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I

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Für die Rückfahrt von Paris nahm Julius den Nachtzug. Er schlief unruhig, sein leichter Schlaf wurde vom Pfeifen der Lokomotive und dem Rütteln und Rattern der Räder begleitet. Als er aufstand, war es noch dunkel. Im Speisewagen servierte ihm ein gähnender Kellner eine Tasse dünnen Kaffee. Dieser Waggon war mit seiner Teakholztäfelung und den Schirmlampen alles, was von dem eleganten Nordexpress, der vor dem Krieg diese Strecke befahren hatte, übrig geblieben war. Julius starrte aus dem Fenster. Kein Mond zu sehen. Die vorbeihuschenden Telegraphenmasten schnitten die Schwärze in Rechtecke.

Ich sollte wütend sein, dachte er, oder sogar traurig, aber er spürte nur die Erschöpfung, die für gewöhnlich einer Niederlage folgt. Seine Ehe war zu Ende, und ihr Schlusspunkt war, wie so vieles, was Luisa tat, geschmacklos und unsäglich banal. Die beiden, stöhnend und ineinander verschlungen in Luisas zerwühltem Bett, ihr blankes Entsetzen, als er das Licht einschaltete. Er gab ihnen eine Minute, um aus dem Haus zu verschwinden, bevor er die Polizei rufen würde. Frau Lang hielt sich die Schürze vors Gesicht, als die beiden die Treppe hinabhasteten, ihre Kleidung zusammengeknüllt in den Armen. Hätte er doch auch weggeschaut. Ich bete den Nackten an wie einen Gott, hatte Rodin einmal gesagt, aber an ihrer Nacktheit, an ihren verschrumpelten Schwänzen, an ihren bleichen dürren Unterschenkeln war nichts Göttliches.

Und später Luisa, die selbstvergessene Luisa in dem von leeren Flaschen übersäten Salon, ihr Make-up verschmiert, das Kleid über eine Schulter gerutscht, den Arm um Lehmbrucks Kniende geschlungen, ein silbernes Röhrchen zwischen den Fingern wie eine Zigarette. Ihr verächtliches Grinsen, als sie sich vorgebeugt und mit funkelndem Blick vom steinernen Schenkel der Skulptur eine Prise Kokain geschnupft hatte. Er hatte zu ihr gesagt, er wolle die Scheidung, aber sie hatte nur gellend aufgelacht, schrill wie das Geräusch von zerberstendem Glas.

»Darauf trinke ich«, hatte sie gesagt, nach dem Hals einer Champagnerflasche gegriffen und sie an die Lippen gesetzt. Der Wein war ihr aus dem Mund und übers Kinn gelaufen.

Der Zug wurde jetzt langsamer. Über der dunklen Silhouette der Hügel zog eine graue Dämmerung herauf. Quecksilberartige Regentropfen glitten diagonal über das Waggonfenster. Julius schloss die Augen und massierte sich den Nacken. Auch wenn er es sich ungern eingestand, war er ebenso schuld wie sie. Du und dein Faible für schöne Dinge, hatte sein alter Freund Bruno trocken bemerkt, als Julius die beiden einander vorstellte, und Julius hatte daraufhin nur gelacht. Er war damals dreiundfünfzig, erst kurz zuvor aus dem Kriegsdienst entlassen worden und vor Verlangen schier benommen. Luisa war vierundzwanzig. In den trostlosen, deprimierenden Monaten nach der Kapitulation war ihm ihre Schönheit wie ein Wunder vorgekommen. Er hatte nicht genug von ihr bekommen können. In ihren Armen verblasste die Vergangenheit mit ihren Schrecken, und die Zukunft versprach, grandios zu werden. Er dachte, sie würde ihn heilen, er könnte sich, umgeben von ihrem klaren, frischen Wesen, all den Schmutz abwaschen. Als er seinen Irrtum erkannte und begriff, dass sich hinter ihrer makellosen Erscheinung eine unreife, gleichgültige Person verbarg und das, was er für Unschuld gehalten hatte, nichts anderes war als Dummheit und mangelnde Vorstellungskraft, war sie bereits seine Ehefrau.

