Читать книгу Im gleißenden Licht der Sonne - Clare Clark - Страница 11
VI
ОглавлениеDie neue Mark behielt ihren Wert. Die Straßenlaternen leuchteten wieder, und auf einmal war alles erhältlich, nicht nur Eier und Brot und Kartoffeln, sondern auch Pfefferkuchen, Glühwein und Datteln, kandierte Früchte und ganze Stapel prächtiger Orangen mit glänzenden grünen Blättern. Bei Wertheim standen riesige Weihnachtsbäume mit Hunderten blinkenden Lichtern im Schaufenster, unter ihren Zweigen lagen Berge von bunt eingepackten Paketen.
Julius hatte seit Jahren keinen Fuß in das große Warenhaus gesetzt. Im Lichthof mit den monumentalen Säulen und Wandmalereien standen Leuchtvitrinen, die Hüte und Musikinstrumente und Porzellanfigurinen präsentierten. Riesige Nachbildungen griechischer Götterstatuen ragten in angestrahlten Nischen entlang der Wände auf – Bacchus grinste anzüglich über einer Weintraube, eine spärlich bekleidete Artemis spannte einen Pfeil in den Bogen, als wollte sie beides zum Kauf anbieten. Zwischen der ausladenden Doppeltreppe, die zu den Obergeschossen führte, hing wie ein riesiges Altarstück eine kolossale goldene Uhr in Form einer Sonne und zählte die Minuten bis zum Geschäftsschluss.
Er nahm einen der dreiundachtzig Fahrstühle und fuhr in die Spielzeugabteilung. Die Regale waren dicht gefüllt, die schiere Auswahl an Waren überwältigte ihn. Er hatte keine Vorstellung davon, was einem Kind in Konstantins Alter gefallen mochte. Zu seiner Erleichterung kam ihm eine junge Frau in Verkäuferinnenkostüm zu Hilfe und schlug ihm eine ziemlich edel aufgemachte Arche Noah vor. Er wartete, während sie das Geschenk verpackte. Um den Schriftzug des Warenhauses hinter ihr an der Wand rankten sich Blumen. Julius musste an das Gemälde mit den Mandelblüten denken, das van Gogh für seinen neugeborenen Neffen gemalt hatte. Damals war Vincent schon sehr krank. Er schrieb Theo, der Junge stehe für all die Jahre, die ihnen verwehrt blieben, er würde wachsen und gedeihen und all das vollbringen, was die schwachen und närrischen Erwachsenen nicht zu Ende geführt hätten. Zwischen seinen Anfällen arbeitete Vincent wie im Rausch, ein Bild pro Tag, doch er schrieb an Johanna, es sei besser, Kinder großzuziehen, als Bilder zu malen. Dass sie den Jungen Vincent tauften, missfiel ihm. Das Kind sollte nicht mit dem Fluch seines Namens belastet sein.
Die Arche Noah war überraschend teuer. Die Verkäuferin reichte ihm das Paket mit einem Lächeln. »Ihr Enkel kann sich glücklich schätzen« sagte sie, und er nickte und wünschte ihr frohe Weihnachten.
Einige Monate zuvor hatte Julius eine Einladung nach München erhalten, wo ihm die Universität eine Auszeichnung verleihen wollte. Er hatte sich geweigert zu kommen und seinem Verlag erklärt, er habe keine Zeit, der Preis sei ohnehin unbedeutend, solche Zeremonien würden sich endlos hinziehen, und außerdem wimmele es in München von diesen schwachsinnigen Faschisten. Widerwillig hatte sein Lektor sich bereit erklärt, die Ehrung an seiner Stelle entgegenzunehmen. Per Peritz war ein schüchterner, stotternder Mann mit Brille und Glatze, der über das P stolperte. Sich mit seinem Namen vorstellen zu müssen war eine Tortur für ihn. Als Julius anrief, um ihm mitzuteilen, er habe seinen Entschluss geändert und würde nun doch nach München reisen, war Peritz’ Erleichterung deutlich zu spüren. Man werde sich über seine persönliche Anwesenheit sehr freuen, meinte er. Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Wort persönlich herausgebracht hatte.
