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Die Kinder-Enzyklopädie in der Bibliothek war Oskar bislang noch nicht aufgefallen. Sie bestand aus acht dicken Bänden, ein sechzig Zentimeter breiter Block aus blauem Leder, der im Bücherregal fast ein ganzes Bord beanspruchte. Oskar reckte sich auf die Zehenspitzen, um die Bände in Augenschein zu nehmen. In der Schule trugen die Enzyklopädien auf dem Rücken Buchstaben, an denen man erkannte, welchen Teil des Alphabets die einzelnen Bände umfassten, aber diese hier waren nur mit Ziffern gekennzeichnet, von eins bis acht. Darunter, in viel größeren Lettern, die erste und letzte Seitenzahl des jeweiligen Bandes, umrahmt von einem Muster aus goldenen Blättern und einer Schwertscheide. Oskar hatte die Römerausstellung im British Museum besucht, daher wusste er, was eine Schwertscheide war, doch was seine Aufmerksamkeit erregte, waren die Zahlen.

Seine Leidenschaft für Zahlen konnte er sich auch nicht erklären, er wusste nur, dass sie für ihn wie Freunde waren. Seine Mutter hatte gelächelt, als er das sagte, und ihm versichert, sie verstehe, was er meine, halte es aber für besser, den anderen Jungen in der Schule nichts davon zu erzählen. Im Unterschied zu Zahlen seien Schulkameraden unberechenbar, fügte sie hinzu, sie würden sich nicht immer so verhalten, wie man es erwartete. Offenbar wusste sie nicht, dass dies auch für Zahlen galt, zumindest gelegentlich. Manchmal, wenn er krank im Bett lag, stellten sie in seinem Kopf ein heilloses Durcheinander an, ähnlich wie damals, als er mit seiner Mutter bei den Olympischen Spielen die Wettkämpfe der Bahnradfahrer besucht und einen Moment lang geglaubt hatte, er hätte sie verloren; dann schoben und schubsten sich in seinem Kopf die Prim-, Quadrat- und Kubikzahlen und drängelten, bis ihm schwarz vor Augen wurde. Oder die Zahlen verflochten sich zu dicken Strängen, die immer länger und verwickelter wurden, bis er meinte, ihm platze der Schädel. Aber meistens waren sie sanft und ruhig und fügten sich so perfekt zusammen, dass er aus ihnen ganze Gebäude errichten konnte. Wunderschöne Zahlengebäude.

Oskars Mutter mochte Worte mehr als Zahlen und kannte deshalb viele Geschichten über sie. Sie erzählte Oskar von den Schäfern im mittelalterlichen Lincolnshire, die zum Zählen ihrer Schafe eigene Zahlen erfunden hätten. Sie begannen mit yan, tan, tethera, pethera, reichten aber nur bis figgit, was zwanzig bedeutete, denn besaß ein Schäfer mehr als zwanzig Tiere, schnitzte er eine Kerbe in seinen Hirtenstab und begann von neuem mit yan. Seine Mutter erklärte ihm, das Wort »kalkulieren« komme von dem römischen Ausdruck für Kieselstein, weil die Römer zum Rechnen Steinchen benutzten, und das englische Wort digit bedeute sowohl »Zahl« als auch »Finger«, weil früher die Menschen beim Rechnen ihre Finger zu Hilfe nahmen. Und weil man nur zehn Finger zur Verfügung hatte, fasste man die Zahlen in Zehnergruppen zusammen.

»Bis auf Anne Boleyn, die an der rechten Hand sechs Finger hatte«, sagte sie. Anne Boleyn sei die Frau des englischen Königs Heinrich VIII. gewesen; weil er sie geheiratet habe, als seine erste Frau noch lebte, habe er nicht mehr Katholik bleiben können, erzählte sie weiter. Oskar machte sich aus Anne Boleyn ebenso wenig wie aus den Scherben irgendwelcher Tontöpfe im British Museum, aber beim Gedanken an elf Finger überfiel ihn ein Wonneschauer, und er war ganz vernarrt in die Idee eines Zahlensystems, das bis elf ging. Deshalb hatte er sich, als er noch kleiner gewesen war, ein System ausgedacht, das bis dat – elf – reichte, und später, als er erkannte, dass eine Grundeinheit, die sich durch viele andere Zahlen teilen ließe, besser wäre, eine bis tog, zwölf. Seine Mutter sagte, im 19. Jahrhundert hätten verschiedene kluge Männer versucht, das Zahlensystem in Zwölferschritte zu unterteilen, vor allem in Großbritannien, wo ja bereits zwölf Pence einen Shilling ergaben. Aber davon habe niemand etwas wissen wollen. Das sei eines der Dinge, die sie nie verstehen werde: Selbst wenn die Vorteile einer Änderung auf der Hand lägen, hielten die meisten Menschen am Althergebrachten fest.

