln über Bord geworfen und stattdessen ausgesprochen, was ihm wie die Wahrheit vorkam, intensiv und in einem Rausch von Farben. Natürlich hatte der Kunstbetrieb das Buch als trivial und unwissenschaftlich abgetan, als »vulgäres Melodram«. Die Kunstszene bevorzugte akademische Abhandlungen, knochentrockene Texte, die ihren Gegenstand so sicher erstickten, als würden sie einem Menschen ein Kissen aufs Gesicht pressen, aber für diese Leute hatte Julius nicht geschrieben. Er hatte für die Rachmanns geschrieben, so wie van Gogh für die gewöhnlichen Menschen gemalt hatte, um ihnen Augen und Herzen zu öffnen. Um die Bilder tanzen zu lassen.
»Danke«, sagte er einfach, und als er seine Unterschrift aufs Papier setzte, berührte etwas sein Inneres.
In den darauffolgenden Wochen dachte Julius oft an Rachmann. Eines Abends, er verließ gerade die Philharmonie, meinte er, ihn an der Ecke zur Potsdamer Straße zu sehen. Er hatte bereits ein Lächeln auf den Lippen, als sich der junge Mann umdrehte – und Julius sah, dass es überhaupt kein Mann war, sondern eine junge Frau mit Bob in einem Männeranzug, das steifkragige Hemd aufgeknöpft bis zum Brustbein, der Mund ein leuchtend scharlachroter Schlitz. Während er davoneilte, steckte sie zwei Finger in den Mund und pfiff. Der schrille Ton schien die Nacht zu zerschneiden.
Berlin veränderte sich. Trotz ihrer beißenden Schnodderigkeit waren die Berliner bekannt dafür, dass sie hart arbeiteten und Zeit gleich Geld war, aber als das Geld immer wertloser wurde, erfasste eine Art Hysterie die Stadt. In Berlin hatte es schon immer private Klubs und verrauchte Kellerlokale gegeben, versteckte Orte, die verbotene Vergnügungen verhießen, doch jetzt ergoss sich das Licht der Bars und Tanzpaläste auf die Straßen und Gehsteige, auf denen es von Menschen nur so wimmelte. Es schien, als stehe plötzlich alles zum Verkauf: spindeldürre Jungs in Matrosenhosen, die Wangen mit Rouge beschmiert; Mädchen mit kaum verhüllten Brüsten in Negligés, kurzen Röckchen oder hohen Lederstiefeln. Paare, die sich unter Straßenlaternen gierig, schamlos abknutschten. Als gäbe es angesichts der Unsicherheit des Morgen nichts anderes mehr, als hemmungslos das Heute auszukosten.
Zu Hause angekommen ließ eine schläfrige Frau Lang, die ein Gähnen unterdrücken musste, Julius herein. Eine einzige schwache Lampe erleuchtete die Eingangshalle. Niemand spielte Musik in voller Lautstärke, johlte auf der Treppe oder schüttete Champagner über die Balustrade der Galerie. Luisa und ihre Freunde hatten ihre Spuren im Haus hinterlassen wie Puppen, aus deren Löchern die Füllung rieselte, ihre Wege waren markiert mit achtlos abgelegten Pelzen, leeren Gläsern und leichten Schuhen, die umgekippt wie Betrunkene herumlagen. Ohne Luisa, ohne ihre kreischenden Kumpane war die Villa zu sich selbst zurückgekehrt, dezent und makellos.
Frau Lang hatte im Arbeitszimmer das Kaminfeuer angezündet. Sie kannte seine Gewohnheiten, man musste es ihr nicht eigens auftragen. Im Schein der Flammen tanzte die Wand in orangefarbenen Tönen, und der blanke Nagel grinste Julius an wie der Kopf eines Wasserspeiers mit herausgestreckter Zunge. Als Julius die Lampe anschaltete, schrumpfte das Trugbild zusammen und sank in die Wand zurück. Böhm hatte wie versprochen die sofortige Rückgabe des van Gogh verlangt und zur Antwort von Luisas Anwälten nur höfliche Ausflüchte erhalten. Seither waren mehrere weitere Schreiben ausgetauscht worden. Eines, das Julius Böhm diktiert hatte, enthielt akribische Anweisungen zur Behandlung des Bildes, den dringlichen Hinweis, dass es in einer angemessenen Umgebung aufbewahrt werden müsse, keinem direkten Sonnenlicht und weder Trockenheit noch Feuchtigkeit ausgesetzt werden dürfe, da dies alles der empfindlichen Farboberfläche Schaden zufügen würde.