Julius hatte es sich ganz anders vorgestellt. Er hatte Luisa geschrieben und in äußerst höflichem Ton angefragt, ob Konstantin, da doch bald Weihnachten sei, ein paar Tage bei ihm in Berlin verbringen dürfe. Auch wenn sie ihre Schwierigkeiten hätten, sei er doch immer noch Konstantins Vater, und der Junge habe in der Meierstraße sein Zuhause. Konstantin könne entweder mit seinem eigenen Kindermädchen anreisen, oder Julius würde eine tüchtige Kraft engagieren, um ihn abholen zu lassen, jedenfalls entstünden Luisa keinerlei Unannehmlichkeiten. Frau Lang, fügte er hinzu, habe schon mit dem Plätzchenbacken angefangen.
Die Antwort kam von Luisas Anwälten. Frau Köhler-Schultz tue es leid, aber sie habe die Feiertage bereits verplant. Am Nachmittag brachte der Briefträger eine gekritzelte Notiz von Luisa. Die Schleifen der Buchstaben drückten sich so stark durch das Papier, dass sich die Wörter gegenseitig auszulöschen schienen.
Du Mistkerl. Nach all der Zeit willst du auf einmal den Weihnachtsmann spielen? Aber natürlich. Du wolltest immer nur das, was du nicht haben konntest.
Kurz vor sieben Uhr morgens fuhr der Zug in den Münchner Hauptbahnhof ein. Otto Metz hatte einen Wagen geschickt, um Julius abholen und die knapp dreißig Kilometer zu seinem Haus am Würmsee bringen zu lassen. Die Morgenzeitungen lagen zusammengefaltet auf der Rückbank, daneben ein Weidenkorb. Dieser enthielt noch warme gebutterte Brötchen, die in eine Serviette gewickelt waren, eine Thermoskanne Kaffee und einen silbernen Flachmann mit, wie Julius feststellte, ausgezeichnetem Cognac. Dem Besitzer des größten deutschen Verlagshauses, Otto Metz, lag die Bequemlichkeit seiner Erfolgsautoren fast genauso am Herzen wie seine eigene.
»Ich habe erst noch etwas in der Stadt zu erledigen«, sagte Julius zu dem Fahrer. »Es dürfte nicht lange dauern.«
Julius hatte vergessen, wie klein München war und wie unglaublich malerisch. Die winterliche Morgendämmerung überzog den Schnee mit einem rosigen Schein und färbte die Dächer golden. Sie überquerten die Isar und waren auf einmal in einem der Viertel, wo die Häuser von Bäumen umstanden und hinter hohen Mauern verborgen waren. Die Bewohner Bogenhausens lebten zurückgezogen.
Die Arche Noah war unhandlich, der Gehweg eisglatt. Julius passte auf, als er aus dem Automobil stieg. Er war noch ganz steif nach der Nacht im Zug. Das einfache Zauntor hatte man durch eine massive Eisenkonstruktion ersetzt. Es war abgeschlossen. Julius spähte durch die Lücken hindurch zum Haus. Fröstelnd drückte er die Klingel. Als niemand kam, läutete er noch einmal. In einem Fenster im Obergeschoss ging das Licht an.
Die Eingangstür wurde geöffnet. Ein Hausmädchen stand im Türspalt, ein blasses, schmächtiges Ding in einem dünnen schwarzen Kleid. Sie schlang wärmesuchend die Arme um den Oberkörper und kam den Gartenweg entlanggelaufen. In einer Hand hielt sie einen Schlüssel an einem Lederband.
»Sind Sie Herr Behne?«, fragte sie. »Ich soll Ihnen von Herrn Aust bestellen, er hätte Sie ausdrücklich gebeten, zur Hintertür zu kommen.«
»Mein Name ist Köhler-Schultz. Ich bin hier, um meinen Sohn zu sehen.«
Sie zuckte zurück. »Ich wusste nicht … also, wir haben eigentlich Herrn Behne erwartet.«
»Sie müssen mich reinlassen. Der Junge ist doch da, oder?«
Unglücklich warf das Mädchen einen Blick zum Haus. »Wenn Sie bitte kurz warten, dann hole ich Herrn Aust.«
Julius erinnerte sich an Aust, einen kleinen, beflissenen Mann mit geröteten Augen und einem schmierigen Gehabe. Er hatte im Krieg im Regiment von Julius’ Schwiegervater gedient, ein einfacher Soldat, der es irgendwie geschafft hatte, den Posten als Walther Draxlers Bursche zu ergattern. Walther pflegte ihn im abfälligen Jargon der Frontsoldaten Putzer zu nennen. Er gab an, das sei ein alter Witz zwischen ihnen. In der Familie Draxler galt es als anerkannte Tatsache, dass Austs Ergebenheit grenzenlos war.
