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IX

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Es war Geisheim von der Tribüne, der darauf bestand, dass Julius nach Köln fuhr. Der Name Köhler-Schultz werde in einem Atemzug mit dem van Goghs genannt, sagte er und ignorierte Julius’ Einwände. Falls sich das Wallraf-Richartz-Museum die Sonnenblumen tatsächlich habe sichern können, wie alle Informanten der Tribüne behaupteten, wollte Geisheim, dass Julius als Erster die Nachricht verkündete.

»Geben Sie Ihren Bericht telefonisch durch«, rief er ihm zu, bereits den halben Flur entfernt auf dem Weg zur nächsten Sitzung. »Kommt nicht oft vor, dass Kunst Schlagzeilen macht. Wir müssen die Ersten sein.«

Draußen vor der Zeitungsredaktion schloss sich der graue Himmel über der Stadt wie ein Augenlid. Es war bitterkalt. Der Berliner Winter, provoziert von den ersten Regungen des Frühlings, schlug zurück. Eigentlich hatte Julius vorgehabt, nach Hause zu gehen. Stattdessen marschierte er mit hochgezogenen Schultern ostwärts die Leipziger Straße entlang. Auf der Grünstraßenbrücke blieb er stehen, sah auf seinen dunklen Schatten im tiefschwarzen Wasser hinab, dann hinüber zum zugenagelten Restaurant Ecke Wall- und Neue Grünstraße. Der Gedanke, hier zufällig auf Matthias zu treffen, war mindestens ebenso unangenehm wie verlockend, und so blieb er müßig auf der Brücke stehen, halb hoffend, halb bangend, ihn irgendwo zu entdecken. Die Eiseskälte des Bodens kroch langsam durch seine Schuhsohlen.

Ein scharfer Wind fegte zwischen den Gebäuden hindurch und fuhr ihm in den Mantel. Julius legte seine Hände an den Mund und spürte seinen warmen Atem durch das Leder der Handschuhe hindurch. Er dachte an Konstantin in München, wie er die Arche Noah öffnen würde. Er wäre gern dabei gewesen. Der eisige Wind trieb ihm Tränen in die Augen, und seine Nase begann zu laufen. Als er das Taschentuch aus seinem Mantel zog, fiel ein gefalteter Zettel auf den Boden.

Steif beugte er sich hinunter, um ihn aufzuheben. Es war eine Tuschzeichnung, das Papier an einer Seite unregelmäßig gezackt, wo man es aus einem Skizzenbuch gerissen hatte. Wie das Bild in einem Traum war es gleichzeitig sehr vertraut und verstörend falsch, van Goghs Selbstbildnis mit verbundenem Ohr, nur dass es nicht Vincents Gesicht war. Stattdessen blickte eine junge Frau unter Vincents Pelzmütze hervor, die Lippen geschürzt. Sie erinnerte Julius an jemand, auch wenn er das Gesicht gerade niemandem zuordnen konnte. Verwundert betrachtete er die Zeichnung und wühlte in seinem Gedächtnis.

Da fiel es ihm wieder ein. Fräulein Eberhardt, Tochter der Schiller-Witwe, die Nervensäge mit den abgekauten Fingernägeln. Er erinnerte sich an ihr bleiches Gesicht in der hereinbrechenden Dunkelheit vor dem Haus am Würmsee, an die Rundung ihrer Brüste unter dem schwarzen Pullover. Unter dem Bild in Großbuchstaben der Titel: EIN MOMENT DES WAHNSINNS. Die Zeichnung war eilig hingeworfen, aber irgendwie hatte sie den Geist des van Gogh’schen Originals eingefangen, nicht nur seinen Stil, sondern seine emotionale Verlorenheit, seine trostlose Hinnahme der Schuld. Auf die Wand hinter ihrem Kopf, dort, wo van Gogh in seinem Porträt einen Kunstdruck des Fudschijama wie ein verlorenes Paradies platziert hatte, hatte Fräulein Eberhardt tropisches Blattwerk um einen kleinen Steinbrunnen herum gezeichnet, im Hintergrund schneebedeckte Berge: der Wintergarten von Otto Metz.

An der rechten unteren Ecke des Papiers war ein mit Bleistift gezeichneter Pfeil zu sehen. Julius drehte das Blatt um. Unter ihrer Schweizer Adresse hatte Fräulein Eberhardt eine Notiz gekritzelt.

