Читать книгу Am Ende jener Tage - Clare Clark - Страница 10
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ОглавлениеIn den Schlafsälen von Oscars Schule durften die Jungen nur eine einzige Fotografie auf ihrer Kommode stehen haben. In Oscars erstem Schuljahr entschieden sich die meisten für ein Bild ihres Hundes, ausgenommen Brigstocke. Dessen Kommode zierte ein Silberrahmen mit der Aufnahme einer Dame, die er gegenüber der Hausmutter hartnäckig als seine Tante ausgab, die aber in Wahrheit eine Tänzerin namens Hilda Lewis war. Im zweiten Kriegsjahr sah man auf den Kommoden fast nur noch Fotos von Männern in Uniform.
Vor den anderen Jungen gab Oscar Theo als seinen Cousin aus. Auf dem Foto war Theo auf dem abschüssigen Rasen vor Ellinghurst zu sehen, im Hintergrund der burgartige Eckturm und die Bogenfenster des Ostflügels. Oscar hatte es mit Theos alter Brownie aufgenommen, die er in einer Kiste zwischen abgetragener Kleidung und Kricketschlägern gefunden hatte. Theo besaß damals schon eine neuere, größere Kamera, dennoch hatte Oscar Bedenken, die alte Brownie nach Ellinghurst mitzubringen, denn er fürchtete, Theo könnte sie vielleicht doch wiederhaben wollen. In einem der Fenster war so etwas wie ein blasser Kreis zu erkennen, den man für ein menschliches Gesicht hätte halten können; es war aber nur die Reflexion der Sonne auf der Glasscheibe. Unter dem steifen Schirm seiner Mütze kniff Theo die Augen zusammen.
Theos Tod war für Oscar kein Grund, das Foto zu entfernen. Auch die anderen Jungen ließen ihre Bilder stehen. In klaren Nächten, wenn das Mondlicht dem Linoleum einen silbrigen Glanz verlieh, schimmerten in der Düsternis die Gesichter der gefallenen Onkel und Brüder bleich wie Gespenster. Eines Abends, als Oscar nach dem Essen in den Schlafsaal zurückkam, standen Tuckwell und Jamieson an seinem Bett. Jamieson hielt Theos Aufnahme in der Hand. Jemand hatte Theos Mütze mit einer preußischen Pickelhaube übermalt und seinen Schnurrbart so verlängert, dass sich die Bartspitzen um seine Ohren ringelten. In einer Sprechblase aus seinem Mund stand in Großbuchstaben DEUTSCH SCHWEIN geschrieben. Oscar wartete mit angehaltenem Atem, was die beiden als Nächstes vorhatten, aber da spuckte Jamieson in sein Taschentuch und wischte aufgebracht über das Glas, sodass die Tinte verschmierte. Dann stellte er das Foto wortlos an seinen Platz zurück.
Seitdem bedeckte ein schwarzer Schmierfleck Theos Gesicht, und ein Schatten lag auf der Turmmauer, als hätte sich ein Zeppelin vor die Sonne geschoben. Bevor er zu Bett ging, berührte Oscar den Schatten, nicht, damit er ihm Glück brachte, sondern damit das Unglück nicht noch größer wurde. Zwar glaubte er nicht, dass es wirkte, aber er tat es trotzdem jedes Mal, so wie seine Mutter immer pfiff, wenn sie eine Elster sah, und dann sagte: »Guten Morgen, Mr Elster, wo ist Ihr Bruder?« Das Problem mit dem Glück sei, so erklärte sie, dass man nie wisse, ob es überhaupt einen Unterschied mache.
Im Trimester nach Theos Tod wurde Oscar dem Mathematikkurs von Mr Leach zugeteilt. Mittlerweile unterrichteten nur noch Lehrer, die entweder uralt oder verkrüppelt waren. Mr Leach hatte dünnes Haar, das in sorgfältig geordneten Streifen auf seinem Schädel zu kleben schien, und ein flaches rundes Gesicht mit einer Nase so spitz wie der Gnomon einer Sonnenuhr, der Zeiger, der den Schatten warf. Oscar hatte den Begriff Gnomon überhaupt erst durch Mr Leach kennengelernt. Laut Wörterbuch stammte er aus dem Altgriechischen und bedeutete: »das, was erkennen lässt«.