Band 6, Seiten 3727–4463. Sowohl 3727 als auch 4463 waren Primzahlen. Oskar mochte ungerade Zahlen lieber als gerade, aber am liebsten waren ihm die Primzahlen, weil jede ihren eigenen, besonderen Charakter besaß. Er nahm das Buch aus dem Regal. Es war neu, der Rücken noch steif, und die aufgeprägten Goldbuchstaben glänzten. Die Bücher zu Hause hingegen waren alle zerlesen, und wenn man sie aufschlug, fielen Seiten heraus, Briefe oder Zettel mit der Handschrift seiner Mutter. Immerzu verwendete sie Briefe und Listen als Lesezeichen und vergaß sie dann. Einmal fand Oskar ein Telegramm, die Bekanntgabe der Geburt von JESSICA MARGARET CROMPTON MELVILLE STOP; ein anderes Mal ein französisches Eisenbahnbillett aus der Zeit, als er noch nicht auf der Welt gewesen war. Dagegen sahen die Bücher in der riesigen Bibliothek der Melvilles samt und sonders unbenutzt aus.

Vorsichtig schlug er den Band auf. Als kleiner Junge hatte er seine Mutter gefragt, ob Sir Aubrey all die Bücher in seiner Bibliothek gelesen habe. Da hatte sie gelacht und gemeint, so weit gehe die Liebe zu Ellinghurst nicht einmal bei Sir Aubrey. Den Kaufbelegen nach seien die meisten Bücher als Meterware erworben worden wie die Seide für die Vorhänge, Kiste um Kiste, nur um die Regale zu füllen. Aber einige Bücher habe Sir Jeremiah, der Ururgroßvater von Sir Aubrey, höchstpersönlich angeschafft.

»Wie sonst erklären sich die vielen Werke von Walter Scott?«, sagte sie lächelnd, woraus Oskar schloss, dass es sich um einen Scherz handelte, auch wenn er ihn nicht verstand. Er verstand ja oft nicht, was seine Mutter sagte, hütete sich aber nachzufragen, weil die jeweiligen Erklärungen meist nicht sehr interessant waren. Sir Jeremiah jedoch interessierte ihn. Sir Jeremiah hatte Ellinghurst von einem gewöhnlichen Gutshaus in eine mittelalterliche Burg umbauen lassen, mit Zinnen und Wehrtürmen, einem Burggraben samt Zugbrücke und einem großen Torhaus mit bogenförmiger Durchfahrt, mit Pechnasen und Fallgittern und einem Wachturm mit einer Ausgussöffnung für siedendes Öl. Seine Mutter hatte Oskar erzählt, Sir Jeremiah habe Richard Löwenherz sehr bewundert; wie der große Kreuzzugskönig habe er an Edelmut und Ritterlichkeit geglaubt, aber auch an die unersättliche Profitgier des Menschen. Sie sagte, wenn einen an den Pächtern, die das Land bestellten, nur interessiere, wie viel Kapitalertrag sie erwirtschafteten, sei es wahrscheinlich klug, sicherheitshalber über Fallgitter zu verfügen.

»›Kein kleiner feiger Ritter er‹« sagte Oskars Mutter, und aus ihrem Tonfall hörte er heraus, dass diese Worte aus einem Gedicht stammten. Oskars Mutter liebte Gedichte. Sie könnten genau so schön sein wie mathematische Gleichungen, meinte sie, aber Oskar war sich sicher, das glaubte sie nur, weil sie von Mathematik keinen Schimmer hatte.

