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VIII

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»Er geht Ihren Terminkalender durch.«

Julius starrte seine Haushälterin mit offenem Mund an. »Was haben Sie gesagt?«

»Herr Rachmann, wenn er hierherkommt.« Frau Lang zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand. Sie hatte etwas Bockiges, sogar in ihrem Bemühen, die Tränen zurückzuhalten. »Er fragt Fräulein Grüber aus, will wissen, was Sie unternehmen, mit wem Sie sich treffen. Das ist nicht recht.«

Julius musste daran denken, wie Matthias in der Tür zum Morgensalon gestanden und gelacht hatte und wie Fräulein Grüber errötet war, als er ihr eine gute Nacht gewünscht hatte. Wütend schüttelte er den Kopf. »Das reicht jetzt, hören Sie?«

»Fragen Sie doch Fräulein Grüber, wenn Sie mir nicht glauben.«

»Es reicht, habe ich gesagt. Sie werden jedem meiner Gäste den gebührenden Respekt entgegenbringen, sonst müssen wir uns über Ihre Stellung hier in diesem Haus Gedanken machen, verstanden?«

Frau Lang zog das Gesicht in Falten. Wortlos und mit unsicheren Schritten zog sie sich zurück. Julius nahm seufzend die Brille ab und rieb sich die Augen. Frau Lang war immer unmöglich gewesen, aber er hätte nicht gedacht, dass sie zu solcher Niedertracht fähig wäre. Ihre Aversion gegenüber Matthias war inakzeptabel und nichts anderes als eine giftige Mischung aus Eifersucht, Dünkel und Übellaunigkeit. Seine bescheidene Herkunft, seine Jugend, seine Offenheit, ja sogar seine tadellosen Manieren hatte sie ihm von Anfang an angekreidet. Und doch blieben ihre Vorwürfe haften, ließen sich nicht so leicht abschütteln. Eines Morgens, als Fräulein Grüber mit ihrem Stenoblock aus dem Arbeitszimmer huschen wollte, rief er sie zurück.

»Da wäre noch etwas«, sagte er. »Stimmt es, dass Sie private Informationen über mich an Herrn Rachmann weitergeben?«

Fräulein Grübers Wangen leuchteten rot. Auf einmal wollte Julius es am liebsten gar nicht mehr wissen. Er verschränkte die Arme, die Ellbogen fest umklammert. »Ist das ein Ja, Fräulein Grüber?«

»Es tut mir furchtbar leid. Das hätte ich nicht machen dürfen, ich weiß, aber …«

»Aber was?«

Sie zuckte zusammen und ließ kläglich den Kopf hängen. »Na ja, er hat mich halt gefragt, kurz nachdem Frau Lang ihn in Ihrem Beisein heruntergeputzt hatte, weil er unangemeldet gekommen war. Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr daran, aber es war ihm furchtbar peinlich, er hat befürchtet, sie würden ihn nicht mehr treffen wollen, und wenn er doch käme, wären Sie zu höflich, um ihn abzuweisen, dabei würden Sie nur darauf warten, ihn wieder loszuwerden. Er wirkte völlig ratlos, und als er mich gefragt hat, dachte ich, es schadet ja keinem und ich könnte helfen.« Ihre Stimme zitterte. »Es war falsch, das sehe ich jetzt ein, ich hätte es nicht machen dürfen – es tut mir so leid.«

Julius dachte an all die Abende zurück, an denen Matthias unangemeldet in die Meierstraße gekommen war, mit was für einem untrüglichen Gespür er immer gerade jene Abende gewählt hatte, an denen Julius ganz bestimmt zu Hause war, und lachte leise in sich hinein. Er wäre nie darauf gekommen, dass Matthias’ Einfühlungsvermögen auch von einem guten Teil Durchtriebenheit herrührte.

»Ich nehme an … ich nehme an, Sie wünschen, dass ich meine Sachen packe«, sagte Fräulein Grüber, ohne ihn anzusehen, doch Julius schüttelte den Kopf.

