Читать книгу Im gleißenden Licht der Sonne - Clare Clark - Страница 8
III
ОглавлениеDrei Monate sollten vergehen, bis Julius Rachmann wiedersehen würde, drei schwindelerregende Monate mit einer Inflation, die immer schneller galoppierte und die Preise derart rasant in die Höhe trieb, dass man von einer Woche auf die nächste nicht mehr vorhersagen konnte, was bis dahin eine Tasse Kaffee, eine Taxifahrt oder eine Eintrittskarte für die Philharmonie kosten würde. Niemand wusste, wohin das alles führen würde. Vor dem Krieg konnte jemand, der mit einem Tausender herumwedelte, sicher damit rechnen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mitte Juni, als Rachmann brieflich anfragte, ob er Julius eine Landschaft von Trübner zur Echtheitsprüfung vorlegen dürfe, benutzten Hausfrauen Tausendmarkscheine zum Anfeuern ihrer Wasserboiler. Mit einem Hunderttausendmarkschein, im Februar eilig eingeführt, konnte man gerade einmal ein halbes Dutzend Eier kaufen, falls es überhaupt welche gab. Um dem immensen Bedarf an Banknoten nachzukommen, ließen die Geldinstitute dreißig Papierfabriken und fast zweitausend Druckerpressen rund um die Uhr laufen. Die Herstellung von Papiergeld war eine der wenigen profitablen Unternehmungen, die es in Deutschland noch gab.
Julius beantwortete Rachmanns Brief umgehend und schlug ein Treffen am folgenden Montag vor. Er war gespannt und voller Vorfreude. Ein Trübner gehörte in eine ganz andere Kategorie als Arbeiten auf Papier, selbst wenn sie von Marées stammten, allerdings war in den letzten Monaten der Handel selbst mit derartigen Schätzen alltäglich geworden. In diesen Zeiten trennten sich die Leute von allem Möglichen – und zu unvorhersehbaren Preisen.
Julius schrieb auch an Luisa, wobei seine Wut von Weinbrand und anwaltlicher Tatsachenverdrehung befeuert wurde. Anschließend wusste er nicht mehr, was genau er ihr eigentlich vorgeworfen hatte. Als er am nächsten Morgen mit schweren Gliedern und Kopfschmerzen zum Frühstück herunterkam, hatte Fräulein Grüber die Post bereits auf den Weg gebracht.
Böhms Kanzlei war umgezogen. Sie befand sich jetzt nicht mehr in dem eleganten Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert mit seiner großen Empfangshalle und dem livrierten Fahrstuhlführer, sondern in einem gesichtslosen Betonbau mit einem trostlosen, gemeinschaftlich genutzten Innenhof unweit des Kriminalgerichts. Böhms Kanzlei lag im ersten Stock. Ein ehemals großer Raum war ungeschickt in zwei enge Büros und einen winzigen Wartebereich unterteilt worden. Erst als Julius die Aufschrift URSCHEL & BÖHM ANWÄLTE an der Glastür las, wusste er, dass er hier richtig war.
Böhm sah gealtert aus, sein kluges Gesicht wirkte grau und hatte tiefe Falten bekommen. Auf Julius’ Frage nach seinem Befinden zuckte der Anwalt die Achseln. »Wir müssen uns den veränderten Zeiten anpassen, nicht?«, erwiderte er. »Luisa hat Ihnen ein Angebot gemacht.«
»Was für ein Angebot?«
»Wenn Sie in die Scheidung einwilligen, die Schuld am Scheitern der Ehe auf sich nehmen und ihr eine finanzielle Unterstützung garantieren, wird sie den van Gogh aushändigen. Die Modalitäten der Unterhaltsleistung sind hier dargelegt.«
Julius starrte auf das Schreiben. Unter der exorbitanten Summe stand in Großbuchstaben eine Anmerkung. AUFGRUND DER WÄHRUNGSSCHWANKUNGEN HABEN SÄMTLICHE ZAHLUNGEN IN FRANZÖSISCHEN FRANCS ZU ERFOLGEN.
»Das ist Erpressung«, zischte er.