Die Antwort von Luisas Anwalt war kurz. Seien Sie versichert, schrieb er, dass meine Klientin sich des Werts ihres Eigentums vollkommen bewusst ist.
Der Glaser hatte endlich die Fensterscheibe im Arbeitszimmer ersetzt. Der Widerschein der Lampe schimmerte auf dem schwarzen Glas, ein van Gogh’scher Wirbel aus gelblichem Gold. Julius starrte auf die leere weiße Wand, und die Wut, die ihn packte, war ihm wie ein tröstlicher Gefährte.
Es war Ende April, als Rachmann ihm schrieb und fragte, ob Julius bereit sei, sich noch einmal mit ihm zu treffen. In der Meierstraße standen die Kirschbäume in voller Blüte, Wolken aus Rosa und Weiß, und ein ehemals drei Mark teurer Laib Brot war nicht mehr unter eintausendfünfhundert Mark zu bekommen. Im Ton erlesen höflich, verhehlte der Brief nicht, wie aufgewühlt der junge Kunsthändler war. Ein mit seinem Vater befreundeter Buchhändler habe sich das Leben genommen, seiner Witwe bleibe nichts übrig, als alle Bestände zu verkaufen. Unter den Bücherstapeln habe Rachmann ein Konvolut Zeichnungen entdeckt. Ob Julius vielleicht einmal einen Blick darauf werfen wolle? Er habe der Familie versprochen zu helfen, so gut er könne.
Bitte entschuldigen Sie meine Unverschämtheit, schrieb er, aber hätten Sie vielleicht morgen Nachmittag Zeit?
Julius’ Terminkalender war bereits unerfreulich voll, eine Sitzung der Preisjury, der er vorstand, danach ein Treffen mit Geisheim, Redakteur bei der Tribüne, für die er regelmäßig eine Kunstkolumne verfasste. Er bat Fräulein Grüber, diese Verabredung um einen Tag zu verschieben. Zeitungsleute waren die Launen der Umstände gewohnt. Er würde sich mit Rachmann um fünf Uhr treffen.
»Im Adlon?«, fragte die Stenotypistin, aber Julius schüttelte den Kopf. Seit auch noch die Japaner dem Kaufrausch verfallen waren, war das Adlon unerträglich geworden.
»Nein, hier«, sagte er, und der Gedanke daran hob seine Stimmung.
Rachmann wartete bereits, als Julius von der Sitzung nach Hause kam.
»Eine halbe Stunde zu früh«, sagte Frau Lang missbilligend. »Ich habe ihn zum Warten in den Morgensalon geschickt. Hoffentlich hat er nicht Fräulein Grüber von ihrer Arbeit abgelenkt.«
Sie führte Rachmann ins Arbeitszimmer. Julius beobachtete den jungen Mann dabei, wie er sich umsah, den Pissaro mit seinen schimmernden Silberbirken betrachtete, die Munch-Zeichnungen in ihrem schwarzen Rahmen, die kleine Figur von Claudel, die er als Ersatz für die Rosso-Büste auf dem Kaminsims aus seinem Schlafzimmer geholt hatte.
»Was für schöne Dinge«, sagte Rachmann.
Deshalb hast du mich doch ausgesucht, als weiteres Ausstellungsstück für dein verdammtes Museum! Luisas Stimme dröhnte ihm so schrill in den Ohren, als habe sich in der Zeit ein Riss aufgetan. Ein wenig unbehaglich zumute, bedeutete er dem jungen Mann, die Zeichnungen auf den Schreibtisch zu legen, aber Rachmann hatte sich zur nackten Wand gedreht und bemerkte Julius’ Geste nicht.