»Ich habe nicht die Absicht, auf irgendjemanden zu warten«, herrschte Julius sie an. »Ich habe die ganze Nacht im Zug verbracht, um meinen Sohn zu sehen. Jetzt machen Sie das Tor auf.«
Das Hausmädchen krampfte die Hände ineinander, die Ohren scharlachrot. »Es tut mir leid, aber das kann ich nicht tun. Herr Aust …«
»Hilde? Was um alles in der Welt ist da los?« Aust stand auf der Eingangsterrasse. Das Hausmädchen brachte ein verunglücktes Knicksen zustande und flüchtete erleichtert Richtung Haus. Aust bedachte sie mit einem stirnrunzelnden Blick, dann kam er ohne Eile den Gartenweg entlang, den Mund zu einem verbindlichen Lächeln verzogen.
»Herr Köhler-Schultz«, sagte er. »Was für eine Überraschung.«
»Machen Sie sofort das Tor auf. Ich werde mich nicht davon abhalten lassen, meinen Sohn zu sehen.«
Aust gab ein bedauerndes Geräusch von sich. »Es tut mir wirklich leid, ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber leider sind Frau Köhler-Schultz und ihr Kind derzeit nicht zu Hause.«
»Halten Sie mich für einen Idioten? Öffnen Sie das Tor, Aust, sonst breche ich es gewaltsam auf, das schwöre ich.«
»Sie verstehen sicher, dass ich Sie jetzt bitten muss zu gehen. Selbstverständlich werde ich Frau Köhler-Schultz Bescheid geben, dass Sie hier waren.«
»Hiergeblieben, kommen Sie zurück!« Wutentbrannt rüttelte Julius am Tor, dass es laut klapperte, doch Aust war bereits auf dem Rückweg zum Haus. Als die Tür hinter ihm zufiel, schlug Julius ein letztes Mal halbherzig gegen das Tor. Er fragte sich, ob Konstantin wohl das Echo hörte, das wie ein Stundenschlag in der eiskalten Luft hing.
Am Nachmittag saß Julius mit Otto in dessen Wintergarten. Sie unterhielten sich über die neue Koalitionsregierung, die Ernennung Stresemanns zum Außenminister und die Chancen für finanzpolitische Stabilität. Der Urwald aus tropischen Pflanzen hob sich giftgrün von der verschneiten Winterlandschaft ab, die Blätter fleischig wie Zungen. Ein Springbrunnen plätscherte. Julius’ Gedanken wanderten immer wieder zu dem erleuchteten Fenster im Haus der Draxlers zurück. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er irgendetwas hätte unternehmen sollen.
»Also, heraus mit der Sprache«, drängte Otto. »Wer wird der nächste van Gogh?«
Julius zuckte die Achseln. »Sagen wir mal so, ich bin noch dabei, meine Optionen abzuwägen.«
»Gut. Du solltest dir nur nicht zu viel Zeit dafür nehmen. Die Leser mögen dir den Vincent aus der Hand gerissen haben, aber sie besitzen das Gedächtnis eines Goldfischs. Peritz hatte übrigens eine wunderbare Idee. Hat er dir davon erzählt?«
»Zum Glück für uns beide hat Peritz die Ideen immer mir überlassen.«
»Michelangelo!«, fuhr Otto triumphierend fort. Vielleicht lag das Geheimnis von Metz’ ungewöhnlichem Erfolg darin, dass er immer nur das hörte, was er hören wollte. »Der größte Künstler aller Zeiten war anscheinend ein verkappter Homosexueller, der im Elend lebte und seine Skulpturen zerschlug, wenn sie nicht zu ihm sprachen.«
»Faszinierend. Nur keine Geschichte, die ich gerne erzählen würde.«
»Dann erzähl sie eben auf deine Art. Mach es wie bei Vincent und pfeif auf die Tatsachen. Nur ein Narr lässt sich von den Fakten eine gute Geschichte vermasseln.«
»›Die Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.‹«
»Ist das von dir oder von Vincent?«
»Hast du nicht gerade behauptet, das sei egal?«
»Ist es auch, aber jemand, der sich selbst zitiert, verdient es, wie ein Hummer bei lebendigem Leib gekocht zu werden.«
»Dann stammt es von ihm. Todsicher.«
Otto lachte. »Nebenbei bemerkt, ich möchte mir noch ein Bild von ihm zulegen und bin gerade auf der Suche, Nadine wollte schon immer eines seiner Porträts haben, aber bisher keine Chance. Dafür gebe ich dir die Schuld. Seit du ihn zu einer Berühmtheit gemacht hast, bekommt man nichts mehr von ihm, nicht für Geld und gute Worte. Ich habe sogar schon bei der Witwe seines Bruders vorgefühlt, angeblich hortet sie noch ein paar Bilder unter dem Bett, aber wie es scheint, beißt sie nicht an. Du kennst sie, nicht wahr?«