»Verhandlungssache. Die Frage ist, welche Kompromisse Sie eingehen wollen.«
»Keine«, sagte Julius. Seine Hände zitterten, aber er behielt einen klaren Kopf. Wenn Luisa Krieg haben wollte, sollte sie ihn bekommen. »Keine Kompromisse. Wir reichen die Scheidungsklage ein. Aufgrund des Ehebruchs meiner Frau. Keine Alimente, nicht einen Sou, bis ich mein Gemälde wiederhabe. Und meinen Sohn.«
Böhm schwieg. Dann griff er zu seinem Füllfederhalter. »Sie haben Beweise für den Ehebruch Ihrer Frau, nehme ich an?«, fragte er. In den zwanzig Jahren, seit Böhm Julius’ Anwalt war, hatte er ihn nie angelogen. Das wollte er auch diesmal nicht. Auf die Frage, ob er Luisa in flagranti erwischt habe, schüttelte Julius den Kopf.
»Aber es gab klare Hinweise auf Geschlechtsverkehr?«, setzte Böhm nach. Er fragte nicht, zwischen wem. Julius lachte grimmig.
»Im Bett meiner Frau lag ein nackter Mann«, sagte er. »Haben Sie dafür etwa eine andere Erklärung?«
»Kennen Sie den Namen des Mannes?«
»Es war nicht gerade der Moment, sich einander förmlich vorzustellen. Aber es war einer aus ihrer Clique. Wird nicht schwer herauszufinden sein.«
»Vielleicht. Allerdings neigen die Leute in solchen Situationen zu Verschwiegenheit.«
»Nicht Luisas Freunde. Sie würden die eigene Großmutter verkaufen, wenn es sich für sie lohnte.«
Böhm runzelte die Stirn und lehnte sich zurück. »Also gut, vielleicht sollten Sie ein paar Erkundigungen einholen. Wir haben Zeit. Wir können einen vorläufigen Scheidungsantrag stellen, ohne Angabe eines Namens. Bei der derzeitigen Arbeitsüberlastung der Gerichte besteht ohnehin keine Chance auf eine Verhandlung vor den Gerichtsferien im Sommer. Vielleicht im Herbst, falls wir dann mehr wissen …?« Er zuckte müde die Achseln. »Könnte sie versuchen wollen, die Vorwürfe abzustreiten?«
»Wir sprechen hier von Luisa. Sie wird alles abstreiten.«
»Dann benötigen wir Beweise. Sonst wird das Gericht die Klage abweisen.«
Julius dachte an Frau Lang, an das Entsetzen auf ihrem Gesicht, als sie ihre Augen bedeckt hatte. »Es gibt eine Zeugin. Meine Haushälterin. Sie hat alles gesehen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Böhm, und Julius nickte, starr vor Siegesfreude und Selbstekel.
Rachmann wirkte müde und erschöpft, mit seiner schlanken Gestalt sah er nun strenger und zugleich fragiler aus. Die scharfen Konturen seiner Wangenknochen betonten seine verblüffend grünen Augen und die wie von Botticelli gemalten fülligen Lippen. Im Arbeitszimmer blickte er auf die leere Wand.
»Ein Selbstbildnis von van Gogh«, sagte Julius. »Vielleicht das schönste, das er je gemalt hat.«
»Sie haben es ausgeliehen?«
»So in etwa.«
Rachmann schüttelte den Kopf. »Sie mögen mich für töricht halten, aber irgendwie war ich davon überzeugt, der Marées würde hier hängen. So sehr, dass ich eben beim Hereinkommen zuerst dachte, man hätte ihn gestohlen.«
Gestohlen. Das Wort hing in der schwülen Luft. »Er fehlt Ihnen, der Marées?«, fragte Julius.
»Ja, schrecklich. Ist das nicht lächerlich?«
»Sie müssen sich daran gewöhnen.«
»Und ich hatte mir ein glückliches Leben erhofft.«
»Als Händler? Keine Chance.«
Rachmann lachte. Es war noch früh, aber draußen wurde es bereits dunkel. Ein Unwetter zog auf. Vor dem Hintergrund der bedrohlichen Gewitterwolken wirkten die Bäume wie von van Gogh gemalt, dicke Wirbel aus Weiß und Smaragdgrün.