Das Einzige, was Mr Leach erkennen ließ, war seine Abneigung gegen Oscar. In einer der ersten Schulstunden beging Oscar den Fehler, auf eine falsche Zahl in der Gleichung hinzuweisen, die Mr Leach an die Tafel geschrieben hatte. Mr Leach wischte die Gleichung aus und schrieb oben auf die Tafel »Eine Unverschämtheit, die unbestraft bleibt, wird noch größer« ARISTOTELES. Dann verpasste er Oscar vor der ganzen Klasse eine Tracht Prügel.
Von da an nannte er Oscar nur noch den Fürsten der Mathematik. Dabei grinste er derart höhnisch, dass sich seine langen Nasenflügel weiteten und die Härchen darin zu sehen waren. Wie alle wussten, war »Fürst der Mathematik« der Ehrentitel von Carl Friedrich Gauß, einem Deutschen. Mr Leach geriet in Rage, wenn Oscar nicht dem vorgeschriebenen Lösungsweg folgte, sondern kurzerhand die Ergebnisse niederschrieb, die ihm spielend leicht einfielen, sobald er die Aufgabenstellung las. Mr Leach behauptete, lediglich die Ergebnisse zu nennen sei eine Verhöhnung der Mathematik. Daher bestand er auf Herleitungen und Definitionen und fachchinesischen Formulierungen, die er »Axiome« nannte. Vergaß Oscar einen der vorgegebenen Schritte, wurde er von Mr Leach verprügelt. Die Anstrengung, die ihn das kostete, ließ seine Augen hervortreten und die aufgeklebten Haarsträhnen verrutschen.
Die Prügel machten Oscar wenig aus. Was ihn quälte, waren die Aufgabenstellungen. Ein ganzes Schulhalbjahr lang und noch ein weiteres setzte Mr Leach ihm die immergleichen sinnlosen Aufgaben vor, wieder und wieder. Sie waren wie Bleigewichte, die man den Zahlen an die Füße gebunden hatte. Da sie nirgendwo hin konnten und nichts zu tun hatten, begannen sie in Oscars Kopf Krawall zu schlagen. Nachts im Dunkeln spürte er sie in den Windungen seines Gehirns umherirren, als suchten sie einen Ausgang. Sie tanzten nicht mehr für ihn oder zumindest kaum mehr. Sie waren lustlos geworden und erschlafft, Überdruss und Frustration hatten ihnen ihre frühere Geschmeidigkeit geraubt. Manchmal, wenn er sie zusammenzuführen versuchte, entzogen sie sich ihm, während sie sich doch früher so mühelos gefügt hatten, und dann wurden sie wütend und gellten ihm in den Ohren. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst vor ihnen.
Seine Mutter schrieb ihm. Sie schickte ihm eine Postkarte mit einem Zitat von Galileo Galilei:
Das Universum ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, auch nur ein einziges Bild davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.
Auf die Rückseite der Postkarte hatte sie ein Bild gezeichnet, das einen verwirrt dreinblickenden Oscar zeigte, umgeben von mathematischen Symbolen. Darunter stand: Kopf hoch, mein Schatz, und lass nicht locker. Du bist alles, was zwischen mir und dem Minotaurus steht.
Im folgenden Schultrimester begann die Ausbildung für das Kadettenkorps. Der Sergeant Major, der an Oscars Schule das Korps leitete, sagte, wenn der Krieg so weitergehe wie bisher, seien sie die nächsten Offiziere, die die alliierten Truppen in die Schlacht führten. Einmal pro Trimester, bei der Abschlussfeier, verlas der Direktor die Namen der gefallenen ehemaligen Absolventen, die auf einer Tafel in der Aula festgehalten wurden. Sobald eine Tafel voll war, wurde eine neue aufgehängt. Oscar würde zwar erst in zwei Jahren achtzehn sein, aber zweimal die Woche übte er, durch den Schlamm zu kriechen, zu schießen und ein Bajonett in einen Sandsack zu rammen. Der Sergeant Major erklärte dem Korps, es gebe keinen Unterschied zwischen einem schlechten Soldaten und einem Verräter. Nachts träumte Oscar von aufgereihten Zahlen, Soldaten hoch 10, hoch 10000, und wie er sie mit dem Bajonett aufspießte, wieder und wieder. Dabei entstand ein ekliges schmatzendes Geräusch, aber die Zahlen starben nicht. In Scharen stürmten sie auf ihn ein, immer mehr krochen aus der Erde, als bestünden sie aus Muskelmasse und Schlamm.