Die erste Seite in Band 6 zeigte eine glänzende farbige Bildtafel des Sonnensystems, auf der die Planeten in ihren Umlaufbahnen aussahen wie umherkullernde Glasmurmeln. Oskar war mit dem Sonnensystem einigermaßen vertraut. Er wusste, dass die Ringe des Saturns aus kleinen Eis- und Gesteinspartikeln bestanden und dass Jupiter die zweieinhalbfache Masse aller übrigen Planeten zusammen besaß – allein schon Jupiters größter Mond, Ganymed, war zum Beispiel größer als Merkur. Er wusste auch, dass von seinem Standort auf der Erde die Sonne 149,6 Millionen Kilometer entfernt war. Es verblüffte ihn, wenn andere Leute seiner Mutter gegenüber äußerten, wie klug er doch sei, dass er sich so viele Dinge merken könne. Fakten waren wie Bücher oder Socken. Wenn man sie immer an denselben Platz zurücklegte, fand man sie bei Bedarf.

Auf der Seite neben der Abbildung des Sonnensystems befand sich das Inhaltsverzeichnis. Oskar glitt mit dem Finger die Spalte hinunter, bis er auf DAS BUCH ZUM STAUNEN stieß. Erstaunt fragte er sich, was das wohl sein mochte, und ob es diesen Titel deshalb trug, weil es Staunen hervorrief. Seine Mutter hatte gesagt, mit den Worten verhalte es sich wie mit der Chemie, jedes gehe mit dem nächsten eine Verbindung ein, aber Oskar fand Worte einfach nur verwirrend. Fast hätte er das Buch ins Regal zurückgestellt. Doch als er sah, dass unter DAS BUCH ZUM STAUNEN in kleineren Buchstaben VOM WEISEN MANN geschrieben stand, wollte er wissen, wer dieser weise Mann war.

Mit dem Buch in der Hand ging er zu seiner Fensterbank. An der Längsseite der Bibliothek gab es acht Fenster oder genau genommen vierundzwanzig, weil jedes einen Erker aus drei Flügeln bildete. Oskars Fenster war das von der Tür am weitesten entfernte. Es wurde von einer Marmorbüste auf einer Säule bewacht, einem Mann mit lockigem Bart und leeren blinden Augen. Oskar vermutete, dass es sich um einen Römer handelte, denn um die eine Schulter hatte er eine Art Laken geschlungen. Und weil er weiß war, nannte Oskar ihn Mr Albus, nach dem lateinischen Wort albus für weiß. Jedes Mal, wenn er es sich in der Fensternische bequem machte, begrüßte er Mr Albus, einfach um ihm seine Anwesenheit kundzutun. Unter dem Fenster befand sich eine Bank mit einem Sitzkissen, und wenn man die auf der Innenseite befindlichen Fensterläden schloss, war es wie in einem kleinen Raum, in dem man liegen oder sogar sitzen konnte, wenn man zehn war und nicht allzu groß für sein Alter.

In diesem Erker fühlte sich Oskar wohl. Er wünschte sich nichts mehr, als in einer Burg zu leben, aber trotz der Vorfreude, einige Wochen auf Ellinghurst verbringen zu dürfen, hatte er dort oft Heimweh. Ihm gefiel es, wenn am frühen Morgen noch niemand wach war außer ihm und der Dienerschaft, die sich emsig an die Arbeit machte, und wenn er umherschlendern und alles genau betrachten konnte, ohne dass ihn jemand fragte, was er denn da mache. Aber oft wünschte er sich, mit seiner Mutter zu Hause vor dem Kamin zu sitzen, mit einem Buch oder mit Zettel und Stift in der Hand, und seine Mutter mit ihrem Kneifer auf der Nase, während sie etwas schrieb oder las oder einen Stapel Briefe faltete und in Umschläge steckte, ohne dass sie miteinander sprachen, sondern nur ab und zu aufschauten, um sich zu vergewissern, dass der andere noch da war. Auf Ellinghurst sah er seine Mutter nur nach dem Tee, wenn Nanny die Kinder in den Salon hinunterbrachte. Die Burg war wohl der interessanteste Ort, den Oskar kannte, aber es war ermüdend, immerfort mit Menschen zusammen zu sein, die nur darauf warteten, dass man wieder abreiste.