Tut mir leid. Manchmal bin ich unausstehlich. Ich wünschte, ich wäre es nicht, aber offenbar kann ich nichts dagegen tun.

Schreiben Sie mir bitte. Nur so weiß ich, dass Sie mir verzeihen. Ich schüttle Ihnen die Hand, EE

Ich schüttle deine Hand, Vincents typischer Abschiedsgruß in den Briefen an seinen Bruder Theo. Julius’ Sehnsucht nach dem Selbstbildnis wurde plötzlich so stark, dass sich in seinem Inneren etwas zusammenzog. Er beugte sich über das Brückengeländer, das Blatt zitterte in seiner Hand. In der Nervenheilanstalt von Saint-Rémy hatten die Ärzte Vincent verboten zu malen. Sie sagten, das Malen habe die Anfälle hervorgerufen, aber für Vincent war das Nichtmalen noch schlimmer, eine Art Folter. Julius wusste nicht, ob die Mädchen in Fräulein Eberhardts Internat Unterricht im Zeichnen und Malen erhielten oder ob man ihnen nur beibrachte, zu lächeln und zu nicken und Schiller-Lieder zu singen, mit ordentlich gefalteten Händen im Schoß. Er versuchte, sich vorzustellen, wie Fräulein Eberhardt Blumen arrangierte und Speisenfolgen besprach, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen dachte er an Vincent, der, eingesperrt in seinem Zimmer ohne Pinsel und Leinwände, seine Farben mit den Fingern von der Palette gekratzt und aufgegessen hatte.

Es wurde dunkel. Die Straßenlaternen gingen an. Am gegenüberliegenden Ufer blieb ein untersetzter Mann stehen und richtete den Blick über das dunkle Wasser hinweg auf Julius. Mit klopfendem Herzen eilte Julius nach Hause.

Noch am gleichen Abend schrieb er an Fräulein Eberhardt. Eine Entschuldigung wie diese verdiente Anerkennung, selbst wenn die Geschehnisse schon Monate zurücklagen. Er fragte sich, ob sie wohl all die Zeit über auf seine Absolution gewartet hatte, ob ihre Hoffnung jeden Tag aufs Neue mit der Morgenpost aufgeflammt war wie ein Streichholz. Er hoffte es sehr. Gewissensbisse waren nichts wert, wenn sie nicht wehtaten.

In Berlin konnte man durchaus vergessen, dass manche Teile Deutschlands noch von den Feinden besetzt waren. In Versailles hatten die Franzosen zum Schutz vor deutschen Aggressionen auf einer Pufferzone bestanden, auf einem entmilitarisierten Rheinland, woraufhin die Alliierten das Territorium zerstückelten wie gierige Jungen den Kuchen auf einer Kaffeetafel. Einige Kilometer außerhalb von Köln waren britische Soldaten in Julius’ Zug gestiegen und hatten Waggon für Waggon die Ausweispapiere der Passagiere kontrolliert. Die Brücken wurden durch militärische Kontrollpunkte gesichert, durch die Straßen preschten Armeelaster. Am überlaufenen Einlass des Museums mischten sich britische Offiziere unter die hohen Tiere der Stadt, die Bankiers und liebedienerischen Künstler, die in Köln die Crème de la Crème bildeten.

Julius widerte diese aufgesetzte Normalität an. Es war bekannt, dass weiter im Süden, in der Pfalz, die französische Besatzungsarmee die Separatisten ermutigte und aktiv bei der Schaffung eines unabhängigen Rheinstaates unterstützte. Auch fünf Jahre nach dem Waffenstillstand war der Krieg noch nicht vorüber, noch lange nicht. Nachdem Clemenceau und Konsorten Deutschland erniedrigt und das Land in den Bankrott gezwungen hatten, versuchten sie nun, es in Stücke zu brechen.