»Ich wünsche nichts dergleichen. Wenn Herr Rachmann so entschlossen ist, mir keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, warum um alles in der Welt sollte ich ihm dabei im Weg stehen?«

Fräulein Grüber runzelte zweifelnd die Stirn. »Dann sind Sie also nicht böse auf mich?«

»Ganz im Gegenteil, ich erteile Ihnen die Erlaubnis, Herrn Rachmann Auskunft über alles zu geben, was er erfahren möchte. Seine Gewissenhaftigkeit spricht für ihn, auch wenn Frau Lang da vielleicht anderer Meinung ist.«

Böhm rief an. Nach monatelanger Verzögerung sei endlich ein erster Gerichtstermin vereinbart. Die Parteien würden vor Gericht ihre Anträge stellen und die Zeugenaussagen der Gegenseite zugänglich machen. Nichts wäre entschieden, es würde nur ein Termin für die Hauptverhandlung festgelegt werden. Julius’ Anwesenheit sei demnach nicht erforderlich. Was nicht verhinderte, das Harald Baeck ihn in seinen Träumen heimsuchte.

Böhm kam in die Meierstraße, um Frau Langs Aussage aufzunehmen. Nervös wie ein Schulmädchen saß sie auf ihrem Stuhl, die Knie zusammengepresst. Der Anwalt ging behutsam vor. Er nahm einen Aktenordner aus seinem Koffer, schlug ihn auf und reichte ihn ihr.

»Bitte sehen Sie sich dieses Foto an und sagen Sie mir, ob Sie den Mann darauf erkennen.«

Frau Lang zog eine Grimasse. Sie blickte kurz auf das Bild und sofort wieder weg. »Ja«, bestätigte sie. »Das ist er.«

Böhm arbeitete seine Fragen ab. Während sie antwortete, färbte sich ihr Hals erst rosa, dann tiefrot. Als Böhm fertig war, lächelte er sie an.

»Sie waren uns eine große Hilfe, danke. Haben Sie noch etwas hinzuzufügen, etwas, was wir vielleicht vergessen haben?«

Die Haushälterin zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber da war ein braunes Muttermal, ein dunkelbraunes, auf seinem … seinem …« Sie drückte den Daumen auf ihren rechten Oberschenkel.

»Ein Muttermal? Sind Sie sicher?«

Frau Lang nickte, und Böhm machte sich lächelnd eine Notiz. »Danke, Frau Lang. Sie haben uns sehr geholfen.«

»Allerdings, wenn ich darüber nachdenke«, sagte sie, plötzlich doch unsicher, »kann es auch das andere Bein gewesen sein.«

»Ich glaube, das wäre dann alles, nicht wahr, Herr Böhm?«, schaltete sich Julius schnell ein. »Frau Lang, bleiben Sie bitte hier. Ich bringe Herrn Böhm hinaus.«

In der Eingangshalle schüttelte er Böhm die Hand. »Sie werden … also … es tut mir leid, dass Frau Lang so durcheinander war. Dieser Baeck war eben, ähm, nicht der Erste.«

Er wandte betreten den Blick ab. Frau Lang im Arbeitszimmer saß immer noch auf ihrem Stuhl, in der Hand ein zerknülltes Taschentuch.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »das mit dem Muttermal.«

»Schon gut, das ist nicht schlimm, ich habe es Herrn Böhm erklärt. Aber wir müssen vorsichtig sein. Vergessen Sie nicht, es geht um einen Mann. Den Mann auf dem Foto. Keinen anderen.«

Frau Lang starrte wortlos auf ihren Schoß.