Dagegen half nur der Gedanke an Jessica. Sie war das Einzige in seinem Kopf, das überhaupt nichts mit Zahlen zu tun hatte. In seiner Vorstellung fuhr er mit dem Finger über ihre Stirn, folgte dem Bogen ihrer Augenbrauen und berührte sacht die weichen Spitzen ihrer Wimpern. Ihre hohen Wangenknochen fühlten sich hart an unter der weißen, zarten Haut, und auf ihrem Nacken ringelte sich eine Strähne honigfarbenen Haars wie eine Drei.
Sie war sein eigener privater Film, stumm und vollkommen, der stets von neuem vor seinem geistigen Auge ablief. Sein Finger glitt über ihre seidige Haarlocke, dann über ihre Wange. Wenn sich ihre Lippen öffneten, zeigte sich zwischen den Zähnen die rosafarbene Zungenspitze. Behutsam fuhr er die geschwungenen Konturen ihrer Oberlippe mit dem Lippenherz und die Rundung ihrer Unterlippe nach, deren Weichheit ihn erbeben ließen. Dann drehte er sich auf den Bauch, grub das Gesicht ins Kissen und hob ihr Kinn an, ihm entgegen, um seine Lippen auf die ihren zu drücken. Ihre Nasenspitze an seiner Wange fühlte sich kalt an. Wenn der Höhepunkt kam, presste er sich gegen die Matratze, damit die Eisenfedern nicht quietschten, und einen Augenblick lang war nichts mehr in seinem Kopf, keine Zahlen, kein Aufruhr und kein Beben, nur noch Dunkelheit und der süße Duft ihres Haars nach frisch gemähtem Gras.
Da er den Film so oft abspielte, vergaß er fast, dass er ein Stück Wirklichkeit war. Denn das war er, wirklich. Mindestens eine Minute lang, vielleicht auch viel länger, hatte sich Jessica Melville von ihm küssen lassen. Und sie hatte den Kuss erwidert. Danach hatte sie sich mit dem Handrücken den Mund abgewischt und Oscar angesehen, die Unterlippe zwischen den Zähnen.
»Ich geh jetzt ins Haus«, sagte sie. Und dann: »Ich bin das erste Mädchen, das du geküsst hast, stimmt’s?« Als er nickte, lächelte sie in sich hinein. »Dann wirst du mich für immer lieben. Dein ganzes Leben lang.«
Als sie den Pfad zum Garten entlanglief, sah er ihr nach, folgte ihr jedoch nicht. Der Gedanke, jetzt mit den anderen den Tee im Kinderzimmer einzunehmen, in der inquisitorischen Helligkeit des elektrischen Lichts, war ihm unerträglich. Wie sollte er nach dem, was soeben geschehen war, von nun an mit Jessica sprechen, geschweige denn sie ansehen? Und wie würde seine Mutter reagieren? Undenkbar, dass ihr seine Veränderung nicht auffiele. Der Kuss hatte ihn gezeichnet wie ein Brandmal. Ebenso gut hätte er lila Haare oder das Gesicht voller Lippenstiftspuren haben können.
Er hatte Jessica geküsst. Jessica Melville, die aussah wie eine Schauspielerin und fluchte wie ein Matrose, die ihn provozierte und zur Weißglut brachte. Aber allein der Gedanke an ihr Gesicht genügte, dass er wie von einem Stromschlag getroffen zusammenzuckte. Jedes Mal, wenn er es sich ins Gedächtnis rief, explodierte in ihm ein Feuerwerk: Er, Oscar Greenwood, hatte Jessica Melville geküsst. Bei dieser grotesken Vorstellung hätte er am liebsten lauthals gelacht.