Fünf Jahre, drei davon mehr oder weniger miserabel. Sie beide waren füreinander nicht das, was sie sich erhofft hatten. Ihre Auseinandersetzungen – anfangs noch temperamentvoll geführt – wurden aus Enttäuschung bitter und zornig. Es gab keine leidenschaftlichen Versöhnungen mehr, nur noch Phasen des Schweigens; kurze, argwöhnische Feuerpausen. Wie einander belauernde Armeen verschanzten sie sich in ihren Stellungen. Julius nahm die Gewohnheiten seiner Junggesellenzeit wieder auf und vergrub sich in die Arbeit. Luisa gab sich ihrem Kaufrausch hin, tanzte und johlte bis zum Morgengrauen.

In Wahrheit schämte er sich. Das Renommee, zu dem er im Lauf seines Lebens gekommen war, verdankte er seiner Fähigkeit zu sehen – nicht nur mit den Augen, sondern mit dem Herzen. In Die Genese der modernen Kunst hatte er gegen einen Kunstbetrieb gewettert, der sich von der Verführungskraft technischer Virtuosität blenden ließ, und stattdessen deutlich zu machen versucht, dass jeder großen Kunst in ihrem Wesenskern ein heroischer Kampf zugrunde lag, und dennoch war er, was Luisa betraf, genau demselben Irrtum erlegen. Er war auf ihre Oberfläche hereingefallen, hatte aufgrund ihrer körperlichen Vollkommenheit mit einer Reinheit des Geistes gerechnet, mit etwas darüber Hinausweisendem und Wahrem.

Ein Paar betrat den Speisewagen. Die Frau war klein, hatte dunkles Haar und schläfrige Augen wie eine Figur von Modigliani. Sie lächelte Julius an und wünschte ihm einen guten Morgen, in einem Deutsch mit starkem russischem Akzent. Julius erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Er würde sich anständig verhalten. Da der Kaiser mit dem ihm eigenen Mitgefühl die unüberwindliche Abneigung zwischen Ehepartnern als Scheidungsgrund für unzureichend erklärt hatte, musste eine der beiden Seiten notgedrungen die Schuld auf sich nehmen. Ehebruch war die sauberste Lösung. Im Falle eines nachweisbaren Ehebruchs wurde die Scheidung automatisch ausgesprochen. Die Zeitungen würden sich vielleicht dennoch dafür interessieren, aber es würde keinen öffentlichen Skandal geben, wie so oft nach einem Rosenkrieg. Noch heute Nachmittag würde er mit Böhm reden, damit dieser alles Nötige in die Wege leiten konnte. In Berlin gab es mehr als genug Frauen, die vorgeben würden, sie seien gegen Bezahlung mit einem ins Bett gegangen.

Natürlich würde ihn seine Anständigkeit einen Preis kosten. Nur schuldig gesprochene Ehemänner waren zu Unterhaltszahlungen verpflichtet. Doch während er sich einerseits darüber ärgerte, weiterhin Luisas Verschwendungssucht zu finanzieren – denn die bourgeoise Tochter eines zur Pfennigfuchserei neigenden Bankdirektors hatte stets wie selbstverständlich eine atemberaubende Gier nach Prunk und Luxus an den Tag gelegt –, überwog seine Erleichterung. Ein Mann von Ehre zahlte selbstverständlich für seine Fehler. Er würde die Strafe auf sich nehmen, so hart sie auch sein mochte. Darin lag auch eine Art Läuterung, eine Demut, die fast etwas Nobles an sich hatte. Außerdem fehlte es ihm nicht an den nötigen finanziellen Mitteln. Das Buch über van Gogh war ein überwältigender Verkaufsschlager geworden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Großbritannien. Selbst Amerika war sehr interessiert. Die Tantiemen würden ihm weiterhin ein komfortables Leben ermöglichen, trotz des kürzlichen Wertverfalls der Mark. Bei den gegenwärtigen Wechselkursen konnte er es sich leisten, großzügig zu sein. Im Übrigen musste man an das Kind denken. Auch wenn sich die Leute wie stets das Maul zerreißen würden, sollte niemand behaupten können, er habe die Mutter seines Sohnes schlecht behandelt.