»Johanna van Gogh? Ein wenig. Vor dem Krieg habe ich sie ein- oder zweimal besucht.«
»Sie muss dich anbeten, bei deinem Buch? Eine bessere Werbung als deinen Vincent kann man sich nicht vorstellen.«
»Im Gegenteil, sie hat es mir sehr verübelt. Ich war so frech, nicht unter den Teppich zu kehren, dass sie Theo gedrängt hat, Vincent kein Geld mehr zu geben. In ihrer Version kannte ihre Zuneigung keine Grenzen.«
»Demnach wäre sie nicht geneigt, dir einen Gefallen zu tun?«
»Bestimmt nicht.«
»Jammerschade. Da wäre natürlich immer noch dein Selbstbildnis. Es soll schon vorgekommen sein, dass ein Mann im Zuge einer Scheidung seine Position noch einmal überdacht hat.« Es war nur halb gescherzt. Als Julius ihn aus schmalen Augen ansah, schnaubte Otto. »Ich weiß, du würdest dir lieber die Pulsadern aufschneiden, bla, bla, bla. Hoffen wir um meinetwillen, dass die schöne Luisa dich ordentlich ausnimmt. Bis dahin lass mich wissen, falls du etwas hörst, ja? Natürlich mit der üblichen Provision et cetera.«
Die übliche Provision betrug zehn Prozent. Julius nickte. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Er blieb übers Wochenende. Nadine Metz bestand darauf. Es gebe da eine Dame unter ihren etwa ein Dutzend Gästen, die er unbedingt kennenlernen müsse. Die kürzlich verwitwete Elvira Eberhardt war eine elegante und intelligente Frau. Sie unterhielten sich über den leidenschaftlichen, sprunghaften Schiller und seine lange Freundschaft zu dem kühlen, schweigsamen Goethe. Als junges Mädchen, erzählte Frau Eberhardt, habe ihr Vater sie im Nachthemd nach unten gerufen, damit sie seinen Gästen vor dem Abendessen die Ode an die Freude vorsang.
»Mein Vater war wie Goethe. Nach außen hin immer kühl. Nicht ein einziges Mal habe ich erlebt, dass er Zuneigung offen gezeigt hätte, nicht einmal meiner Mutter gegenüber, aber bei Beethoven musste er weinen wie ein Kind.«
Ihre Tochter sei fast erwachsen. »Sie ist in der Schweiz, um den letzten Schliff zu erhalten. Sofern sie nicht vorher alles hinwirft. Es ist die beste Schule dieser Art in ganz Europa, aber meine Tochter findet es dort schrecklich. Sie ist wie ein Hund im Zwinger, der so lange bellt, bis man ihn freilässt. Haben Sie Kinder, Herr Köhler-Schultz?«
»Eins, einen Jungen, und er ist noch ziemlich weit vom letzten Schliff entfernt. Er steht noch ganz am Anfang.«
»Sie haben Glück. Jungen sind unkompliziert. Emmeline – ach, Sie werden sie ja morgen kennenlernen.«
»Sie ist hier?«, fragte Julius überrascht.
»Das hat sich keiner gewünscht. Otto und Nadine sind sehr verständnisvoll.« Sie seufzte, dann zwang sie sich zu lächeln. »Ich habe überlegt, morgen am See entlangzuwandern. Begleiten Sie uns doch, wenn Sie nicht mit den anderen Schlittschuh laufen.«
»Es wäre mir ein Vergnügen.«
Als er am nächsten Tag aufstand, ziemlich spät, war allerdings von Mutter und Tochter keine Spur zu sehen. Der Tag war frisch und sonnig, es herrschte strahlend blauer Himmel. Nach dem Frühstück, das er allein einnahm, ging er mit seinem Kaffee in den Wintergarten. Er hatte sich vorgestellt, es wäre ein angenehmes Plätzchen, um die Zeitungen zu lesen, doch die Luft war feucht und drückend, und die stechende Sonne verursachte ihm Kopfschmerzen. Erst als er aufstand, um zu gehen, entdeckte er durch einen zufälligen Blick das Mädchen, abgewandt von ihm und halb verdeckt zwischen den dicht wuchernden Pflanzen. Sie saß zusammengekauert auf einem Korbstuhl, ihr dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie hatte die Beine zu einer Art Staffelei angezogen, auf der ein Skizzenbuch lag. Völlig reglos verharrte sie in dieser Position, der Bleistift schwebte über dem Papier, der Blick war auf etwas gerichtet, das Julius nicht sehen konnte. Er hielt den Atem an, ebenso reglos wie sie.