Er blieb noch lange im Turm. Als er schließlich verlegen und halb erfroren ins Haus zurückschlich, traf er dort niemanden an. Seine Mutter saß im oberen Stock mit Patentante Eleanor zusammen, Sir Aubrey hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Die beiden Mädchen und er nahmen im Frühstückszimmer ein einfaches Abendessen ein. Phyllis las wie gewohnt in ihrem Buch. Er spürte Jessica neben sich, ihr Summen klang wie das Vibrieren einer Maschine, aber er hielt den Blick auf seinen Teller gerichtet und tat, als würde er essen. Im Rachen nahm er den fauligen Gestank von Theos Uniform wahr.
Am nächsten Morgen beobachtete Oscar von seinem Schlafzimmerfenster aus, wie seine Mutter mit Sir Aubrey über den Rasen schlenderte. Hinter ihnen erhob sich der Turm wie ein senkrecht stehender Bleistift über dem dunklen Gekritzel des Waldes. Oscar schloss die Augen, um sich den Kuss ins Gedächtnis zu rufen und Jessica wie ein leises Flirren tief in seiner Magengrube zu spüren, aber stattdessen sah er, wenngleich ein wenig undeutlich, das bleiche Gesicht von Theo Melville in der Dunkelheit. Man schickte inzwischen die Leichname von der Front nicht mehr in die Heimat zurück, denn es waren zu viele. Theo Melville war dort bestattet worden, wo er den Tod gefunden hatte, falls es von ihm noch etwas gab, das bestattet werden konnte. Schwer vorstellbar, dass der Geist eines Menschen inmitten des unaufhörlichen Donners der Kanonen Ruhe fand.
Die Leute sagten, es gebe keine Gespenster, aber Oscar war anderer Meinung. Zwar glaubte er nicht an kopflose Spukgestalten mit klirrenden Ketten wie in den Gruselmärchen, wohl aber an Geister, an die Spuren der Energie, die sie am Leben gehalten hatte. Menschliche Knochen, Gehirne und Fleisch lebten nicht aus sich selbst heraus. Sie bestanden aus Materie, träger Materie, und deren Atome wurden vollständig von den Kräften kontrolliert, die auf sie einwirkten, der Energie im Äther. Die Atome selbst konnten ihren Zustand nicht verändern. Sie konnten sich nicht aus eigenem Antrieb bewegen oder stillstehen. Dafür sorgte das Trägheitsgesetz, dem alle materiellen Atome unterworfen waren, ob sie nun eine Maschine bildeten, eine Spielzeuguhr oder einen menschlichen Körper.
Die meisten Menschen glaubten irrtümlicherweise, Materie sei realer als Energie, weil sie nur die Materie sahen, nicht aber die Energie. Oscar verstand das nicht. Ein Magnetfeld existierte doch unabhängig davon, ob man es gerade mittels Eisenspänen sichtbar machte oder nicht. Auch ohne Telegrafenapparat bewegten sich Schallwellen durch den Äther, unsichtbar und unbemerkt. Warum sollte nicht auch für das menschliche Leben gelten, dass die Grundenergie, die jedes Individuum mit Leben erfüllte, weiterexistierte, auch wenn der zugehörige Körper, an dem dies sichtbar wurde, nicht mehr existierte? Der Nobelpreisträger Pierre Curie, der zusammen mit seiner Frau Marie das Radium und das Polonium entdeckt hatte, hatte regelmäßig an Séancen teilgenommen. Er hatte gehofft, sie würden, richtig durchgeführt, das Geheimnis der Radioaktivität enthüllen.
Und doch. Oscar dachte an den bereits vergilbten Zettel, den Mr Beckers, der neue Naturkundelehrer, an die Wand des Klassenzimmers geheftet hatte, geschrieben in unverkennbar kontinentaleuropäischer Schrift.
Eine Theorie kann durch empirischen Beweis nur widerlegt werden. Ein empirischer Beweis kann niemals eine Theorie belegen, da womöglich ein anderer, noch unentdeckter empirischer Beweis existiert, der der Theorie widerspricht.
Im Zug nach Hause fragte er seine Mutter, ob die Männer aus Theos Bataillon vorhin in den Wald gegangen seien.
»Warum?«, wollte sie wissen. »Hast du jemanden gesehen?«
»In der Ferne. Undeutlich. Ich glaubte fast …«
»Dass es Theo war.«
Oscar nickte. Er wünschte, seine Mutter könnte nicht immer seine Gedanken lesen.