»Sie sind eine gute Frau, Frau Lang, eine gute Christin. Ich würde niemals von Ihnen verlangen zu lügen. Herr Baeck hat eine Erklärung unterzeichnet, in der er seine Beteiligung zugibt. Wir brauchen seine Aussage nur noch zu bestätigen. Der Rest geht keinen etwas an. Wir müssen doch auch an Luisas Eltern denken, an den kleinen Konstantin. Sie würden einen möglichen Skandal nicht verkraften. Fassen wir uns ein Herz und lassen Gnade walten, wenn schon nicht um Luisas willen, dann um ihretwillen.«

Am Tag vor dem Gerichtstermin bekam Julius einen Umschlag mit maschinengeschriebener Adresse und Münchner Poststempel zugeschickt. Darin befand sich nur ein Foto von Konstantin an einem See, ohne Begleitbrief. Konstantin konnte also schon allein stehen. Er hatte den Babyspeck abgelegt, wirkte kantiger, sein seidiges Babyhaar war nun dicht und lockig. Als Julius den Jungen betrachtete, zu dem sein Baby geworden war, sah er einen Fremden vor sich, der ihm noch fremder geworden war, und in ihm tat sich ein Abgrund der Einsamkeit auf, so tief und so abrupt, dass ihm schwindlig wurde. Er schloss die Augen, und aus seinem Innern schien Luisas Stimme zu ihm zu sprechen.

Bei einem blöden Gemälde oder einer Steintafel öffnest du dich, lässt dir davon das Herz brechen, aber bei einem echten Menschen, einem lebenden, atmenden Wesen mit all seinen Ängsten und Schwächen und Fehlern nimmst du Reißaus, fühlst dich abgestoßen. Nach Konstantins Geburt waren sie beide über die Heftigkeit ihrer Gefühle für ihn erschrocken. Julius hatte sie mit dem Kind beobachtet, und trotz alledem empfand er ehrfürchtige Bewunderung und auch so etwas wie Sehnsucht. Er konnte nicht ermessen, was es mit jemandem machte, so sehr geliebt zu werden.

Minutenlang versank er im Anblick des Fotos. Sein Kaffee wurde kalt. Als Frau Lang zum Abräumen des Frühstücks hereinkam, ging er nach oben. Die Arche Noah stand immer noch auf dem Tisch im Kinderzimmer. Julius strich über das glänzende Papier, dann zog er daran, riss das Paket auf. Die bunt lackierte Arche ließ sich auf einer Seite öffnen, sodass die Tierpaare darin zum Vorschein kamen. Er kniete sich nieder und kippte sie auf den Boden. Wegen des dicken Teppichs standen die Tiere wackelig, trotzdem stellte er sie in einer langen Reihe auf, angefangen bei den kleinsten, von den bunt gefiederten Vögeln bis zu den Elefanten und den Giraffen mit ihren langen Hälsen. Als die Tiere aufgereiht waren, platzierte er Noah und seine Frau nebeneinander am oberen Ende des Landungsstegs. Noah lächelte breit in seinen Bart hinein. Er wirkte nicht wie jemand, der sich auf eine Katastrophe vorbereitete. Unter dem roten Kopftuch seiner Frau lugten kugelrunde, tiefblaue Augen hervor.

Vom langen Knien schliefen Julius die Beine ein, und seine Hüfte schmerzte unerträglich. Humpelnd hob er das Geschenkpapier auf und knüllte es zu einer Kugel zusammen. Die Tiere ließ er stehen, wo sie waren. Dort warteten sie geduldig, jeweils zwei an der Zahl.