In Berlin regnete es anhaltend. Es war die geschäftigste Stunde des Vormittags. Die Menschen auf den Gehsteigen drängelten und schubsten einander, spannten ihre Regenschirme wie Schutzschilde auf, während die Trambahnen an ihnen vorbeiratterten und die Omnibusse das schmutzige Wasser am Straßenrand hochspritzen ließen. Um halb zehn hielt das Taxi schließlich vor der Villa in der Meierstraße. Julius blieb einen Moment lang auf dem Gehweg stehen und betrachtete die elegante Fassade. Lange her, dachte er, dass ich mich darauf gefreut habe, nach Hause zu kommen.

Eine rotgesichtige Frau Lang begrüßte ihn an der Tür. Sie mied seinen Blick, als sie ihm Hut und Mantel abnahm. Sein Frühstück, sagte sie, stehe schon im Speisezimmer bereit, es werde langsam kalt. Es klang, als sei er daran schuld. Als er erklärte, er habe keinen Hunger und wolle vor allem ein Bad nehmen, schien sie kaum zuzuhören. Mürrisch blickte sie zu Boden und strich den Ärmel seines Mantels glatt.

»Und Kaffee«, fügte er hinzu. »Das Spülwasser, das sie im Zug serviert haben, war ungenießbar.«

Noch immer machte Frau Lang keine Anstalten, sich zu bewegen. Julius nahm es verärgert zur Kenntnis. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie so früh am Tag in eine derart schlechte Stimmung versetzt haben konnte. Bestimmt war es wieder so ein banaler Streit mit dem Kindermädchen. Die beiden führten Revierkämpfe wie zwei wilde Bären.

»Das Bad, wenn Sie so nett wären«, sagte er spitz. »Oder muss ich es mir selber einlassen?«

Die Haushälterin verzog das Gesicht. Einen schrecklichen Augenblick lang meinte Julius, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Aber dann huschte sie, mit seinem zusammengefalteten Mantel vor der Brust, Richtung Treppe davon. Julius seufzte. Frau Lang war nach seiner Heirat mit Luisa bei ihnen in Dienst getreten; Luisa hatte darauf bestanden. Sie erklärte Julius, Frau Lang habe jahrelang bei ihren Eltern treu und zuverlässig ihre Arbeit verrichtet, ohne sie hätten sie den Krieg niemals überlebt. Damals hatte er seine Schwiegereltern noch nicht gekannt, sonst hätte er ihr das bestimmt nicht als positiv angerechnet.

Müde rieb er sich die Stirn. Der muffige Geruch der Eisenbahn hing in seinen Kleidern, und seine Augen schmerzten. Aus dem Morgensalon hörte er das gedämpfte Klappern der Schreibmaschine. Er würde Fräulein Grüber anweisen, in der Kanzlei anzurufen und mit Böhm einen baldigen Termin zu vereinbaren. Mit einem Aufschub wäre nichts gewonnen. Über ihm, in dem von der doppelten Treppe gebildeten Bogen, leuchtete das Tafelbild von Vuillard, eine Explosion aus Sonnenglast und rosafarbenen Rosen. Er legte den Kopf in den Nacken, labte sich an dieser Süße, an dem Spiel von Farbe und Struktur, das so einfach und so komplex zugleich war wie die Natur selbst. Dann durchquerte er die Eingangshalle zum Morgensalon und öffnete die Tür.

»Guten Morgen«, sagte er. Die Stenotypistin zuckte zusammen, ihre Hände schnellten von der Tastatur zum Mund.