»Sagen Sie mir, dass Sie es immer noch sehen«, murmelte Rachmann, und Julius hatte das Gefühl, durch den Schock wie ins Weltall geraten zu sein, in ein Nichts, wo eigentlich fester Boden sein sollte. Julius starrte den jungen Mann an, der lächelte, als sei nichts dabei, jemandem den Schädel zu öffnen und hineinzublicken. »Sagen Sie mir, dass Sie das Sehen nicht vergessen und dieses Zimmer Sie nach wie vor jeden Tag anrührt.«
Julius zuckte die Achseln. Er hätte wissen müssen, dass der junge Mann nur die Werke meinte, die er hier vor Augen hatte. Er fühlte sich töricht und war zugleich ein wenig enttäuscht. »Aber ja, ich sehe sie noch«, erwiderte er, und Rachmann nickte mit einem Ausdruck amüsierter Skepsis. Erneut hatte Julius das verstörende Gefühl, der junge Mann könnte seine Gedanken lesen. »Allerdings vielleicht nicht so oft, wie ich es sollte«, räumte er ein.
Rachmanns Lächeln wurde sanfter. »Da bin ich aber froh, dass Sie manchmal nicht hinsehen. Denn andernfalls kämen Sie nie zum Schreiben.«
Julius ließ Rachmann die mitgebrachten Zeichnungen auf dem Schreibtisch ausbreiten. Die meisten waren unbedeutend. Doch eine unsignierte Rötelzeichnung ließ sein Herz schneller schlagen. Ein männlicher Akt in klassischer Pose, der Körperschwerpunkt auf der rechten Hüfte, die Rundung des muskulösen Bauchs als Gegenstück zur Ausbuchtung der rechten Gesäßbacke, der Inbegriff unbekümmerter Männlichkeit. Julius hätte den Zeichner ebenso wenig verwechseln können wie sein eigenes Spiegelbild.
»Ein Marées«, sagte er, unfähig, seine Freude zu verbergen. »Ohne jeden Zweifel. Eine Vorstudie zu den Hesperiden. Ein wenig mangelhaft, da ist es überzeichnet, haben Sie gesehen? Er schien sich des Winkels nicht sicher zu sein. Aber ansonsten sehr schön, wirklich sehr schön.«
Rachmann atmete tief aus, die Fingerknöchel an die Lippen gepresst. »Gott sei Dank.«
»Hatten Sie es vermutet?«
»Ich habe es gehofft. Frau Schmidt musste so viel durchmachen.«
Julius betrachtete die Zeichnung, die vorzügliche, sparsame Linienführung, und dachte an die Witwe in Düsseldorf, an ihren Mann, ihren Laden und dass alles jetzt mit einem Schlag verloren war. Die Inflation verhöhnte geradezu das beharrliche Vorsorgeverhalten der deutschen Mittelschicht, verwandelte ihr lebenslang gewissenhaft in die Rentenkasse eingezahltes Geld in eine Handvoll Staub. Es hieß, in Berlin würde jeden Tag ein Mensch Selbstmord begehen.
»Sie sollten sogar jetzt noch einen anständigen Preis dafür bekommen«, sagte er. »Dass die Zeichnung eine Vorstudie zu einer höchst geschätzten Arbeit ist, wird ihren Wert beträchtlich steigern.«
»Ein wunderbares Bild, nicht? Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, es selbst zu kaufen. Der Gedanke, es wegzugeben …« Rachmann schüttelte betrübt den Kopf. »Ich fürchte, für einen Händler habe ich die ganz falsche Begabung.«
»Im Gegenteil. Wenn es Ihnen nicht das Herz brechen würde, eine Arbeit wegzugeben, hätten Sie gar nicht erst das Gespür, es anzukaufen.«
Automatisch blickte Julius von der Zeichnung auf die Stelle an der weißen Wand, auf die die Nachmittagssonne fiel, und einen Augenblick lang sah er es, Vincents gequältes, quälendes Gesicht, das ihn unverwandt anstarrte. Dann wechselte das Licht, und das Bild war verschwunden. Julius wandte sich wieder der Zeichnung zu. Die nackte Figur stand breitbeinig, die Füße im rechten Winkel, den nackten Körper mit all der unbekümmerten Zuversicht der Jugend den Blicken darbietend, doch das Gesicht war abgewandt, die Augen geschlossen und die Arme angewinkelt, als wäre das Gefühl, das sie ergriffen hatte, einfach zu stark, um es zu bändigen. Im Garten sang ein Vogel, ein hastiges Trällern.