Am Abend kam Matthias unangekündigt vorbei. Julius erwog halb, ihn wegzuschicken, ihm war nicht nach Gesellschaft zumute, doch zu seiner eigenen Überraschung tat ihm die Ablenkung dann doch gut. Sie sprachen nicht über die Scheidung. Julius hatte Matthias gegenüber nichts von dem Gerichtstermin erwähnt. Er hatte keine Lust auf Fragen, die er nicht beantworten wollte. Sie kamen auf die Gemälde zu sprechen, die das Kölner Wallraf-Richartz-Museum kürzlich angekauft hatte. Es hatte sich herumgesprochen, dass der neue Direktor für moderne Kunst auf Einkaufstour gewesen war, der Mann verstand sich meisterhaft auf Selbstvermarktung und wusste genau, wie er das Interesse der Zeitungen wecken konnte. Besonders ein Gemälde, teilte er den Reportern mit, werde für Furore sorgen, allerdings müssten sie bis zur feierlichen Enthüllung in Anwesenheit der deutschen Prominenz warten, um herauszufinden, um welches es sich handelte. Gerüchten zufolge hatte er bei van Goghs Sonnenblumen die National Gallery in London aus dem Rennen geschlagen.

Matthias hatte eines der Sonnenblumen-Bilder nach dem Krieg in München gesehen. Er hatte nicht gewusst, dass van Gogh die Bilder eigentlich als Teil eines Triptychons geplant hatte; zwei Sonnenblumenbilder, eines auf gelbem, das andere auf türkisfarbenem Grund, sollten ein Porträt von Augustine Roulin an der Wiege einrahmen. Madame Roulin, die Frau des mit ihm befreundeten Postmeisters, hatte ihn während einer Krankheit gepflegt.

»Er sah die Sonnenblumen als Lampen«, erklärte Julius. »Als Kandelaber, die seine weltliche Madonna anstrahlten. Es war außergewöhnlich, in diesen wenigen Wochen in Arles wurde er von einer Art Zauber erfasst, sein Pinsel musste die Leinwand nur berühren und sie erwachte zum Leben. Zwei vollständige Triptychen in wenigen Wochen, vielleicht auch mehr. Stell dir nur die leuchtenden Bilder auf den weiß getünchten Wänden im gelben Haus vor.«

Matthias lächelte. »Mir gehören die Sonnenblumen. Hat er das nicht an Theo geschrieben?«

»Und sie gehörten ihm auch und werden ihm immer gehören, auch wenn dieser schleimige Mistkerl Gauguin noch so sehr das Gegenteil behauptet. Kennst du die Geschichte nicht? Gauguin schrieb später, Vincent habe die Bilder nur auf seine Anregung hin gemalt, es sei Gauguins Idee gewesen, ›Sonnenblumen über Sonnenblumen im vollen Sonnenschein‹ zu malen. Da war Gauguin natürlich schon verarmt und lag im Sterben und hatte Angst, in Vergessenheit zu geraten. Besser, für die Meisterwerke von jemand anderem gewürdigt zu werden, als überhaupt nicht.«

»Vincent hat viele, viele schlechte Bilder gemalt, aber seine großen Werke lassen einen verzagen«, sagte Julius später. Inzwischen war er betrunken, die Worte kamen lallend und schwer aus seinem Mund. »Ja, man sieht die Qualen, aber irgendwie liegt in ihnen keine Ernüchterung oder Bitterkeit. Da ist nur der Pinsel, der immer und immer wieder in sein pochendes, zerbrochenes Herz taucht.«

»Was meinst du mit schlechten Bildern?«, wollte Matthias wissen.

»Vincent war Autodidakt, er war ungeduldig und verehrte die falschen Künstler. Viele seiner frühen Werke sind unbeholfen. Schon damals jedoch gab er sich voll und ganz dem Malen hin, mit jeder Faser seiner selbst.«

Und noch später, bei einer Flasche Cognac in seinem Arbeitszimmer: »Hier hat er mal gehangen, der van Gogh, meine Frau hat ihn gestohlen. Sie hat ihn mitgenommen, als sie mich verließ.«

»So sehr hat sie das Bild geliebt?«

»Sie hat es gehasst, und trotzdem hat sie es mitgenommen. Als Pfand. Sie wollte sichergehen, dass ich mich ihr gegenüber großzügig zeige.«