»Also haben Sie ihn behalten?«, fragte er und versuchte, dabei beiläufig zu klingen. »Den Marées, meine ich.«
»Natürlich.«
»Da bin ich froh. Ich hatte plötzlich Angst, Sie hätten ihn schon vor Wochen verkauft.«
»Ich habe ihn nicht verkauft. Er ist oben in meinem Ankleidezimmer.«
Rachmann nickte und nestelte an den Bändern der Künstlermappe, die er bei sich trug. Er sagte nichts. Das war auch nicht nötig. Julius konnte es fast hören, dieses tiefe Summen des Verlangens wie das einer Biene in einem Blütenkelch. Natürlich verbot es sich zu fragen. Kein anderer Raum im Haus war so privat wie sein Ankleidezimmer. Herr im Himmel, Ju, warum musst du immer so eine Trantüte sein? Trantüte, eines der Worte aus Luisas Jargon für Langweiler. Sie hatte Hunderte davon: Schlaftablette, trübe Tasse, lahme Ente, Schnarchnase, Spaßbremse, alter Spielverderber. Alter irgendwas.
»Vielleicht wollen Sie ihn sehen?«, fragte er plötzlich.
Rachmann blickte ihn groß an. »Bitte, Sie müssen das nicht, das ist … macht es Ihnen wirklich nichts aus?«
»Nicht das Geringste.«
Er führte den jungen Mann die Treppe hinauf. Oben angekommen blieb er, ein wenig außer Atem, stehen. Rachmann betrachtete die hohe Galerie, die ausnehmend schön mit Intarsien verzierte Doppeltür, die in den Salon führte. Wenn Luisa zu Hause war, hatten sich ihre Freunde am liebsten hier versammelt, dann lehnten sie sich über die Balustrade, während die Musik aus dem Grammophon plärrte, johlten sie und schnippten ihre Zigarettenasche hinunter in die Halle. Aber jetzt war die Tür verschlossen. Seit sie fort war, hatte Julius den Salon nicht mehr betreten.
Im Ankleidezimmer roch es nach Leder, Seife und – ganz schwach, aber unverkennbar – nach ihm selbst. Während sie vor dem Marées standen, fielen Julius mit leisem Unbehagen die ausgebeulten Lederpantoffeln unter dem Stuhl auf, die Zahnbürste mit den abgenutzten Borsten im Becher neben dem Waschbecken, der seidene Morgenmantel am Haken auf der Rückseite der Tür. Aus ihrem Silberrahmen lächelte ihnen seine Mutter mit sanft geneigtem Kopf scheu entgegen. In ihrem Abendkleid und mit den Diamanten im Haar sah sie jung, ein wenig verlegen und unfassbar schön aus. Julius bemerkte, wie Rachmann sie verstohlen betrachtete, das Lächeln in seinen meerglasgrünen Augen wurde intensiver, und es war, als habe er den jungen Mann in sein Innerstes blicken lassen.
Als sie wieder im Arbeitszimmer waren, hatte Julius das Gefühl, dass sie die Intimität des Ankleidezimmers mitgenommen hatten, sie schien wie ein Strom zwischen ihnen zu fließen und die Atmosphäre zu verwandeln. Am liebsten hätte er Rachmann jetzt gefragt, ob dieser genug Geld und ausreichend zu essen habe. Er wollte ihm seine Einsamkeit gestehen, seine Angst vor dem Altwerden, seinen bitteren Hass auf seine Frau und auf den Menschen, zu dem er ihretwegen gerade geworden war. Stattdessen deutete er auf das sorgfältig verpackte Gemälde.
»Erzählen Sie mir davon«, sagte er.
Rachmann legte die Mappe auf seinen Schoß und betrachtete sie stirnrunzelnd. »Ich habe das Bild in Köln gekauft. Nicht von einem Händler. Sondern bei einem Mann von der Straße.«
Julius verstand. Heutzutage gab es in Berlin an jeder Straßenecke solche Männer, und auch Frauen, in schäbiger, einst achtbarer Kleidung, die ihre Familienerbstücke in Sackleinen eingeschlagen feilboten, gegen Lebensmittel und Kohle.