Auf einmal legte sie entschlossen los, ohne auf das Papier zu sehen. Ihr Stift bewegte sich rasch, mit sicherem Strich, und Julius ertappte sich dabei, dass er sich schier auf die Zehenspitzen stellte und den Hals reckte, um ihr Werk begutachten zu können, als sie, so unvermittelt, wie sie angefangen hatte, wieder aufhörte. Finster starrte sie auf das Skizzenbuch und warf es mit einem Wutschrei auf den Boden, wo es mit der Vorderseite nach unten landete, die Seiten abgeknickt. Sie stieß es mit dem Fuß beiseite, ließ es über die Fliesen schlittern und schleuderte den Bleistift hinterher. Dann schob sie sich ein Kissen unter den Hals, rollte sich auf dem Stuhl zusammen, die Beine angezogen, sodass ihre bloßen Füße auf der Armlehne ruhten, gähnte herzhaft und mit weit geöffnetem Mund wie eine Katze und schloss die Augen. Im nächsten Moment war sie fest eingeschlafen.
Was für eine Einlage, dachte Julius. Kein Wunder, dass ihre Mutter sie als Prüfung empfindet. Als er sich umdrehte, um zu gehen, stieß er aus Versehen einen schmiedeeisernen Blumenständer um, sodass der Topf krachend auf den Boden fiel. Mit einem panischen Aufschrei fuhr das Mädchen hoch.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte Julius. »Ich habe Sie nicht bemerkt.«
Das Mädchen zuckte die Achseln und streckte sich verschlafen. Ihre Fingernägel waren abgekaut und schmutzig, fast so schmutzig wie ihre Fußsohlen. »Nein, ähm, ich habe mich versteckt.«
»Verstehe.«
»Wenn meine Mutter mich findet, zwingt sie mich, mit ihr einen Spaziergang zu machen.«
»Mögen Sie keine Spaziergänge?«
»Nicht mit meiner Mutter. Man kann sich nur eine begrenzte Anzahl von Moralpredigten anhören, bevor man jemandem die Augen auskratzt.«
Julius zog eine Augenbraue hoch. »Ah. Dann müssen Sie Fräulein Eberhardt sein.«
»Mein Ruf eilt mir voraus.«
»Ich habe gestern beim Abendessen neben Ihrer Mutter gesessen.«
»Phantastisch. Dann wissen Sie ja bereits, was für eine Enttäuschung ich bin.«
»Im Gegenteil«, widersprach er. Als das Mädchen eine Grimasse zog und verächtlich die Luft durch die geschlossenen Lippen ausblies, empfand er Mitgefühl für ihre mustergültige, entnervte Mutter. »Aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Guten Tag, mein Fräulein. Und noch viel Glück beim Verstecken.«
»Wohl kaum. Sie sind Herr Köhler-Schultz, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
»Sie haben Die Genese der modernen Kunst geschrieben.«
»Das stimmt«, sagte er erfreut. Manchmal fragte er sich, ob der Erfolg seines Vincent jedes andere Wort, das er jemals zu Papier gebracht hatte, aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt hatte. »Und ich arbeite immer noch daran, Gott steh mir bei. Nächstes Jahr kommt eine Neuauflage heraus.«
»Dann haben sich Ihre Ansichten inzwischen geändert?«
»Nicht unbedingt. Aber die Welt dreht sich weiter und wir mit ihr, ob wir wollen oder nicht. Aus einer anderen Perspektive entdeckt man an den Dingen oft ganz neue Seiten.«
»Erzählen Sie das mal meiner Mutter«, entgegnete sie, den Kopf zur Seite geneigt, und er musste an Renoirs Porträt der Schauspielerin Jeanne Samary denken, mit ihren dunklen Augen und geröteten Wangen, dem leuchtenden Cremeton ihrer Haut. Samarys Vater, ein Cellist, war ein solcher Reinlichkeitsfanatiker gewesen, dass er sich dreißigmal am Tag die Hände wusch. Fräulein Eberhardts Fingernägel hätten ihn in den Nervenzusammenbruch getrieben.