»Vielleicht war er es.«
»Vielleicht.«
Seine Mutter schwieg lange. Dann seufzte sie. »Wir alle haben an diesem Wochenende Theo gesehen«, sagte sie. »Auf die eine oder andere Weise.«
Im Juni absolvierte Oscar die Versetzungsprüfungen. In Naturkunde und Latein erzielte er fast die Bestnote, in Mathematik jedoch kam er gerade noch über ein Ungenügend hinaus. Mr Leach erklärte dem Direktor, Oscar verfüge weder über die Eignung noch die Motivation für dieses Fach, sodass für ihn kein Platz mehr in seiner Klasse sei. Mr Leach wollte ihn damit bestrafen, aber für Oscar war es wie eine Erlösung. Er hatte fast sein ganzes Deutsch vergessen bis auf jene Brocken, die ihm bei bestimmten Melodien oder spät abends beim Einschlafen in den Sinn kamen. So war es mit den Sprachen: Vernachlässigte man sie, verwilderte der Teil des Gehirns wieder, den man für sie freigeräumt hatte. Oscar wünschte, dass dies auch auf die Zahlen zuträfe.
In jenem Sommer statteten sie Ellinghurst keinen Besuch ab. Oscars Mutter murmelte etwas von Mr Asquith und wichtigen Reisen. Als Oscar gegen Ende der Ferien auf dem Küchentisch inmitten der Stapel von Büchern und Papieren Platz schaffen wollte, stieß er auf einen Brief von Sir Aubrey, der mehrmals gefaltet in einem Gedichtband abgelegt worden war.
Ich wünschte, es wäre anders, aber sicher kannst Du Dir vorstellen, wie sehr Eleanor der Anblick von Oscar schmerzt. Dein Junge ist so groß geworden. Möge Gott diesem Albtraum ein Ende setzen, bevor er alt genug ist, dessen Schrecknisse kennenzulernen.
Oscar wurde erst in zwei Jahren achtzehn. Nicht auszumalen, dass der Krieg noch so lange dauerte, aber ebenso wenig konnte man sich vorstellen, dass er irgendwann enden würde. Er war so widerwärtig wie der schwarze Ruß Londons, eine dünne Schmutzschicht, die auf allem lag und den Gedanken, dass irgendetwas je wieder sauber sein könnte, unvorstellbar machte. In ihrer Straße in Clapham hatte fast jedes Haus einen Trauerfall zu beklagen. Aber niemandem setzte die Trauer so zu wie den Menschen im Haus seiner Patentante Eleanor. Eine Woche zuvor hatten Oscar und seine Mutter bei einem Essen, bei dem Geld für Flüchtlingskinder gesammelt worden war, die Frau des örtlichen Arztes kennengelernt. Sie trug ein blaues Kleid mit einem weißen Band am Ärmel.
»John und ich fühlen uns hoch geehrt«, vertraute sie ihnen leise an, »dass Charles für sein Vaterland sein Leben gegeben hat.«
Später, zu Hause, weinte seine Mutter. Sie sagte, das Widerwärtigste an diesem ganzen widerwärtigen Treiben sei die Vorstellung von einem ruhmreichen Tod. Wie absurd, um die toten jungen Männer nicht zu trauern, nur damit die Hinterbliebenen am Glauben an einen heiligen Krieg festhalten konnten. Inzwischen verfassten sie und ihre alten Gefährtinnen von der Suffragettenbewegung keine Pamphlete und Artikel über das Frauenwahlrecht mehr. Stattdessen setzten sie sich dafür ein, nicht kriegführende Länder wie Amerika davon zu überzeugen, als Friedensstifter tätig zu werden. Die meisten dieser Frauen arbeiteten tagsüber wie Oscars Mutter und konnten sich deshalb nur abends ihrem Anliegen widmen. In den Zeitungen wurden sie als fanatisch und hysterisch angeprangert, und man bezichtigte sie, unpatriotisch zu sein, aber Oscars Mutter hatte dafür nur ein Schulterzucken übrig. »Wenn die Hirne der Männer uns all das eingebrockt haben«, sagte sie, »dann ist es höchste Zeit, dass die Menschen auf die Herzen der Frauen hören.«