»Er behauptete, sein Vater und Trübner seien befreundet gewesen«, sagte Rachmann. »Sie hätten sich in Karlsruhe kennengelernt. Sein Vater hat das Bild sein ganzes Leben lang in seinem Arbeitszimmer hängen gehabt. Ich wollte es ihm nicht wegnehmen, es fühlte sich ganz falsch an, aber er war so dankbar, so verzweifelt. Er sagte, ich würde ihm damit sehr helfen. Natürlich gibt es keine schriftliche Expertise für das Bild, keinen eigentlichen Herkunftsnachweis …«
Julius schüttelte den Kopf. »Der Herkunftsnachweis ist bei weitem nicht so wichtig, wie die Erbsenzähler einem einreden wollen. Um ein Bild einem Maler zuzuschreiben, geht man nicht vor wie ein Buchhalter.« Er setzte die Brille auf und deutete Richtung Fenster. »Halten Sie es dorthin. Wir brauchen so viel Licht, wie wir kriegen können.«
Eine Fälschung. Julius sah es auf den ersten Blick oder, besser, er spürte es, die vertraute Enge in seiner Kehle, den klammen Schauer auf der Haut, das Magengrimmen wie bei einer Seekrankheit, als würde ihm der Boden unter den Füßen entzogen. Als könnte die Falschheit des Bildes den Boden umwenden.
Er schloss die Augen und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Die Schwärze hinter seinen Lidern, silbrig durchzogen, machte ihn schwindlig. Sein Mund war trocken. Er leckte sich die Lippen. Langsam wich die Übelkeit. Er sah Rachmann nicht an. Stattdessen setzte er die Brille ab und begann, sie mit einem Tuch aus seiner Hosentasche sorgfältig zu putzen. Allmählich erlangten seine Hände wieder ihre Festigkeit zurück. Mit dem Taschentuch bearbeitete er den Rand der Brillengläser. Als er sich vergewissert hatte, dass sie vollkommen sauber waren, setzte er die Brille wieder auf und betrachtete das Bild noch einmal. Bäume, Himmel, eine angedeutete Fassade im italienischen Stil, alles in Trübners charakteristischem Malstil, aber ohne seinen Instinkt für Farben, sein Spiel von Licht und Schatten. Eine Naturvorstellung, reduziert auf eine Ansicht, dekorativ und leblos.
Er legte die Fingerspitzen aneinander, um Mut zu fassen, es auszusprechen.
»Es ist kein Trübner, stimmt’s?«, fragte Rachmann sehr leise.
»Nein. Kein Trübner. Tut mir leid.«
Die meisten Händler reagierten mit Abwehr, wenn er sie enttäuschte, oder wurden sogar aggressiv. Sie zogen seine Schlussfolgerungen in Zweifel, verlangten, er solle es noch einmal überdenken. Der junge Mann hingegen klammerte seine Hände ineinander und schwieg. Nur seine weißen Fingerknöchel verrieten ihn.
»Sie können das Bild jederzeit noch jemand anderem zeigen«, sagte Julius. »Eine zweite Meinung einholen. Walter Ruthenberg ist verlässlich, kennen Sie ihn?«
»Käme er zu einem anderen Urteil?«
»Wäre möglich.«
»Aber dann läge er falsch?«
»Meiner Meinung nach ja, fürchte ich.«
Wortlos blickte Rachmann auf das Bild. Julius hätte am liebsten tröstend seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes gelegt. Stattdessen wartete er einfach ab. Als Rachmann ihn schließlich ansah, war sein Gesicht weich und traurig wie das eines Kindes.