Der neue Direktor des Museums hatte seine Hausaufgaben gemacht. Bereits vor Beginn der Reden schlich er sich zu Julius und schlug ihm vor, sich heimlich noch vor den anderen Gästen die Ausstellung anzusehen. Ein Kritiker seines Formats, flüsterte er, sollte sich nicht um einen Platz in der ersten Reihe balgen müssen. Er führte Julius direkt in den Hauptsaal. Am anderen Ende des Raums reichte ein schwerer Samtvorhang von etwa vier Meter Breite von der Decke bis zum Boden und verhüllte fast die gesamte Wand, wie in einem Theater, das auf sein Publikum wartet. Mit einer Verbeugung bedeutete ihm der Direktor, als Erster hineinzugehen. Eine gespannte Erwartung ergriff Julius: Er konnte sie förmlich durch den Samtvorhang sehen, Vincents Sonnenblumen, primitiv und erhaben, vor Zuversicht hell erstrahlend in der gleißenden provenzalischen Sonne.

Er trat hinter den Vorhang. Ein einzelnes Bild hing an der Wand, ausgeleuchtet durch etliche in die Decke eingelassene Lampen, aber es waren nicht die Sonnenblumen. Das monumentale, in grellen Farben gehaltene Gemälde war wohl das albtraumhafteste Bild, das Julius je gesehen hatte. Ein Graben in einer infernalisch zerstörten Landschaft, eine blutige Ansammlung abgeschlachteter Soldaten mit abgetrennten Gliedmaßen, aufgeplatzten Schädeln und aufgeschlitzten Bäuchen, aus denen das Gedärm quoll. Darum herum die sich auflösenden Reste von Körpern, die die Explosion nach oben befördert hatte. In Fäulnis übergehendes Fleisch, wimmelnd von Maden. Ein verwestes Paar Hände, das wie zum Gebet aus dem Schlamm emporragte. Und über diesem Blutbad ein uniformierter Leichnam, aufgespießt auf verbogenen Eisenstützen, mit klaffenden Wunden, die blinden Augen gen Himmel gerichtet, und zwischen seinen Beinen, als obszöne Geste, die Spitze eines Bajonetts, der Griff eines Messers.

Julius schloss die Augen und tat so, als suchte er nach seiner Brille. Er träumte noch immer davon, von den Granaten, die rings um seinen Sanitätswagen explodiert waren, von dem Soldaten, der in einer scharlachroten Blutfontäne verschwunden war. Von den aufgeschichteten Leichen in einem Graben, drei Mann übereinander, davon, wie menschliches Fleisch unter seinen Stiefeln nachgegeben hatte, als sie nach den Überlebenden suchten, vom Knacken der Knochen, als wären es Holzstöckchen. Er schluckte und wappnete sich innerlich. Dann setzte er die Brille auf, trat näher an die Leinwand heran, bis sich die Maden in Farbtupfer auflösten.

»Niederschmetternd, nicht?«, flüsterte der Direktor. »Eine Vision des Leidens, die es mit Grunewald aufnehmen kann.«

»Im Gegenteil«, gab Julius barsch zurück. »Grunewald findet im Leid Schönheit. Dieses Gemälde hingegen ist abscheulicher Schmutz.«

»Es fegt einem die Schuppen von den Augen. Otto Dix war ein Kriegsheld, er hat das Eiserne Kreuz erhalten, aber dieses Bild legt die schreckliche Wahrheit offen. Der Krieg ist nicht heldenhaft. Krieg ist eine unaussprechliche Hölle.«

Julius dachte an die rotgesichtigen britischen Offiziere ein Stockwerk höher mit ihren polierten Uniformknöpfen und ihrem perfektem Deutsch. Bis zur Besatzung waren die Bürger Kölns noch nie in ihrer Geschichte gezwungen gewesen, Identitätsausweise bei sich zu tragen.

»Sie müssen es abhängen«, sagte er.

Der Direktor zog eine Augenbraue hoch. »Weil es Ihnen missfällt?«

»Weil es keine Kunst ist, sondern Propaganda. Um Himmels willen, guter Mann, glauben Sie nicht, dass sich die Briten schadenfroh die Hände reiben werden, wenn sie das hier sehen? Ein Gemälde wie dieses, in heutiger Zeit, ist nicht nur ein Anschlag auf die Moral der Deutschen, sondern eine Pistole am Kopf unseres Landes. Eine Einladung an die Besatzer, sich nach Herzenslust zu bedienen.«

»Interessant, dass Sie das so sehen. Für mich ist es der Schmerzensschrei eines hochdekorierten Kriegshelden, der uns entschlossen die Wahrheit über den Krieg zeigen will. Wäre es Ihnen lieber, er würde lügen?«