»Herr Köhler-Schultz, Sie sind schon zurück«, sagte sie. Ihre Stimme klang angestrengt fröhlich. »Hatten Sie – äh, ich meine –, kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich muss mich umziehen. In einer halben Stunde gehen wir die Post durch. Vermutlich nichts Dringendes dabei?«

Fräulein Grüber biss sich auf die Lippe. »Ich wusste nicht – Ihre Verabredung heute Vormittag mit Herrn Rachmann …«

Der Händler aus Düsseldorf. Julius hatte ihn völlig vergessen. »Das ist heute?«

»Um halb elf. Es tut mir so leid, ich hätte ihm ja abgesagt, aber er hat keine Berliner Adresse hinterlassen, und ich war mir nicht sicher – das heißt, wenn Sie ihn lieber nicht treffen wollen, unter diesen Umständen, meine ich, kann ich ihn bitten, an einem anderen Tag vorbeizukommen. Wenn Ihnen das lieber wäre.«

Julius zögerte, halb versucht abzusagen. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, dass irgend so ein respektloser Jungspund aus der Provinz in seinem Arbeitszimmer herumlümmelte, die Hände in den Hosentaschen, und ihn affektiert mit dem vertraulichen Du anredete.

»Der Bursche hat Schmackes«, hatte Salazin achselzuckend erklärt. »Vielleicht bringt er Ihnen etwas Fabelhaftes. Und wenn nicht, na ja, es ist eine Echtheitsprüfung und keine Adoption. Schlimmstenfalls wird er Sie daran erinnern, was für ein Segen es ist, nicht mehr jung zu sein.« Hugo Salazin, der mit seinen sechzig Jahren immer noch den sicheren Instinkt eines Taschendiebs und das Lächeln einer preußischen Sphinx hatte. Kein Wunder, dass seine Galerie zu den erfolgreichsten in Berlin gehörte. Seufzend schüttelte Julius den Kopf.

»Nein, ich empfange ihn«, sagte er. »Händler sind wie Küchenschaben. Wenn man sie nicht gleich wieder loswird, vermehren sie sich rasant.«

Die Stenotypistin lachte höflich und zeigte dabei die Zähne. Als das Telefon klingelte, bedeutete ihr Julius abzuheben und ging nach oben. Es bestand wenig Gefahr, zu dieser frühen Zeit am Vormittag zufällig Luisa über den Weg zu laufen. Es würde noch Stunden dauern, bevor sie erscheinen würde, dennoch wappnete er sich ein wenig, als er den galerieartigen Treppenabsatz querte. Seine Räume lagen auf der Ostseite des Hauses, ihre auf der Westseite. Automatisch und mit einem unbehaglichen Gefühl blickte er in den langen Flur, der zu ihrer Tür führte. Zu seiner Überraschung stand sie offen. Ein Streifen blassgraues Licht schimmerte auf dem Parkett.

Langsam und widerstrebend ging Julius den Flur entlang und spähte hinein. Luisa hinterließ in ihrem Schlafzimmer meistens ein Chaos aus ringsum verstreuten Kleidern, Zeitschriften und aufgerissenen Briefen, auf dem zerwühlten Laken ein Tablett mit halb ausgetrunkenem Tee und angeknabbertem Toast. An diesem Morgen aber war das Bett ordentlich gemacht und der Tisch am Fenster leer bis auf eine Schale mit Blumen. Plötzlich waren auf dem Treppenabsatz eilige Schritte zu hören.

»Frau Lang?«, sagte Julius und erstarrte wie ein Hase im Scheinwerferkegel eines Automobils. »Wo ist meine Frau?«

Damit fiel sie in sich zusammen, sank auf die Stufen und hielt sich dabei mit einer Hand am Geländer fest.