»Ich habe kein Recht, Sie das zu fragen«, sagte er. »Sie waren mir gegenüber schon so großzügig. Aber könnten Sie mir erklären, woran Sie es erkennen? Wenn ich einfach … wenn ich verstehen könnte, was genau Sie sehen, wie Sie darauf kommen, dann würde ich vielleicht … dann würde ich mich nicht wie ein Dummkopf fühlen.«
»Sie sind kein Dummkopf. Ich kenne viele Händler mit mehr Erfahrung als Sie, die denselben Fehler begangen hätten.«
»Aber ich will nicht sein wie die, verstehen Sie? Das würde ich nicht ertragen. Wenn ich mich in diesem Metier behaupten will, wenn meine Arbeit etwas wert sein soll, dann muss ich sehen lernen, wie Sie sehen, mit dem Herzen.«
Julius konnte sich nicht erinnern, wann jemand ihm gegenüber zuletzt so offen gewesen war; als gäbe es nichts zu verlieren, wenn man die Wahrheit aussprach. »Wer so empfindet wie Sie, ist bereits halb am Ziel«, sagte er, doch Rachmann schüttelte nur den Kopf.
»Ich wünschte, es wäre so. Es klingt überspannt, ich weiß, aber ich habe beobachtet, wie das Bild gleichsam durch Sie hindurchgegangen ist, wie in einer Welle. Als wäre es in diesem Augenblick ein Teil von Ihnen geworden. Und Sie ein Teil von ihm. Ach, Entschuldigung, ich sollte jetzt besser gehen.« Eilig packte er das Bild wieder ein. »Danke vielmals für Ihre Zeit und Ihre Aufrichtigkeit. Ich bin für beides sehr dankbar.«
Julius fasste den jungen Mann am Arm. Rachmann hielt inne. »Bleiben Sie noch«, sagte Julius. »Bleiben Sie, und ich sage Ihnen, was genau ich gesehen habe.«
Sanft nahm er Rachmann das Bild aus der Hand und legte es auf den Schreibtisch. Dann trat er ans Bücherregal am Fenster, suchte kurz und zog dann einen dicken Band heraus. Nach einigem Blättern fand er eine Farbabbildung von Trübners Kloster auf der Herreninsel.
»Trübner war der malerischste aller Maler«, sagte er. »Er war der Ansicht, die Schönheit eines Gemäldes liege nicht in seinem Sujet, sondern in der Komposition, den Farben und der Textur des Farbauftrags. Kunst um der Kunst willen. Sehen Sie hier, in Ihrem Bild, wo der Baum umgearbeitet wurde? Ein derartiger Pfusch wäre ihm unerträglich gewesen.«
Rachmanns Entschlossenheit, seine Gefühle im Zaum zu halten, verkrampfte ihn so sehr, dass er fast wütend wirkte. »Dadurch haben Sie es herausgefunden, durch diesen Baum?«
»Nicht sofort, nein. Doch, der Baum ist schon wichtig, auch hier, die fehlerhafte Perspektive, wenn man das sieht, weiß man, dass Trübner dieses Bild niemals gemalt haben kann, aber das erkennt man erst später. Zuerst ist da etwas anderes, etwas Instinktiveres. Stellen Sie sich vor, Sie treffen einen alten Freund auf der Straße. Er sieht genauso aus, wie Sie ihn in Erinnerung haben, er lächelt und spricht so, wie er es immer getan hat, aber er ist es nicht. Sie wissen das. Später vielleicht können Sie sagen warum, seine Stimme war zu hoch, seine Nase zu lang, aber in diesem einen Moment wissen Sie nur eines sicher, nämlich dass Sie getäuscht werden. Ihr Bauchgefühl sagt Ihnen: Wer immer dieser Mann sein mag, er ist nicht mein Freund.« Julius seufzte. »Tut mir leid. Ich wünschte, es wäre anders.«
»Ich weiß. Danke.«
Ein Blitz erhellte plötzlich den Raum, darauf ein Donnergrollen. In der Luft hing der metallische Geruch von Regen. Julius schloss das Fenster.
»Etwas zu trinken, bevor Sie gehen?«, sagte er, aber Rachmann schüttelte den Kopf. Er habe noch eine andere Verabredung, und wenn er nicht bald aufbreche, verspäte er sich. Zögerlich läutete Julius nach Frau Lang. Mit einer Verbeugung nahm Rachmann von ihr Hut und Regenschirm entgegen. Seine Galanterie ließ sie kalt. Als er sich abwandte, zog sie einen Schmollmund und rollte die Augen, bis Julius ihr einen strafenden Blick zuwarf. Die Grimasse verschwand von ihrem Gesicht wie bei einem ertappten Kind.