Das Buch auf der Brust, blätterte Oskar durch die Seiten. Wie sich herausstellte, erklärte der weise Mann nicht nur etwas, sondern beantwortete auch Fragen wie WAS IST DER ÄTHER? Der Äther sei überall, alles sei von ihm umhüllt, selbst die Planeten und ihre Monde. Der Äther sorge dafür, dass man mit X-Strahlen in den menschlichen Körper hineinschauen konnte und Telegrafen ohne irgendwelche Drähte Nachrichten durch die Luft schickten. Oskar wusste, was Telegrafen waren. Mr Kingsley an seiner Schule hatte ihnen alles über Mr Marconi aus Italien erzählt, der die drahtlose Telegrafie erfunden hatte und gegenwärtig an der Erfindung einer Maschine arbeitete, die Stimmen aus dem Jenseits einfangen würde, also von toten Menschen. Mr Kingsley meinte, vielleicht werde sogar noch zu ihren Lebzeiten ein Funkapparat erfunden, mit dem man die Stimme Gottes einfangen konnte.

Zu Gott äußerte sich der weise Mann nicht. Er sagte nur, der Äther sei überall, selbst in den Elektronen der Atome, den Grundbausteinen aller Materie. Oskar hatte noch nie von Atomen gehört, aber der weise Mann erklärte, alles auf der Welt sei aus Atomen zusammengesetzt, aus Teilchen so klein, dass Millionen von ihnen auf einer Nadelspitze Platz hatten. Und trotz ihrer winzigen Beschaffenheit seien sie mit noch viel viel kleineren Dingern vollgepackt, den Elektronen. Um ein Bild davon zu bekommen, wie verschwindend klein diese Elektronen seien, empfahl der weise Mann, sich Tennisbälle vorzustellen, die in zufälliger Bewegung in der Kuppel einer Kathedrale hin und her flitzten.

Am Ende betonte der weise Mann zwar, die Wissenschaft sei sich noch nicht sicher, ob sich die Atome tatsächlich so verhielten, denn dies sei bislang nur eine Hypothese, aber da war es um Oskar schon geschehen. Sein Kopf fühlte sich heiß an, als wäre er von einem inneren Licht erhellt wie eine Laterne. Er berührte die Wand neben sich, die aus Stuck geformten Flechten und das fischgrätartige Muster im Putz, in dem ein Pinselhaar haften geblieben war. Dass Stuck und Farbe und Pinselhaar ebenso wie seine eigenen Haare und seine Fingerspitzen allesamt aus Atomen bestanden, dass alles auf der Welt, was es auch war und wie es auch aussah, sich aus denselben winzigen Materieteilchen zusammensetzte, von denen jedes einzelne selbst wieder ein winziges Universum mit einem eigenen, heftig rotierenden Sonnensystem darstellte – dieser faszinierende und zugleich schauerliche Gedanke ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen.

Als die Bibliothekstür krachend ins Schloss fiel, zuckte Oskar zusammen. Instinktiv versuchte er sich in seiner Fensternische noch ein wenig kleiner zu machen. Er durfte sich hier aufhalten, denn Sir Aubrey hatte ihm ausdrücklich erlaubt, die Bibliothek aufzusuchen, wann immer er wolle, solange er nicht die Bücher in diesen Regalen anfasse, die wie Käfige aussahen. Aber das hieß nicht, dass er hier entdeckt werden wollte. Ganz langsam, um nicht laut zu atmen, zählte er im Kopf die Kubikzahlen auf: 1, 8, 27, 64, 125, 216 …

Es war nur ein einzelner Mensch, das hörte man an den Schritten. Wer immer es auch war, er sprach mit sich selbst oder sang leise vor sich hin. Vielleicht war es seine Mutter, überlegte Oskar hoffnungsvoll. Sie sang ja für ihr Leben gern. Manchmal gingen sie gemeinsam ins Clapham Grand, ein Varietétheater, wo viel gesungen wurde und wo Zauberkünstler und Possenreißer auftraten. Seine Mutter kannte sämtliche Lieder und sang bei jedem mit.

Es war ein Kratzen zu hören, als würde etwas über den Boden geschleift, dann krachte es ein ums andere Mal. Wer immer die Person sein mochte, sie warf Bücher auf den Boden. Bei jedem Knall fuhr Oskar zusammen, als steckte ein Teil von ihm selbst zwischen den Seiten. Schließlich, wie ein Paukenschlag, mehrere Bücher auf einmal und ein gellender Zornesschrei.