»Sie ist fort«, sagte sie. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, die Worte waren kaum zu verstehen. Es habe keine Vorwarnung gegeben. Eigentlich hätte Frau Lang von ihrer Abreise auch gar nichts mitbekommen, Mittwoch war ja ihr freier Tag, aber weil sie früher zurückgekommen war, hatte sie die drei noch gesehen: die gnädige Frau und das Kindermädchen unter Regenschirmen vor dem Haus und das in Decken eingewickelte Baby, das aus Leibeskräften schrie, während der Taxifahrer versuchte, die Berge von Gepäck im Kofferraum zu verstauen. So viele Koffer, sagte Frau Lang, sie habe keine Ahnung, wer das alles gepackt habe und wie sie damit zurechtkommen wollten. Dann habe die gnädige Frau sie gesehen und das Kindermädchen ins Taxi geschoben. Sie seien in Eile, habe sie Frau Lang aus dem Autofenster zugerufen, und schon spät dran für den Zug. Ihr Reiseziel habe sie nicht verraten, sondern nur irgendetwas von ihren Eltern gesagt und dass sie sich die restlichen Sachen nachsenden lasse. Frau Lang hatte gedacht, es handle sich um einen Notfall. Sie hatte das Baby noch weinen gehört, als das Taxi losgefahren war.

»Das war gestern?«

Die Haushälterin nickte unglücklich. Sie sah ihn dabei nicht an.

»Und hat sie gesagt, wann sie wiederkommt?«

Langes Schweigen. »Sie hat einen Brief hinterlassen«, sagte sie schließlich. »In Ihrem Arbeitzimmer.«

Julius ging nach unten. Ihm war, als läge ein schwerer Stein auf der Brust, er hatte eine böse Vorahnung. Luisa hätte das Baby nicht mitgenommen, wenn sie hätte wiederkommen wollen. Sein Arbeitszimmer sah aus, wie er es verlassen hatte, die Bücher auf seinem Schreibtisch waren ordentlich aufgereiht, ein Feuer knisterte im Kamin. Mit vier Schritten durchquerte er das Zimmer, sah flüchtig den Stapel Post auf der Schreibtischunterlage durch und ließ die Kuverts fallen wie abgeworfene Spielkarten. Kein Brief von Luisa dabei. Dann trat er an den Kaminsims und schob die Rosso-Büste zur Seite. Auch da nichts. Nur eine unnatürliche Leere in seinem Augenwinkel. Eine plötzliche Kälte durchfuhr ihn, das Blut schien aus seinen Gliedern zu weichen. Das war nicht möglich. Das konnte nicht möglich sein. Benommen drehte er sich um.

Es war weg. Julius starrte auf die leere Wand, den gräulichen Abdruck, den der Rahmen hinterlassen hatte. Auf den Briefumschlag, der auf dem Nagel aufgespießt war. In seinem Schädel war ein leeres Rauschen, ein Pfeifen und Zischen wie bei einem schlecht eingestellten Radioapparat. Mit unsicherem Schritt trat er an die Wand, strich mit der Hand darüber, als könnte er es dort immer noch berühren. Als sei sein Nichtvorhandensein nur eine optische Täuschung. Die Wand fühlte sich kalt an. Ohne zu schauen, griff er nach dem Brief, riss ihn vom Nagel. Das konnte nicht wahr sein. Ein Irrtum. Ein dummer Streich, um ihn zu erschrecken. Sein Gesicht war wie erstarrt, als gehörte es ihm nicht mehr. Auch die Finger fühlten sich fremd an. Er schaffte es kaum, den Umschlag zu öffnen.

Gekritzel. Etwas über seine Unzulänglichkeiten, ihren Überdruss und ihr Elend. Dann ein neuer Absatz:

Natürlich konnte ich nicht ohne meinen Vincent fortgehen. Ihn bei mir zu haben, gibt mir das Gefühl, sicherer und irgendwie beschützt zu sein. Wie tröstlich, ihn anschauen zu können und dabei an Dich zu denken.