Der Krieg überschattete alles. Oscar kümmerte es wenig, dass sie nicht nach Ellinghurst fuhren, denn es fiel ihm leichter, Jessica in seinen Gedanken zu bewahren, als sich vorzustellen, was bei ihrem Wiedersehen geschehen würde. Aber er sehnte sich danach, an einem Ort zu sein, wo der Krieg nicht präsent war. Die Straßen hallten wider von den Marschkolonnen der Rekruten in Zivil und auf dem Common jenseits der umzäunten Gemüsebeete schleuderten Soldaten mit Gasmasken vor dem Gesicht Granatenattrappen und robbten durch tief ausgehobene Gräben voller Schlamm. Vor dem Fenster seines Schlafzimmers hingen Verdunkelungsjalousien, neben dem Bett lagen Kerzen für den Fall eines Luftangriffs, und an der Mauer gegenüber seinem Fenster klebte ein großes Plakat, das für den Eintritt in die Armee warb. Auf den Bänken rund um den Teich starrten verkrüppelte Männer mit Krücken oder schlimmem Husten ins Nichts, während am Himmel über ihnen Sperrballons schwebten und wie dicke schwarze Fische an den Wolken schnupperten. Niemand ließ mehr Drachen steigen. Es war gesetzlich verboten. Auf der High Street standen graugesichtige Frauen um Fleisch an und kämpften mit den Tränen.
Seine Mutter hatte eine Stelle bei einer Versicherungsgesellschaft gefunden. Da so viele Männer an der Front kämpften, gab es nicht genügend Angestellte. Ihre Arbeitszeiten waren lang, und nach dem Abendessen schlief sie in ihrem Sessel ein. Die großen Ferien waren eintönig und zogen sich in die Länge. Als Oscar seiner Mutter vorschlug, wieder einmal ins Varietétheater zu gehen, erwiderte sie, das ertrage sie nicht, die Darbietungen seien reine Regierungspropaganda, im Grunde eine Rekrutierungsveranstaltung. Solche Lieder könne sie nicht mitsingen. Deshalb ging Oscar ins Kino. Nachmittags waren die Eintrittskarten billig. Der Vorführer im Globe auf der Clapham High Street hatte in der Schlacht von Mons die rechte Hälfte seines Gesichts verloren. Wenn manchmal eine abgespulte Filmrolle in der einsetzenden Stille ratterte und auf der flackernden Leinwand nur noch ein leerer Lichtbalken zu sehen war, in dem Staubfahnen kreisten, und jemand zur Vorführkabine hinaufging und an die Tür klopfte, fand er ihn auf seinem Stuhl sitzend, wo er vor und zurück schaukelte, den Blick auf den Film geheftet, der immerfort und unerbittlich in seinem Kopf ablief und den er nicht mehr anhalten konnte.
Der Krieg überschattete alles, selbst die Physik. Zwar galten Schullehrer als unabkömmlich und waren daher eigentlich vom Kriegsdienst freigestellt, doch an Oscars Schule waren die meisten Lehrer, die noch jung genug waren, dennoch eingezogen worden. Der neue Naturkundelehrer war ein belgischer Flüchtling namens Beckers. Mr Beckers hatte aufgrund von Kinderlähmung ein krummes Rückgrat, deshalb nannten die Jungen ihn mit nachgeäfftem belgischem Akzent Betten-Beckers. Aber sie mochten ihn. Er hatte an der Universität Leuven gelehrt, bis die Deutschen einmarschierten und er fliehen musste. Viele seiner Kollegen dort waren selbst Deutsche gewesen. Nach Mr Beckers’ Ansicht gab es in der Wissenschaft keine Politik, alle Wissenschaftler standen auf einer und derselben Seite.