»Verdammter Mist, der Teufel soll euch alle holen! Sämtliche Gespenster dieser Welt sollen über euch herfallen und euch eine solche Angst einjagen, dass ihr tot umfallt

Es war Jessicas Stimme. Oskar verzog das Gesicht und flehte, das Buch in Händen, zum Himmel, sie möge aus der Bibliothek verschwinden. Wenn Jessica seinen Fensterplatz entdeckte, würde sie sicher Theo davon erzählen, und der fände gewiss eine Möglichkeit, ihm diesen Ort zu verleiden. Theo gönnte anderen ein Vergnügen nur, wenn er es als Erster genossen hatte. Oskar schloss die Augen und zählte schneller, 4913, 5832, 6859. Plötzlich lautes Stiefelgetrappel, und die Fensterläden flogen krachend auf. Oskar drehte den Kopf zur Seite und kniff die Augen fest zusammen.

»Was soll das denn?«, sagte Jessica aufgebracht. »Ich seh dich trotzdem.«

Oskar schlug die Augen auf; ihm war elend zumute. Er drückte das Buch fest gegen die Brust.

»Hab’s doch gewusst, dass du hier bist«, sagte sie. »Du machst ein großes Geheimnis daraus, aber wir alle wissen es. Eleanor hält dich für nicht ganz richtig im Kopf. Sie sagt, das sei, als würde man sich in einen Sarg legen.«

Oskar blickte an Jessica vorbei auf die Bücher, die über den Boden verstreut waren. Einmal hatte er zufällig mitgehört, wie eine Frau seiner Mutter erzählte, Eleanor Melville gestatte ihren Kindern deshalb nicht, sie Mama zu nennen, weil sie die festgeschriebene Ungleichheit zwischen Mutter und Kind missbillige. Da hatte seine Mutter dermaßen gelacht, dass er fürchtete, sie würde ersticken. Er hätte sie gern gefragt, was daran so komisch war, aber dann hätte er erklären müssen, warum er sich hinter dem Sofa versteckte.

»Warum hast du mit den Büchern rumgeschmissen?«

Jessica sah ihn böse an. Oskar stellte immer die idiotischsten Fragen. »Weil ich Lust dazu hatte. Warum versteckst du dich hier drin wie eine Leiche?«

»Weil ich Lust dazu hatte. Ich mag Bücher.«

»Nur Verrückte mögen Bücher mehr als Menschen. Wenn du erwachsen bist, wirst du wahrscheinlich ein Buch heiraten.« Sie schob seine Beine zur Seite und kletterte zu ihm auf die Fensterbank. Von dort konnte sie über den Garten blicken und, jenseits der Bäume, die Spitze von Großvaters Turm sehen, die vor dem Himmel wie ein ausgeschnittenes Stück Pappe wirkte. Großvater Melville hatte gewollt, dass er und seine Frau im Turm bestattet werden, aber das hatte sie als unchristlich abgelehnt, deshalb ließ er seinen Leichnam verbrennen, wie es in Indien Brauch war, und die Asche von der Turmspitze aus verstreuen. Manchmal, wenn Jessica Staub auf den Sockelleisten entdeckte, überlegte sie, ob er mit Resten von Großvater Melvilles Asche vermischt sein könnte, die der Wind hereingetragen hatte. »Marjorie Maxwell Brooke will Theo heiraten«, sagte sie. »Wenn sie mit ihm spricht, klingt ihre Stimme ganz komisch.«

Oskar wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und beschloss daher, lieber eine unverfängliche Frage zu stellen. »Ist jetzt schon Teezeit?«

»Mama und Mr Connolly sind noch nicht zurück. Wahrscheinlich hatten sie einen Unfall.«

»Sag so was nicht.«

»Warum nicht? Autos verunglücken ständig, besonders wenn sie von einem so blöden Kerl wie Mr Connolly gesteuert werden.«

»Ich wusste gar nicht, dass Mr Connolly blöd ist.«

»Natürlich ist er das. Er glaubt, Mama mag ihn, weil er so charmant ist, aber in Wirklichkeit mag sie ihn nur deshalb, weil er einen nagelneuen Wagen besitzt und bisher noch nichts getan hat, womit er ihr auf die Nerven geht.«

Oskar dachte daran, wie Patentante Eleanor und Mr Connolly tags zuvor nach dem Tee zusammen am Kamin gesessen und gelacht hatten. Patentante Eleanor hatte die Fingerspitzen an die Lippen gelegt, als sei selbst ihr Lachen ein Geheimnis. Als Oskar noch klein war, hatte er einmal seine Mutter gefragt, warum immer wieder neue Leute nach Ellinghurst kämen, und seine Mutter hatte geantwortet, Eleanor wechsle ihre Freunde wie andere Leute ihre Unterhemden.