»Dazu hätte sie das Bild nicht mitnehmen müssen.«

Julius dachte an Harald Baecks Gesicht in dem überfüllten Bahnhof, daran, wie alle Farbe daraus gewichen war. »Wie kannst du das behaupten?«, sagte er bitter. »Du weißt nicht, zu welchen Grausamkeiten ich fähig bin.«

»Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist.«

»Das bin ich nicht. Ich bin kein guter Mensch.« Die Art, wie Matthias ihn daraufhin ansah, brachte Julius fast zum Weinen. »Ich kann mir das Leben ohne dieses Gemälde nicht vorstellen, dabei habe ich einen Sohn. Was ist das für ein Mensch, dem ein Gemälde wichtiger ist als sein eigener Sohn?«

»Aber du hast dich doch noch gar nicht entschieden.«

»Nach außen hin vielleicht nicht. Aber was auch immer ich sage, was auch immer mein Anwalt im Gerichtssaal für mich fordert, ich weiß, dass es anders ist. Ich habe mich entschieden.«

Matthias schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Die tiefsten Wünsche unseres Herzens suchen wir uns nicht aus. Unsere einzige Entscheidung besteht darin, ob wir danach handeln oder nicht. Ob das Leid, das wir verursachen …«

Er brach ab, die Hände zu Fäusten geballt, doch Julius war zu betrunken, um etwas anderes als seinen eigenen Schmerz wahrzunehmen. »Und was soll mir das helfen?«, fragte er. »Glaubst du denn, das Wissen, dass du dich nicht ändern kannst, dass du tief im Kern verdorben bist, macht irgendetwas besser, nimmt dir die Schuld, das Schamgefühl?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Was weißt du schon davon, jemand wie du, dem es im Leben nur um die Schönheit geht?«

»Denkst du denn, ich habe keine Geheimnisse, ich schäme mich nie für das, was ich bin?«

Julius lachte freudlos. »Du bist jung. Jeder will geheimnisvoll sein, wenn er jung ist.«

»So ist es nicht, nicht bei mir.«

»Nein? Dann sag es mir. Komm schon, erzähl mir deine peinlichen kleinen Geheimnisse.«

Matthias spannte den Kiefer an, ballte die Hände so fest zusammen, als wollte er sich dafür wappnen, etwas zu sagen. Dann stand er unvermittelt auf und verließ den Raum.

»Warte, wo willst du hin?«, rief Julius ihm nach. »Himmel noch mal, Matthias, komm zurück.« Schwankend stand er auf, torkelnd vor Trunkenheit, und stieß das Glas zu Boden. Auf dem Parkett breitete sich eine Cognacpfütze aus.

Krachend fiel die Haustür ins Schloss. Julius stand wankend in der Tür des Arbeitszimmers. Er begriff kaum, was gerade geschehen war. Er rieb sich die Stirn, drückte mit den Fingern auf die Schläfen, doch der Alkohol machte ihm das Denken schwer, und er hatte das Gefühl, als würden weder seine Hände noch sein Gesicht ihm gehören. Er drückte stärker, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und ließ den Kopf gegen den Türpfosten sinken. Die kahle Wand im Arbeitszimmer starrte ihm im Feuerschein des Kamins entgegen, triumphierend leer.

Frau Lang fand ihn am nächsten Morgen im Kinderzimmer, wo er im Sessel schlief. Sie beäugte seinen derangierten Abendanzug, die Arche Noah mit den Tieren, die nicht mehr paarweise aufgereiht standen, sondern verstreut herumlagen, und brachte ihm ein Tablett mit starkem Kaffee und zwei Aspirin, die sie ordentlich auf der Untertasse drapiert hatte. Unten im Arbeitszimmer hatte bereits jemand das zerbrochene Glas weggeräumt. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Schneeglöckchen, den ersten Frühlingsblumen, und das Zimmer roch nach Bienenwachs und Lavendel. Er bat Fräulein Grüber, die Arche Noah zu Konstantin nach München schicken zu lassen.

