Читать книгу Im gleißenden Licht der Sonne - Clare Clark - Страница 12
VII
ОглавлениеIn den Wochen nach Julius’ Rückkehr aus München war Matthias häufig in Berlin. In Geschäften, wie er vage angab, und Julius bohrte nicht nach. Er freute sich, dass der junge Mann ihn regelmäßig besuchte. Inzwischen meldete er sich gar nicht mehr an, sondern schaute einfach auf dem Weg von einer Besprechung oder zu einem Abendessen vorbei, und auch wenn Frau Lang kein Geheimnis aus ihrer Missbilligung machte, gefiel Julius gerade das Spontane daran. Er kam selten ungelegen. Im Gegenteil, er schien einen untrüglichen Instinkt für den richtigen Moment zu besitzen und wählte stets jene Abende für seine Besuche, an denen Julius’ Termine früh endeten oder er allein zu Abend aß. Gelegentlich brachte er ihm ein Gemälde zur Echtheitsprüfung mit. Oft auch nicht. Er hatte die Angewohnheit, sich beim Zuhören vorzubeugen, als würde er die Worte durch die Haut absorbieren.
»Versprich mir, mich in die Wüste zu schicken, sobald du meiner überdrüssig wirst«, verlangte er, und auch wenn Julius es ihm lachend versicherte, gab es keinen einzigen Abend, an dem sich Julius beim Abschied nicht wünschte, der junge Mann würde noch ein bisschen länger bleiben. Er dachte an all die geistlosen Kreaturen auf Luisas Feiern, die meisten in Matthias’ Alter, wie sie herumgehüpft waren und gekreischt hatten und besoffen umgefallen waren; sie kreischten aus Angst vor der Stille, wie Kinder, die Reise nach Jerusalem spielen. In seiner Jugend hatte natürlich auch Julius mit seinen Freunden nächtelang gezecht und dabei endlos geredet, doch es war kein fieberhaftes, inhaltsloses Koksgeschwafel, sondern ein wunderbares, ausführliches Spinnen von Ideen über Literatur, Philosophie und Kunst gewesen. Sie hatten alles durchdringen, alles fühlen wollen. Matthias war genauso.
Im gelben Haus in Arles hatte van Gogh davon geträumt, eine Künstlerkolonie zu gründen. Wenn man doch nur zehn Menschen in jedem Land finden würde, die sich zusammentun mit der einfachen Absicht, für das Gute zu arbeiten, würde die Welt aufblühen wie eine Blume, schrieb van Gogh an Theo. Seine Kräfte schwanden, aber seine Kunst würde fortdauern. Bis zum Horizont, eine Unendlichkeit schöner Dinge. Obwohl, Letzteres stammte vielleicht auch von Julius. Er wusste gar nicht mehr so genau, wo Vincent aufhörte und seine eigene Phantasie anfing.
Er war gerade dabei, seine Manschettenknöpfe zu befestigen, als Frau Lang an die Tür zum Ankleidezimmer klopfte, empört und atemlos.
»Herr Rachmann ist da. Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass Sie ausgehen, aber er hat sich nicht abwimmeln lassen. Es ist angeblich sehr dringend, obwohl ich nicht wüsste, was so dringend sein sollte.«
Julius schnappte sich seinen Mantel und eilte nach unten. Matthias stand vor dem Kaminfeuer. Als Julius ins Zimmer trat, drehte er sich um, sein Gesicht strahlte vor Aufregung.
»Es tut mir leid, Julius, ich komme ungelegen, ich weiß, ich hätte anrufen sollen, aber ich muss gleich morgen früh nach Düsseldorf, und ich konnte nicht fahren, ohne es dir zu sagen.«
»Ohne mir was zu sagen?«
»Wir eröffnen eine Galerie.« Sein Grinsen war so breit, dass es sein Gesicht in zwei Hälften teilte. »Mein Bruder und ich, hier in Berlin. Man kann es kaum Galerie nennen, es ist nur ein einziger Raum. Ein Kabuff. Ein Kabuff im dritten Stock eines Hauses ohne Aufzug, das nicht gerade im Galerieviertel liegt. Neue Grünstraße 98. Heute Nachmittag haben wir den Mietvertrag unterschrieben.«
»Das sind ja wundervolle Neuigkeiten«, entgegnete Julius. »Gratuliere.«
»Danke. Ich kann es selbst noch nicht so recht fassen. Ich weiß nur, dass ich das alles dir zu verdanken habe.«
»Wohl kaum.«
»Doch, wirklich. Erinnerst du dich nicht mehr, bei einer unserer ersten Begegnungen habe ich zu dir gesagt, ich möchte einfach nur ernst genommen werden, und du hast geantwortet, wenn es mir mit der Kunst ernst ist, muss ich nach Berlin. Und hier bin ich.« »Dann freut es mich, dass ich es gesagt habe. Woran ich mich erinnere, ist, dass du dir ein glückliches Leben erhofft hast.«
»Und dank dir werde ich vielleicht eines haben. Wo außer hier kann man wirklich glücklich sein?«
Die Galerie sollte Galerie für alte & neue Kunst heißen. In diesem Namen steckte so viel von Matthias, dachte Julius, er hatte etwas Ungekünsteltes und doch Ehrfurchtsvolles. Matthias’ Bruder würde mit Antiquitäten handeln, Matthias mit moderner Kunst.