»Ihnen ist aber schon klar, dass sie sich einen Ehemann angeln will.«
Julius runzelte die Stirn. »Also, wirklich …«
»Ist aber so. Die Inflation hat uns ruiniert, uns den letzten Pfennig genommen. Sie ist nur wegen Ihnen gekommen.«
»Das reicht.«
»Sie hat es auf jemand Reichen und Berühmten abgesehen, und Sie sind beides, oder? Jedenfalls reich und berühmt genug für sie. Es würde sie nicht einmal stören, wenn Sie geschieden wären. In dieser Hinsicht ist sie sehr modern.«
»Ich habe gesagt, das reicht!«, herrschte Julius sie an, schnappte sich seine Zeitung und ging steifbeinig Richtung Tür.
»Wie Sie wollen«, rief Fräulein Eberhardt ihm nach. »Aber sagen Sie bloß nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Sie tut immer so honigsüß, dabei ist sie das gar nicht. Sie hat überhaupt nichts Liebenswürdiges an sich.«
Am Nachmittag fuhr Julius zurück nach Berlin. Wegen dringender Geschäfte, wie er Nadine gegenüber angab, als sie Einwände erhob. Kein Friede den Gottlosen. Er war dankbar für die Ablenkung durch die heimkehrende Schlittschuhgesellschaft. Auf einmal waren überall Diener, wuselten mit Whiskygläsern und Glühweinkrügen herum, und der Salon war von lautem Gelächter erfüllt.
Er stand schon beim Wagen, als jemand seinen Namen rief. Widerstrebend drehte er sich um. Sie hatte ihre Malertracht gegen einen seidigen schwarzen Pullover getauscht, der ihre schmale Taille und die Rundung ihrer Brüste betonte. Julius wandte den Blick ab. Sie war noch ein Kind, tadelte er sich, ein dummes, lästiges Kind. Der Chauffeur öffnete die Wagentür.
»Fräulein Eberhardt«, sagte er kühl. »Ist noch etwas?«
»Sie haben sich gar nicht von mir verabschiedet.«
Sie war viel kleiner, als er gedacht hatte, ihr Kopf reichte ihm kaum bis an die Schulter. Um den Hals trug sie eine Kette, die ihr über die Schlüsselbeine hing, ein goldenes Band mit einem Anhänger in Form eines winzigen Schlüssels.
»Sie sollten ins Haus gehen«, riet er ihr. »Ohne Mantel ist es zu kalt draußen.«
»Jetzt klingen Sie wie meine Mutter.«
»Ach ja? Dann sollten Sie vielleicht auf sie hören.« Er nickte dem Chauffeur zu und kletterte in den Wagen. »Guten Tag, gnädiges Fräulein.«
»Warten Sie«, hielt sie ihn zurück und legte eine Hand auf die Tür. »Sie müssen nicht abreisen.«
»Doch, ich muss. Ich bin auch schon spät dran.«
Fräulein Eberhardt zögerte. Sie zitterte, ihre Lippen waren blau angelaufen. »Aber nicht wegen der Dinge, die ich zu Ihnen gesagt habe, oder?«
»Sie leiden an bemerkenswerter Selbstüberschätzung, aber nein, Kindchen, ich fahre nicht, weil Sie Ihre Mutter beleidigt haben.«
»Ich bin kein Kind mehr.«
»Nicht? Dann hören Sie endlich auf, sich wie eins zu benehmen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich möchte meinen Zug nicht verpassen.«
Fräulein Eberhardt schwieg. »In Wirklichkeit ist sie gar nicht so«, sagte sie mit leiser Stimme. »Nicht so, wie ich zu Ihnen gesagt habe. Da.«
Sie zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Tasche und hielt es ihm vor die Nase. Verwirrt nahm er es entgegen. Als der Chauffeur die Wagentür zuschlug, lief sie zum Haus. Julius sah, wie sich die Eingangstür öffnete und sich dabei die Silhouette ihrer schlanken Figur vor dem hellen Licht aus dem Haus abzeichnete. Dann fiel die Tür wieder zu, und sie war verschwunden.
Der Wagen glitt die baumgesäumte Straße entlang, die zum See führte, die Scheinwerfer zwei Lichttunnel in der zunehmenden Dämmerung. Bleiche Bäume tauchten aus dem Dunkel auf und verschwanden wieder. Julius blickte auf den gefalteten Zettel in seiner Hand, dessen Kanten ihn in die Handfläche schnitten, und steckte ihn mit einem Seufzer ungeöffnet in die Tasche.