Die Wut war wie ein Schmerz, der alles einnahm. Mit einem lauten Heulen warf er sich gegen die nackte Wand und schlug mit den Fäusten auf sie ein. In seiner Brust und seinem Schädel tobte ein beißendes Feuer. Er bekam kaum Luft, so sehr raubte es ihm den Atem. Der scharfkantige Metallnagel schnitt ihm in die Hand. Er packte ihn, ruckte und zerrte daran, als wollte er ihn aus der Wand reißen. Blut rann aus der Wunde und lief ihm übers Handgelenk. Er schloss die Augen, aber ihre Stimme kroch ihm ins Ohr, wieder und wieder wie eine Schellackplatte, auf der die Nadel festhing.

»Er macht mir Angst. Diese Schweinchenaugen, die uns angaffen, wenn wir miteinander schlafen. Und wo steckt seine andere Hand überhaupt? Im Ernst. Es ist abstoßend.«

Und er hatte daraufhin gelacht. Das meinte sie nicht ernst, sie konnte es nicht ernst meinen, sie neckte ihn bloß. Sie war jung, er würde ihr alles beibringen. Warum nur hatte er nicht gesehen, dass sie unbelehrbar war? Es ist abstoßend. Das Gemälde, das seit dreißig Jahren sein Herz schneller schlagen ließ.

Blutspuren an der Wand. Ein verschmiertes Rot und eine blasse graue Linie. Ein nackter Nagel. Ein Hauch von Blau, als habe das Gemälde einen Abdruck hinterlassen. Mein Vincent. Erneut stieg die Wut wie ein Granatfeuer in ihm hoch. Er schnellte herum und trat gegen den niedrigen Hocker hinter ihm, der polternd umfiel. Neben dem Lehnsessel standen eine Lampe und ein Stapel Bücher. Er schmetterte die Lampe gegen die Wand, dann auch die Bücher, bündelweise und so heftig er konnte, aber die Wut loderte immer weiter, dröhnte ihm in den Ohren, sodass er auch noch aus den Regalen die Bücher herausriss und zu Boden warf. Seine Arme bewegten sich wie Kolben, mechanisch und brachial. Wie von Sinnen drehte er sich zum Kamin um. Die Rosso-Büste starrte ihn vom Sims mit leeren, teilnahmslosen Augen an.

»Sie ähnelt mir«, hatte Luisa einmal gesagt. Damals hatte er das nicht gesehen. Aber jetzt erkannte er es. Ihr leises Lächeln war voller Spott. Noch nie hatte er jemanden so abgrundtief gehasst. Er packte die Skulptur und schmetterte sie gegen das Fenster. Das Glas zerbarst.

»Ohhh.«

Es war weniger ein Wort, vielmehr ein Atemholen. Julius drehte sich um, die Arme von sich gestreckt. Fräulein Grüber stand in der Tür. Neben ihr ein junger Mann. Schlank, feingliedrig, mit blasser Haut und kupferfarbenem Haar. Unter dem Arm trug er ein in braunes Packpapier eingewickeltes Gemälde. Einen verwirrten, unwahrscheinlichen Augenblick lang hielt Julius das Bild für seinen van Gogh, den sie ihm zurückgeschickt hatte. Der junge Mann betrachtete das zerborstene Fenster, die Lampe und die Bücher, die aufgeklappt und zerrissen auf dem Boden lagen.

»Ich – äh, bitte entschuldigen Sie«, stammelte die Stenotypistin. »Wir, äh, ich komme später noch einmal.«

Sie sah betroffen drein, während sie nach der Klinke tastete. Der junge Mann blieb stumm, blickte Julius aber unverwandt an. Dann verbeugte er sich kurz und verließ rückwärtsgehend das Zimmer. Die Tür schloss sich. Julius sah auf seine blutverschmierten leeren Hände. Eine kalte Brise wehte durch das kaputte Fenster herein und brachte die Seiten der Bücher zum Rascheln.

Später kamen ihm diese Augen wieder in den Sinn, ihr außergewöhnliches milchiges Grün, wie Meerglas.

Im gleißenden Licht der Sonne

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