»Das müssen wir feiern«, sagte Julius. »Bleib doch auf einen Schluck. Oder, noch besser, bleib zum Essen.«
»Aber du willst gerade ausgehen.«
»Zu einem Abendessen, auf das ich nicht die geringste Lust habe. Frau Lang wird anrufen und mich wegen Krankheit entschuldigen. Ein so bedeutendes Ereignis muss man unbedingt würdigen.«
Matthias protestierte, er wolle sich nicht aufdrängen, und es sei viel zu spät, und außerdem sei er nicht passend gekleidet, doch Julius bestand darauf. Er trug Frau Lang auf, eine Flasche des 1900er Château Margaux zu öffnen, und sah mit Vergnügen zu, wie Matthias den ersten Schluck nahm, die geschmeidigen Tannine schmeckte, den langen, üppigen Abgang.
»O mein Gott«, sagte Matthias lachend. Julius stimmte mit ein.
»Auf die Galerie für alte & neue Kunst.« Er hob das Glas. Erst als die Flasche leer war, vertraute Matthias ihm an, dass er sich mit seinem Bruder bereits über die Zukunft ihres Geschäfts in die Haare geraten war. Gregor wollte, dass Matthias ihn beim Handel mit dekorativen Antiquitäten unterstützte, er hatte einen profitablen Vertrag mit einem großen Berliner Warenhaus an Land gezogen. Julius stellte sich vor, wie Matthias in dem mit Imitaten griechischer Skulpturen angefüllten Lichthof des Warenhauses Wertheim mit Amphoren hantierte, und schüttelte entsetzt den Kopf.
»Aber das geht doch nicht. Das wäre ja fast so, als würdest du an der Haustür Enzyklopädien verhökern.«
Matthias zuckte die Achseln. »Gregor hat das Armsein satt. Er findet es verrückt, seinem Herzen zu folgen, wenn es auch einen leichteren Weg gibt. Möglicherweise stimmt das ja auch.«
»Das meinst du doch nicht wirklich.«
»Nein. Aber vielleicht werde ich es mit der Zeit lernen.«
»Oder du suchst dir einen anderen Partner. Einen Partner, der dich unterstützt und der dasselbe will wie du.«
»Bei dir klingt es, als gäbe es solche Männer an jeder Ecke.«
»Es gibt genug davon, Matthias, man muss nur wissen, wo man zu suchen hat«, entgegnete Julius. Er beugte sich über den Tisch. »Ich kenne viele Leute, Matthias.«
Matthias schüttelte den Kopf. »Das ist sehr nett von dir«, sagte er steif. »Aber ich kann dir nicht derart zur Last fallen.«
»Warum nicht? Ich bin im Moment noch nicht in der Lage, selbst zu investieren, aber unter meinen Freunden gibt es Sammler, vermögende Männer, die immer nach …«
»Hör auf. Bitte.«
»Ich verstehe dich nicht«, entgegnete Julius verwirrt. »Ich will dir doch helfen.«
»Das weiß ich, und ich bin dir sehr dankbar, aber ich kann es nicht annehmen, verstehst du das nicht? Ich bewundere dich sehr und will nicht dein Protegé sein, dein … dein wohltätiges Projekt, ich möchte mir deinen Respekt verdienen. Dir eines Tages ebenbürtig sein, wenn ich kann. Oh, ich weiß, wie arrogant das klingt, aber so meine ich es nicht, ich will nur … ich will es selbst schaffen, ich möchte dir beweisen, dass ich es aus eigener Kraft kann.« Er machte ein betroffenes Gesicht. »Hoffentlich habe ich dich jetzt nicht beleidigt.«
»Natürlich nicht«, sagte Julius leise. »Verzeih mir. Ich bin derjenige, der eine unpassende Bemerkung gemacht hat.«
Später gingen sie noch auf einen Schlummertrunk ins Hotel Eden. Julius sah keinen Grund, das Haus zu verlassen, aber Matthias bestand darauf. Er bestellte erlesenen Cognac.