Auf seiner Flucht nach England hatte Mr Beckers zwei Koffer mitgenommen, beide voll mit Büchern, Aufzeichnungen und Fachzeitschriften. Die Deutschen hatten die Bibliothek verbrannt, und was brauche er außerdem viel Kleidung, sagte er, die Sachen passten ihm sowieso nicht gut. Er erklärte Oscar, viele Wissenschaftler in Europa hätten ernsthafte Zweifel an der Vollständigkeit von Newtons Theorien, und gab ihm einige Artikel zu lesen. Manchmal, wenn die anderen Jungs Rugby oder Kricket spielten, lud er Oscar zum Tee in sein kleines Zimmer ein. Sie setzten sich vor den elektrischen Ofen und unterhielten sich über Physik. Mr Beckers erzählte Oscar von Strahlung und X-Strahlen und von Ernest Rutherfords Hypothese über das Atom, wonach die Elektronen nicht beliebig umherschossen, wie der weise Mann behauptet hatte, sondern in elliptischen Bahnen um einen zentralen Kern kreisten. Alle Experimente Rutherfords bestätigten seine Theorie. Es gebe nur ein Problem: Sie sei unmöglich, denn sie widerspreche den Grundgesetzen der Physik. Faraday und Maxwell hatten bereits bewiesen, dass ein elektrisch geladenes Teilchen Strahlung produzierte, wenn es von einer geraden Linie abgelenkt wurde. Da sich Rutherfords Elektronen in Kreisbahnen bewegten, müssten sie demnach die ganze Zeit Strahlung abgeben und daher Energie verlieren und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde in den Kern hineintrudeln. Rutherfords Atom war also gar nicht möglich. Es müsste theoretisch in sich selbst zusammenfallen. Doch das tat es nicht.
Nicht Rutherford, sondern ein Däne namens Niels Bohr, sagte Mr Beckers, habe behauptet, ein um einen Kern kreisendes Elektron würde nicht strahlen. Das sei ebenso unmöglich wie Rutherfords Theorie, aber dennoch schienen die Experimente auch seine Hypothese zu stützen. Bohr sei aber noch weitergegangen. Er sagte, die Umlaufbahn der Elektronen um den Kern sei vorherbestimmt. Ein Elektron sei nur stabil bei festgelegten Entfernungen zum Kern; es könne von einer zulässigen Umlaufbahn zu einer anderen springen und absorbiere dabei Licht oder sende Licht aus. Dieses Aussenden von Licht erzeuge die Spektrallinien, die messbaren dunklen oder hellen Linien, die von den Atomen ausstrahlten – eine Art Fingerabdruck jedes einzelnen Elements der Periodentafel –, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Wissenschaft vor ein Rätsel gestellt hätten. Bohrs Experimente mit Wasserstoff bestätigten seine Annahmen, sagte Mr Beckers mit leuchtenden Augen. Der Däne habe Ordnung ins Äußere des Atoms gebracht, so wie Rutherford Ordnung in seinen Kern.
Ferner habe Rutherford die ganze klassische Physik auf den Kopf gestellt, was vielen Wissenschaftlern nicht gefalle. Während die einen seine Theorie als eine der größten Entdeckungen der Epoche bejubelten, täten viele andere sie als Hirngespinst ab. Die klassische Physik beruhe auf der Korrelation von Ursache und Wirkung: Wenn A geschah, musste B darauf folgen. Bohrs Elektron war nicht nur beliebig, es wusste auch schon im Voraus, in welcher Frequenz es vibrieren würde, wenn es von einem stationären Zustand in einen anderen wechselte. Was unmöglich sei. Oder doch nicht? Welche andere Erklärung konnte es angesichts von Bohrs Ergebnissen geben?
Damit, sagte Mr Beckers, ende vorläufig die Geschichte. Gerade als die Dinge richtig spannend zu werden begannen, sei der Krieg ausgebrochen. Die Labors verwaisten, als Männer wie Henry Melville zu den Fahnen eilten und Wissenschaftler fremder Nationalität als feindliche Ausländer des Landes verwiesen wurden. Männer, die zuvor Kollegen gewesen waren und zusammengearbeitet hatten, waren sich plötzlich feind und kämpften an entgegengesetzten Fronten. Ihre Experimente wurden eingestellt und sie selbst zu geheimen Kriegsprojekten herangezogen, wie der Herstellung von Bomben und Giftgas. Es erschienen keine Bücher und keine Zeitschriften mehr. Briefe unterlagen der Zensur. Der Krieg verdunkele die Physik, so wie er auch alles andere verdunkele.
Ehe er nicht zu Ende sei, würde nichts Bedeutendes mehr geschehen.