»Von mir aus kann er sich blau anmalen und kopfüber an die Dachsparren hängen. Die Geschichte wird ihn vergessen. Aber Sie, Herr Direktor, haben eine Verantwortung gegenüber Ihrem Land. Ja, der Krieg ist brutal. Aber das ist auch manchmal notwendig, wenn wir uns vor jenen schützen wollen, die uns zu vernichten trachten.«

Der Direktor lächelte gelassen. »Ich werde Otto Dix nicht zensieren, Herr Köhler-Schultz, so wenig, wie ich Sie zensieren möchte. Ihre Kolumne werde ich mit Interesse lesen.«

Die ersten Besucher strömten herein, Julius hörte das anschwellende Stimmengewirr der Gäste, die sich durch den ersten Saal bewegten. Wortlos drehte er sich um und ging davon. Er hatte keine Lust auf diesen widerwärtigen Zirkus. Im gedrängt vollen Foyer wartete er ungeduldig auf seinen Mantel. Er wollte allein sein, sich der reinigenden Wirkung der frostigen Kölner Nachtluft aussetzen. Als die Garderobenfrau ihm in den Mantel helfen wollte, griff er ihn sich einfach, legte ihn über seinen Arm und kämpfte sich Richtung Ausgang. Es war purer Zufall, dass ihm zwei Männer in den Blick gerieten, die unweit der Treppe standen. Der eine trug einen dunklen Bart und einen ausgefransten Abendmantel aus pflaumenblauem Samt. Der andere war Matthias.

Julius verschlug es fast den Atem vor Freude. Er rief Matthias’ Namen, aber im Foyer herrschte solcher Lärm, dass man ihn nicht hörte. Während er sich einen Weg durch die Menge Richtung Matthias bahnte, beugte sich dieser zu seinem Begleiter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Matthias!«, rief Julius erneut, und dieses Mal merkte Matthias auf. Julius lächelte herzlich, aber Matthias sah ihn mit gerunzelter Stirn ärgerlich an und schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht«, sagte er, oder zumindest glaubte Julius das verstanden zu haben, denn bevor Julius sich vergewissern konnte, war Matthias verschwunden, verschluckt von der Menge.

Julius fuhr mit dem Nachtzug nach Berlin zurück. Noch vom Bahnhof aus telegraphierte er an Geisheim: KEINE SONNENBLUMEN. Als er wieder zu Hause war, trug er Fräulein Grüber auf, den Redaktionsassistenten anzurufen. Sein Artikel sei um vier Uhr zur Abholung bereit. Bis dahin wollte er nicht gestört werden. Eine Stunde später klopfte die Stenotypistin leise an seine Tür.

»Was ist?«, rief er wütend.

»Entschuldigen Sie, aber Herr Rachmann ist am Telefon. Ich habe ihm gesagt, dass Sie beschäftigt sind, aber er hat sich nicht abwimmeln lassen. Angeblich ist es dringend.«

Julius blickte auf das Blatt Papier vor ihm. WAS IST SCHLECHTE KUNST?, lautete die Überschrift in Großbuchstaben. Alles andere war durchgestrichen. »Nicht jetzt«, erwiderte er barsch.

Fräulein Grüber schloss die Tür. Julius starrte auf das Blatt, knüllte es zusammen und warf es in den Kamin. Bei seinen Artikeln für die Zeitung hatte er in all den Jahren noch nie eine Schreibblockade erlebt. Stets wusste er, was er sagen wollte und wie er es am besten formulierte, wo die Balance lag zwischen fachlicher Expertise und Leserfreundlichkeit, zwischen oberflächlichem Glanz und tiefer Erkenntnis. Die Sätze flossen ihm aus der Feder wie einer Spinne der Seidenfaden, fast ohne bewusstes Zutun und nach bewährten Mustern. Diesmal aber nicht. Diesmal waren die Worte wie ein wirres Knäuel, das sich in seinem Kopf zusammenballte. Er schloss die Augen, um sie zu fassen zu bekommen, aber alles, was er sah, war Vincent, grünäugig und hager, und – gespiegelt in seinem schonungslos starren Blick – den Leichnam von Dix’ gekreuzigtem Landser.