»Den besten, den Sie haben«, sagte er zum Kellner und lächelte Julius zu. »Wir trinken immer deinen Wein, aber heute Abend lade ich ausnahmsweise einmal dich ein. Danke, mein Freund. Auf dich. Auf uns.«
Es war schon sehr spät, als Julius in die Meierstraße zurückkehrte, und er war ziemlich betrunken. Frau Lang schnaubte tadelnd, als sie ihn hereinließ, und er lachte und drückte ihr einen herzhaften Schmatz auf die Wange.
»Herrje, Frau Lang, hat Ihre Mutter Ihnen nie gesagt, Sie sollen nicht so die Stirn runzeln, weil Sie sonst Falten bekommen?«, fragte er sie, fasste sie um die Taille und wirbelte sie mit einigen unbeholfenen Walzerschritten herum.
Nachdem Matthias nach Berlin gezogen war, hoffte Julius, er würde ihn von nun an öfter sehen. Doch seine Besuche wurden spärlicher. Die neue Galerie schien seine gesamte Zeit in Anspruch zu nehmen. Er schneite immer noch gelegentlich herein, brachte Julius Bilder zur Begutachtung, doch allzu oft hatte er kaum seinen Mantel abgelegt, als er schon wieder aufbrach.
»Bleib doch auf ein Glas«, sagte Julius jedes Mal, aber Matthias lehnte immer ab, war immer auf dem Sprung. Vielleicht lag es an Berlins mörderischem Tempo oder an der berühmten Berliner Luft, jedenfalls schien er trotz seines gnadenlosen Terminkalenders niemals müde zu werden. Wenn Julius seine Begeisterung sah, die freudige Erregung, die sein Gesicht leuchten ließ, kam er sich neben ihm manchmal sehr alt vor.
»Da steckt doch wohl kein Mädchen dahinter, oder?«, fragte er eines Abends beim Abschied.
Matthias warf ihm einen verwunderten Seitenblick zu. »Ein Mädchen? Nein, natürlich nicht.«
»Tja, ich hoffe, um diese Tageszeit sind es nicht die Geschäfte.«
»Ich bin bei Walter Ruthenberg zum Essen eingeladen.«
Jetzt war es an Julius, verwundert zu sein. Er hatte nicht gewusst, dass Matthias und Ruthenberg immer noch zusammenarbeiteten, geschweige denn so vertrauten Umgang pflegten, dass sie sich duzten. »Tatsächlich?«, sagte er kalt auflachend. »Dann solltest du vorher noch etwas essen. Ruthenberg ist für seine Genügsamkeit bekannt.«
»Sein Wein kommt nicht an deinen heran, das stimmt.«
Es war also nicht das erste Mal. Julius hätte gern gewusst, wann und wie oft sie sich schon getroffen hatten. Stattdessen zwang er sich zu einem Lächeln. »Dann komm morgen zu mir zum Essen. Um das Gleichgewicht wiederherzustellen.«
Matthias beugte sich über sein Gemälde, das Gesicht abgewandt. Einen kurzen, befremdlichen Moment lang hatte Julius Angst, er würde ihn auslachen, aber als Matthias aufsah, blickte er ihm freundlich, sogar zärtlich in die Augen. »Das mache ich gerne«, sagte er. »Sogar sehr gerne.«
Matthias war zu früh dran. Julius sah ihn von der Galerie aus, wie er an der Tür zum Morgensalon lehnte, die Hände in den Hosentaschen. Über die Schulter lächelte er Julius zu, der quer durch die Halle auf ihn zukam.
»Ich habe dich warten lassen, tut mir leid«, begrüßte ihn Julius.
»Ach wo. Das entzückende Fräulein Grüber hat mich unterhalten.«
»Das entzückende Fräulein Grüber hätte schon vor einer Stunde nach Hause gehen sollen.«
Die Stenotypistin errötete und griff nach ihrem Mantel. Im Arbeitszimmer mixte Julius Negronis und reichte einen davon Matthias.