»Und zwar heute noch«, ordnete er an. Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, das er in einen Umschlag steckte. »Das soll beigelegt werden.« Auf dem Blatt nur eine einzige Zeile: Ich denke immer an dich, dein dich liebender Papi. Ein Wort mehr und er hätte sich nicht mehr im Zaum halten können. Er bat die Stenotypistin, ihm ein Taxi zu rufen. Er habe eine dringende Verabredung in der Stadt.

»Und geben Sie Frau Lang Bescheid, sie möchte mir Herrn Rachmanns Mantel und Hut nach oben bringen, ja?«, fügte er hinzu. »Ich liefere die Sachen unterwegs bei ihm in der Galerie ab.«

Er wartete im Arbeitszimmer auf das Taxi, die Hände in den Taschen vergraben, und blickte reglos in den Garten hinaus. Eine Hand umschloss Noahs Frau. Er zog die Figur heraus und drehte sie zwischen den Fingern. Sie starrte ihn mit ihren blauen Knopfaugen an. Dann öffnete er die Schublade seines Schreibtisches, warf sie hinein und ging hinaus.

Die Straße war eng und kopfsteingepflastert, die Backsteingebäude schienen sich verschwörerisch aufeinander zuzubewegen, wie um den Himmel auszusperren. Die meisten Häuser beherbergten kleine Geschäfte, einen Eisenwarenladen, einen Frisör, einen Tabakladen, dessen schmales Schaufenster mit gelbem Zellophan bezogen war. Die Schilder wirkten verwittert, die Farbe blätterte ab. Mehrere waren mit Brettern vernagelt. Auf halber Höhe der Straße lud ein Kohlenhändler Säcke von seinem Wagen in eine offene Kellerluke. Sein Pferd glotzte Julius teilnahmslos an. Es hob den Schwanz und ließ eine Portion saftige Pferdeäpfel fallen.

Bei Hausnummer 98 stand auf einem Pappschild an der zweiten Klingel von oben Galerie für alte & neue Kunst. Die Pappe war wellig und aufgeweicht vom Regen. Julius war aus unerfindlichen Gründen nervös. Er holte tief Luft, strich Matthias’ Mantel über seinem Arm glatt und läutete.

Niemand kam. Drei Stockwerke waren ein langer Weg, wenn man keinen Besuch erwartete. Er läutete noch einmal und ließ den Finger auf der Klingel. Gedämpft hörte er sie im Innern des Hauses krächzend widerhallen. Immer noch niemand. Julius trat einen Schritt von der Tür zurück. Vielleicht war Matthias ausgegangen. Oder vielleicht, dachte Julius beunruhigt, hatte er die Klingel gehört und wollte ihn nicht sehen. Vielleicht war er immer noch verärgert, aufgebracht. Und wartete bloß darauf, dass Julius ging. Während Julius so dastand und zu den Fenstern des dritten Stocks hinaufspähte, kam ihm in den Sinn, dass Matthias ihn nicht ein einziges Mal in die Neue Grünstraße eingeladen hatte, obwohl er über sein frisch gegründetes Unternehmen doch so begeistert gewesen war. Der Gedanke war wie ein Schatten, der über ihn hinwegzog, und ließ ihn frösteln. Als er Schritte im Haus hörte, wäre er am liebsten davongelaufen. Stattdessen zwang er sich zu lächeln.

Die Tür öffnete sich. Ein großer, untersetzter Mann blickte ihn finster an. Er trug ein kragenloses Hemd, nicht allzu sauber, die aufgerollten Ärmel entblößten kräftige, dunkel behaarte Unterarme. Julius nahm an, dass es Matthias’ Bruder war, obwohl sie einander nicht die Spur ähnelten. Er hatte sich einen Geschäftsmann vorgestellt, mit angenehmen Manieren und im Anzug, dieser Mann hingegen wirkte wie ein Raufbold. Er roch nach Zigaretten und Terpentin.

»Was ist?«, fragte der Mann und klemmte den Stiefel in die Tür, um sie offen zu halten.