Rachmann sah auf das Gemälde in seinen Armen und hielt es plötzlich mit einem bitteren Grinsen Julius entgegen. »Ich kann Sie wohl nicht für einen Fast-Trübner interessieren, oder? Etwas für den blanken Nagel in Ihrem Arbeitszimmer?«
Es braucht schon besonderen Mut, dachte Julius, eine Katastrophe so leicht wegzustecken. »Tut mir leid, dass ein solches Ergebnis herausgekommen ist«, sagte er. »Ich hoffe, es ist keine ernste Schlappe.«
»Ich auch.«
Verlegenes Schweigen. Dann schüttelte Rachmann den Kopf. »Vielleicht sollte ich das Ihnen gegenüber nicht zugeben, aber irgendwie würde ich mir wünschen, ich hätte die Nerven, es dreist zu verhökern. Die ganzen Aasgeier dort draußen, die sich für Kleingeld die deutschen Schätze unter den Nagel reißen. Es wäre doch das Vergnügen wert, einen von denen eins auszuwischen, oder?«
»Ja, aber nicht halb so viel wie das Risiko, das Sie dafür eingehen müssten.«
»Ach, Skrupel«, sagte Rachmann, und sein Lachen war mehr ein Seufzen. »Was wären wir bloß ohne Skrupel?«
»Ja, was wären wir dann?«
Frau Lang öffnete die Tür. Der Wind blies Regen auf die Eingangsterrasse, sodass sich dunkle Flecken auf dem Steinboden abzeichneten. Rachmann trat hinaus und öffnete den Schirm.
»Guten Abend, Herr Köhler-Schultz. Und danke.«
»Ich wünschte nur, es hätte etwas gegeben, wofür Sie mir danken könnten.«
»Alle haben mir gesagt, dass sich in Berlin niemand mit einem Grünschnabel wie mir abgeben würde. Aber Ihre Großzügigkeit, Ihre Sachkenntnis, ein Mann von Ihrem hohen Renommee …«
»Hohes Renommee, gütiger Himmel, das klingt, als sei ich schon hundert Jahre alt.«
Rachmann zuckte zusammen. »Schmeichelei bringt mich nicht weiter, soll es das heißen? Diese verdammten Skrupel. Aber, um das festzuhalten: Es ist keine Schmeichelei, wenn es die Wahrheit ist.«
Der junge Mann drehte sich um. Du nimmst Komplimente entgegen wie ein Pfandleiher eine Armbanduhr, hatte Luisa einmal zu Julius gesagt, als würdest du dem anderen eine Gnade erweisen. Er lief, Rachmann folgend, die Treppe hinab und erhaschte für einen kurzen Moment seinen Blick, eine trübe Grimasse aus Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Julius hätte ihn am liebsten zurückgeholt. Stattdessen aber sah er zu, wie Rachmann den Weg entlangging. Die Regentropfen prasselten auf seinen Schirm und spritzten in silbrigen Teilchen durch die dunkle Nacht.
»Sehen Sie sich nur an, Sie sind ja ganz nass«, schimpfte Frau Lang und schob ihn zurück ins Haus. »Bestimmt tut Ihnen jetzt ein Tee gut.« Sie eilte davon. Als sie die Tür zum Dienstbotentrakt aufstieß, erhaschte Julius einen kurzen Blick auf den schwarzen Kinderwagen.
»Wenn die Klage zu Ihren Gunsten entschieden wird, kommt Ihr Sohn natürlich in Ihre Obhut«, hatte Böhm tags zuvor gesagt. »Aber vielleicht nicht sofort. Schuldig oder nicht, die meisten Gerichte lassen das Kind heutzutage lieber bei der Mutter, bis es zumindest vier Jahre alt ist.«
Der Junge und das Kindermädchen hatten das oberste Stockwerk bewohnt. Es galt ein streng eingehaltener Tagesablauf. Julius wusste nicht, womit genau sie ihren Tag verbracht hatten. Er hatte keine Veranlassung gesehen, sich dafür zu interessieren.
»Ich will meinen Sohn«, hatte er Böhm trotzig erklärt, und zum ersten Mal fragte er sich, ob das wirklich stimmte.