»Wie lief es bei Ruthenberg?«, erkundigte er sich. »Wie war das Abendessen?«
»Er war sehr gastfreundlich. Das Abendessen eher … schlicht.«
»So schlicht und schwer verdaulich wie seine Bücher«, meinte Julius. Er wartete darauf, dass Matthias lachte. Doch dieser schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Julius, ich weiß, er ist dein großer Rivale, aber ich bewundere seine Arbeit sehr. Sie hat etwas Redliches.«
Julius konnte sich nicht erinnern, dass Matthias ihm je so offen widersprochen hatte. Verärgert kippte er seinen Cocktail hinunter. »Redlich, tatsächlich? So denkst du also?«
»Ehrlich gesagt, ja. Er schreibt mit solcher Sorgfalt, solcher Genauigkeit.«
»Er schreibt wie ein Schuljunge. Er schreibt über Kunst, als ließe sie sich erklären, sich mit Konstrukten des rationalen Denkens begreifen, aber Kunst ist nicht wie Geschichte oder Physik, sie kann nicht auf Fakten oder Formeln reduziert werden. Es hat nichts Redliches, mit dem Verstand heranzugehen, Positionen gegeneinander abzuwägen. Gemälde sind keine Kartoffeln. Um über Kunst zu schreiben, muss man sich die Stimme der Kunst aneignen, voller Leidenschaft direkt die Seele ansprechen.«
Schweigen. Matthias sah ihn an, seine grünen Augen waren unergründlich. Dann lächelte er verhalten. »Ich weiß«, sagte er und umfasste seine Hände, als wollte er Julius’ Worte mit ihnen einfangen.
Matthias war in Hochstimmung. Irgendwie hatte er seinen Bruder davon überzeugen können, dass es unklug wäre, sich zu einseitig auf die Belieferung des Warenhauses zu verlassen, und dass der Handel mit moderner Kunst, mit Besonnenheit und Umsicht betrieben, ein zweites stetiges Einkommen sichern konnte. Wenn Matthias früher einmal bereit gewesen war, mit geliehenem Geld zu spielen, hatte ihm der Trübner eine gehörige Lektion erteilt. Er war nicht Händler geworden, um Geld zu scheffeln. Er wollte eine neue Galerie moderner Kunst gründen, die man ernst nehmen konnte und die von Künstlern und Käufern gleichermaßen geschätzt wurde. Gemälde für Gemälde wollte er sein Geschäft aufbauen und mit jedem Schritt ein wenig dazulernen.
»Aber in einem irrst du dich«, sagte er, als sie beim Kaffee saßen.
»Geht es schon wieder um Ruthenberg?«
Matthias lächelte. »Was ihn betrifft, hast du mich überzeugt. Ich meine das, was du einmal zu mir gesagt hast – es sei unmöglich, als Kunsthändler ein glückliches Leben zu führen.«
»Meiner Erinnerung nach habe ich gesagt, es bricht einem das Herz, sich von schönen Dingen trennen zu müssen.«
»Genau. Und ich habe befürchtet, du hättest recht. Als ich klein war, war mein Vater Diener bei …«
»Ich dachte, dein Vater ist Schmied gewesen?«
Matthias zuckte zusammen. Zu spät fiel Julius ein, dass er diese Information von Salazin hatte. Sie musste nicht stimmen, und womöglich hatte Matthias etwas dagegen, dass Julius in seinen Privatangelegenheiten herumschnüffelte. Er überlegte gerade, ob er sich entschuldigen sollte, als Matthias die Achseln zuckte.
»Ja, als ich ganz klein war. Aber nach einem Unfall mit seiner Hand hat er sich als Diener verdingt. Ich habe oft bei ihm in der Küche gesessen, während er das Silber polierte, und mir gedacht, wenn ich einmal groß bin, will ich schöne Dinge besitzen. Wann immer ich mir in Museen Gemälde ansah, wünschte ich mir so sehr, sie würden mir gehören, doch in den letzten Monaten hat sich der Drang zu erwerben, zu besitzen verflüchtigt. Ich verkaufe ein Werk, aber ich verliere es deswegen nicht. Seine Schönheit, seine Kraft bleiben bei mir, weil seine Essenz und sein Geist mit dem, was mich ausmacht … ich kann es nicht in Worte fassen, nicht so wie du. Jedenfalls stelle ich es mir vor wie bei einer Mauer nach einem heißen Tag, die Wärme ist in den Ziegeln gespeichert, auch nachdem die Luft sich abgekühlt hat …« Er verstummte, die Wangen hochrot. »Ich kann es nicht erklären. Sag mir, ich soll den Mund halten, bevor ich es noch schlimmer mache.«
Julius schwieg. Er dachte an den van Gogh, an das wilde, überschäumende Verlangen, das ihn beim Anblick dieses Bildes erfüllt hatte, an den leidenschaftlichen Wunsch, es zu besitzen, es in sich aufzusaugen, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er dachte an Luisas makelloses Gesicht, an die Verachtung, mit der sie ihn angesehen hatte, als wäre er der größte Fehler ihres Lebens. Deshalb hast du mich doch ausgesucht, als weiteres Ausstellungsstück für dein verdammtes Museum!
Matthias trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse auf den Unterteller zurück. Dann lächelte er Julius schief an. »Ach ja, der Idealismus. Er ist so angenehm erschwinglich.«
Im Helldunkel des Kerzenscheins wirkte sein Gesicht wie von Caravaggio gemalt.