Den ganzen Nachmittag lang rang Julius um Formulierungen, strich jedoch alles wieder durch. Nachdem er den Boten der Tribüne um vier Uhr mit leeren Händen fortgeschickt hatte, rief Geisheim an. Aber Julius ging nicht an den Apparat. Es wurde dunkel. Fräulein Grüber klopfte vorsichtig an die Tür und fragte, ob er etwas für sie zum Abtippen habe. Er schickte sie nach Hause. Einige Minuten später hörte er, wie sie sich zum Gehen anschickte, das flinke Klackern ihrer Absätze auf dem Parkett, das sonore Zuschnappen der Haustür, als sie sich hinter ihr schloss. Er stand auf und stellte sich vor den Kamin, auf dessen Rost zahllose Papierknäuel lagen. Morgen würde er zu Geisheim gehen und ihm erklären, es sei nicht die Aufgabe deutscher Zeitungen, die imperialistischen Bestrebungen von Deutschlands Feinden zu unterstützen. Er wandte den Kopf, blickte auf den Nagel an der Wand und dessen gespenstischen Schatten darunter. Böhm hatte eine Nachricht hinterlassen, als Julius in Köln war. Es sei ein Ende in Sicht. Das Gericht habe Luisas Anwälten zwei Wochen Zeit für ihre Gegenklage eingeräumt. Falls sie, wie er vermutete, nichts Substanzielles vorzubringen hatten, würde Böhm bei Gericht die Eröffnung der Verhandlung beantragen. Dann würde Julius seine Scheidung bekommen sowie sein Gemälde und seinen Sohn.

Müde rieb sich Julius den Nacken. Er vermutete, Matthias habe angerufen, um sich zu erklären, aber er war sich nicht sicher, ob ihn seine Erklärungen interessierten. Er hatte keine Zeit für derart kindisches Getue, nicht wenn es ihn aufwühlte und von seiner Arbeit ablenkte. Davon hatte er schon mit Luisa genug gehabt. Seufzend berührte er mit einem Finger den leeren Nagel an der Wand. Vincent hatte einmal an Theo geschrieben, die größte Kunst bestehe darin, andere Menschen zu lieben. Das war natürlich Unsinn, zumindest was van Gogh betraf. Sein Werk bezog seine Kraft aus der Einsamkeit. Sein Genie lag in seiner Sehnsucht, in seiner schrecklich unerschütterlichen Hoffnung. Er malte Bilder, weil sie der beste Ersatz für menschliche Wesen waren, den er finden konnte.

Plötzlich hatte Julius das Gefühl, es zu Hause nicht mehr auszuhalten. Er riss die Tür des Arbeitszimmers auf, um nach Frau Lang zu rufen, sie solle ihm den Mantel bringen. Doch er hielt abrupt inne, denn Fräulein Grüber stand, ihre Handtasche umklammernd, in der Eingangshalle. Und neben ihr, vor Kälte fröstelnd und ohne Mantel, Matthias. »Es ist nicht Fräulein Grübers Schuld«, sagte er. »Sie ist gerade aus dem Haus gekommen.«

Julius schüttelte den Kopf. Er fühlte sich plötzlich alt und sehr müde. »Ich bin im Begriff auszugehen.«

»Natürlich, ich verstehe, es tut mir leid, ich wäre nicht gekommen, wenn ich nicht … ich wollte nur fragen, ob ich meinen Mantel wiederhaben kann. Es ist mein einziger.«

Seinen Mantel. Sonst nichts. Er klang noch müder als Julius. Julius nickte verständnisvoll. »Frau Lang wird ihn dir bringen.«

»Oder soll ich ihn holen?«, bot Fräulein Grüber an. »Dauert keine Minute.«

»Das wäre nett. Danke.«

Nachdem sie davongeeilt und die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, herrschte betretenes Schweigen. Matthias seufzte. »Verzeih mir«, sagte er.