»Ich … ich hatte eigentlich gehofft, Herrn Rachmann anzutreffen«, sagte Julius und sah auf den Mantel über seinem Arm und den Hut in seiner Hand. »Ich habe ein paar Sachen von ihm. Sind Sie sein Bruder?«

Der Blick des Mannes wurde noch finsterer. »Wer will das wissen?«

Julius nahm eine abweisende Haltung an. Vielleicht waren es doch Brüder. Er schürzte auf dieselbe Art wie Matthias die Lippen und zog dabei die Wangen ein, aber während es bei Matthias immer so aussah, als müsste er sich das Lachen verkneifen, wirkte sein Bruder, als würde er ihm gleich einen Faustschlag verpassen. Er strahlte eine Präsenz aus, die das gesamte Licht dieses grauen Nachmittags aufzusaugen schien.

»Mein Name ist Köhler-Schultz«, sagte Julius kühl. »Ich bin ein Kollege von Matthias. Ein Freund.«

Da veränderte sich die Miene des Mannes. Er beugte sich vor und kräuselte spöttisch und verächtlich die Lippen. »Sein Freund? Scheiße, Sie sind wirklich ein arrogantes Arschloch.« Höhnisch räusperte er sich und spuckte einen schleimigen Klecks auf das Pflaster neben Julius’ Fuß. Dann trat er zurück und knallte die Tür zu.

»Was zum Teufel glauben Sie, wer Sie sind?«, brüllte Julius und drückte erneut auf die Klingel, immer wieder, bis er ihr durchdringendes Krächzen in den Zähnen spürte, aber dieses Mal kam niemand.

Er kehrte mit Matthias’ Mantel und Hut in die Meierstraße zurück. Matthias konnte sie bei seinem nächsten Besuch mitnehmen. Als das Telefon klingelte, fuhr er zusammen und eilte in den Morgensalon, wo Fräulein Grüber ihm den Hörer reichte. Aber nicht Matthias, sondern Böhm war am Apparat. Er klang finster. Es habe sich ein unerwartetes Problem ergeben. Luisas Anwalt habe nicht nur die Forderungen in Julius’ Scheidungsklage zurückgewiesen, sondern bei Gericht eine Gegenklage eingereicht, mit Julius als Beklagtem.

»Das können sie doch überhaupt nicht«, schimpfte Julius erbittert. »Unsittliches Verhalten, meine Güte. Was soll das überhaupt bedeuten?«

»Das werden wir erst herausfinden, wenn wir die Klageschrift gesehen haben. Natürlich besteht immer die Möglichkeit, dass sie nur bluffen, das Verfahren hinauszögern wollen, um Sie zum Verhandeln zu zwingen. Es tut mir leid, Sie das fragen zu müssen, aber könnte es sein, dass Ihre Frau vielleicht doch etwas gegen Sie in der Hand hat?«

Julius verdrängte den Gedanken an Harald Baeck und ließ sich ganz von dem bitteren Zorn erfüllen, der in ihm aufstieg. »Sie wissen, was sie hat. Mein Kind und mein Bild.«

An jenem Abend kam Matthias nicht in die Meierstraße. Julius hielt es nicht hinter seinem Schreibtisch aus, die leere Wand starrte ihn vorwurfsvoll an. Er nahm das dünne Bündel mit Luisas Briefen, das er nie hatte wegwerfen können, und ließ einen Brief nach dem anderen ins Feuer fallen, aber es half nichts. In den Flammen sah er Matthias vor sich, seine verletzte Miene, als er aus dem Arbeitszimmer gestürzt war. Auch was Matthias’ Bruder gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn, seine höhnische Verachtung. Sie sind wirklich ein arrogantes Arschloch. Unsittliches Verhalten, dachte er, und sein Magen verkrampfte sich zu einem Knoten aus Unbehagen, Wut und Schuld.

Im gleißenden Licht der Sonne

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