»Sind Sie mit Charles Blanc vertraut?«, fragte er. »Nach der Februarrevolution war er Direktor der École des Beaux-Arts in Paris. Seiner Ansicht nach ist das Zeichnen die männliche Seite der Kunst und das Malen die weibliche. Die Zeichnung könne uns zeigen, was im Geist vor sich geht, während das Gemälde die Geheimnisse des Herzens offenbart. Ich hätte ihm nur diese eine Arbeit hier präsentieren müssen, und seine These hätte sich in Luft aufgelöst.«
»Du fühlst es also auch.«
Im plötzlichen Wechsel zum vertraulichen Du lag nichts Anmaßendes. Er sprach ruhig, arglos, wie vielleicht ein Sohn mit seinem Vater spricht. Julius lächelte.
»Wie könnte ich nicht?«, sagte er.
Julius kaufte den Marées. Er zahlte das Fünffache dessen, was er tatsächlich wert war. Als er Rachmann den Scheck überreichte, sah er ihn nicht an, so wie er auch die Bettler in ihren grauen Armeemänteln nie ansah, wenn er ihnen einen gefalteten Geldschein in ihre ausgestreckte Hand steckte. Er wollte die finanzielle Transaktion nicht in den Augen des jungen Mannes widergespiegelt sehen, die Unverhältnismäßigkeit der Summe und gleichzeitig ihr Ungenügen. Er dachte an die Witwe in Düsseldorf und wusste, es würde nichts bewirken. Ein rasender Strudel hatte sich in Deutschland aufgetan, und er würde alle in sich hineinsaugen. Ein Mensch konnte bis auf den letzten Pfennig alles, was er hatte, in ein Loch wie dieses werfen, und nicht das Geringste würde sich dadurch ändern.
So hatte sich das niemand vorgestellt. Den Kriegsausbruch hatten sie begeistert begrüßt, die Künstler und Schriftsteller, die Dichter und Musiker. Sie hatten sich eine große Läuterung versprochen, die rückhaltlose Säuberung einer verdorbenen, philisterhaften Welt, aus deren Asche sich ein neues, reineres Deutschland erheben würde. Ein natürliches Kunstwerk, wie Karl Scheffler es genannt hatte. Da Julius für den Einsatz an der Front zu alt war, hatte er sich freiwillig als Sanitätsfahrer verpflichtet, als Soldat in einem heiligen Kampf, durch den die Welt – wie er glaubte – einen neuen Stand der Gnade erlangen würde. Die Schrecken des Krieges hatten seine Ansichten grundlegend verändert, aber nicht völlig jene Hoffnung ausgelöscht. Krank vor Angst und Erschöpfung, die Kleidung steif vom geronnenen Blut anderer Männer, hatte Julius in endlos langen Monaten oft an Dostojewski gedacht, diesen widerwilligen Soldaten, der begriffen hatte, was alle Soldaten einmal begreifen: dass Menschen keine Götter sind und für jeden die einzige Hoffnung auf Erlösung darin besteht, den eigenen Anteil an Schuld, Scham und dem Schrecken des Lebens auf sich zu nehmen und gemeinsam zu ertragen, als eine Geistesgemeinschaft, geeint durch das Bewusstsein der eigenen Schwäche und der Nachsicht verpflichtet. Auf den Schlachtfeldern Flanderns glaubte man, die blinde Verdorbenheit des alten Deutschland sei für alle Zeiten überwunden.
Ein fataler Irrtum. Fünf Jahre später war das neue Deutschland verdorbener denn je, eine gespaltene Nation von Schmarotzern und Blutsaugern: Ladenbesitzer, die ihre Waren unter der Theke gegen ausländische Währung verkauften; Schwarzhändler, die mit der einen Hand Polizisten schmierten und sich mit der anderen ihren Profit in die Tasche stopften; pelzbehangene Bauersfrauen, die sich in den Cafés am Kurfürstendamm die Sahne von den Fingern leckten, während draußen halb verhungerte Kinder die Abfalleimer nach Essbarem durchwühlten.
Und Julius war einer von ihnen.