»Ich bin sicher, Fräulein Grüber macht das gern.«

»Nicht wegen des Mantels. Neulich Abend, als ich einfach so davongelaufen bin …«

»Ist schon vergessen.«

»Für mich nicht.«

»Schau, es war mein Fehler, es gehörte sich nicht.«

»Nein, du warst aufrichtig«, erwiderte Matthias leise. »Ich aber nicht. Ich wollte es dir sagen, ich habe es versucht, konnte es aber nicht. Ich habe befürchtet, wenn du wüsstest …«

»Wenn ich was wüsste?«

Die Tür zum Dienstbotentrakt öffnete sich, und Frau Lang hastete in die Eingangshalle, Fräulein Grüber im Schlepptau. Sie funkelte Matthias misstrauisch an. »Haben Sie nach mir gerufen?«, fragte sie Julius. »Fräulein Grüber scheint zu denken, dass Sie ausgehen wollen.«

»Ich bin mir noch nicht sicher«, erwiderte Julius, »vielleicht später.« Aber Matthias schüttelte den Kopf. Er ließ sich von Fräulein Grüber den Mantel reichen und schlüpfte hinein.

»Ist gut«, meinte er. »Ich gehe.«

»Dann brauche ich meinen Mantel auch«, sagte Julius zu Frau Lang.

Sie spazierten gemeinsam den Kanal entlang, in dem das dunkle Wasser im Schein der Straßenlaternen schimmerte. Matthias brauchte lange, um die richtigen Worte zu finden. An jenem Abend, als Julius ihn gedrängt hatte, seine Geheimnisse zu offenbaren, habe er alles erzählen wollen, aber der Mut habe ihn verlassen. Er sei aus Angst davongelaufen, Angst vor Julius’ Missbilligung oder, schlimmer noch, vor seinem Abscheu, Angst davor, dass die Wahrheit alles verändern und das zerstören würde, was für Matthias stets kostbar und rein gewesen sei. Erst in Köln habe er begriffen, dass Lügen zerstörerisch wirken konnten, selbst wenn sie nicht laut ausgesprochen wurden. Er wolle nicht mehr lügen.

»Du hast mich gefragt, ob ich eine Freundin habe, weißt du noch?«, sagte er. »Ich habe verneint, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Es gibt da jemanden.«

Plötzlich kam Julius der absurde Verdacht, es könnte Luisa sein. »Also, wer ist sie? Kenne ich sie?«

»Keine Sie. Ein Er.«

Julius schwieg. Vielleicht hätte er geschockt sein sollen oder sogar entrüstet, aber stattdessen war es für ihn, als wäre in einem vertrauten Zimmer ein Licht angegangen und als nehme er erst jetzt etwas zur Kenntnis, was er schon die ganze Zeit gewusst hatte.

»Ich darf nicht verraten, wer er ist«, erklärte Matthias. »Darauf habe ich ihm mein Wort gegeben. Er fürchtet, sonst Schwierigkeiten zu bekommen, er hat Angst vor der Polizei. Seine Familie ahnt nichts, deshalb konnte ich in Köln nicht mit dir sprechen. Er war mit mir zusammen.«

»Der Mann mit dem Samtmantel.«

»Ich hatte ihm versichert, es bestehe kein Risiko, dort würde uns niemand kennen. Ich wollte, dass er die Sonnenblumen sieht. Wir hatten so viel über sie gesprochen. Nichts als Sonnenblumen im gleißenden Licht der Sonne. Und das Bild war dort nicht einmal ausgestellt. Nur dieses … dieses entsetzliche …«

»Ich weiß«, sagte Julius sanft. Und dann: »Liebst du ihn?«

Matthias antwortete nicht. Erst als er stehen blieb und sein Gesicht in den Händen vergrub, bemerkte Julius seine Tränen. Zaghaft legte er seine Hand auf Matthias’ Rücken. Es war lange her, dass er ein solch tiefes und reines Mitgefühl empfunden hatte.

»Alles gut«, flüsterte er. »Alles wird gut.«

Julius spürte, wie ein Zittern durch Matthias’ Schultern ging. Ohne nachzudenken, schlang Julius seinen Arm um den jungen Mann und hielt ihn fest an sich gedrückt. Trotz Matthias’ Geständnis war an dieser Geste nichts Peinliches, kein Anflug sexueller Intimität. Woher auch immer es gekommen war, dieses rastlose Verlangen, das Julius zur Grünstraßenbrücke geführt hatte – es war vorbei, und an seine Stelle war eine wortlose Innigkeit getreten, die ihn wie ein kostbares Feuer wärmte.

Im gleißenden Licht der Sonne

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