»Dich hat sie aber nicht ausgewechselt«, hatte Oskar erwidert.

»Nein«, sagte sie lächelnd. »Ich glaube, sie kommt nicht von mir los.«

»Als würde sie in einem Unterhemd feststecken.«

»Ja, genau, du hast es erfasst.«

Bei der Vorstellung, wie Patentante Eleanor blindlings mit den Armen über dem Kopf herumfuchtelte, gefangen im Unterhemd seiner Mutter, mussten sie herzlich lachen. Wäre Jessica seine Freundin gewesen, hätte er ihr es erzählen und sie ebenfalls zum Lachen bringen können. Es war eine lustige Geschichte.

Jessica beugte sich so unvermittelt zu ihm herüber und entriss ihm das Buch, dass er mächtig erschrak. Sie starrte auf den Band und rümpfte angewidert die Nase. »Im Ernst? Du liest diese gottverdammte Enzyklopädie?«

Oskar blinzelte. Er hatte noch nie ein Mädchen fluchen hören.

»Was ist?«, wollte sie prompt wissen. »Hast du noch nie ein Mädchen fluchen hören?«

Er lief rot an. »Gib es mir zurück«, sagte er, aber Jessica drehte sich schnell zur Seite und schob sich das Buch unter den Hintern.

»Warum sollte ich?«

»Weil ich darin lese.«

»Gehört es dir?«

»Dein Vater sagt, ich kann lesen, was immer ich will.«

»Aha? Das Buch gehört aber ebenso sehr mir, wie es Vater gehört. Wenn ich nicht will, dass du darin liest, dann darfst du es auch nicht.«

Sie zog die Beine unter und thronte auf Band 6 wie auf einem Kissen. Oskar biss sich auf die Lippen. Er verstand nicht, was sie beabsichtigte, aber ihm war klar, je inständiger er sie anflehen würde, ihm das Buch zurückzugeben, desto weniger wäre sie dazu bereit. Jessica hatte ihn schon immer verwirrt. Als sie noch klein gewesen waren, zwang sie ihn zu Spielen, bei denen er so tun musste, als sei er jemand anderer, und machte er es falsch, wurde sie ganz zornig. Ihre Wutanfälle erschreckten ihn. Natürlich war das schon lange her. Bevor er auf die Schule kam und Sayle und McAvoy kennenlernte und die anderen Jungs, die den beiden hinterherliefen wie dem Rattenfänger von Hameln.

»Um Himmels willen, Grunewald, zeig ein wenig Rückgrat«, sagte sein Klassenlehrer zu ihm. »Du hast es dir selbst zuzuschreiben, begreifst du das nicht? Jungen sind Wölfe. Sie wittern Schwäche.«

Er erklärte Oskar, wenn man geschlagen werde, müsse man zurückschlagen. Jessica konnte er nicht schlagen. Sie war ein Mädchen und geübt darin, andere zu ärgern. Aber er konnte so tun, als ließe es ihn kalt. Wortlos kletterte er von der Fensterbank und begann die herumliegenden Bücher einzusammeln. Mehrere waren aufgeschlagen auf dem Boden gelandet und hatten zerknitterte Seiten. Oskar strich sie glatt, bevor er die Bücher zuklappte. Hinter ihm seufzte Jessica geräuschvoll.

»Na gut. Hier hast du dein blödes Buch.« Sie hielt es ihm hin. Oskar zögerte. »Jetzt nimm es schon.«

Oskar streckte die Hand aus. Im selben Moment zog Jessica das Buch schnell wieder zurück und drückte es an ihre Brust. »Was bekomme ich dafür?«

»Was meinst du damit?«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass du es umsonst bekommst?«, sagte sie. »Du musst dafür bezahlen.«

»Aber ich habe kein Geld.«

»Wer hat gesagt, dass es Geld sein muss?«

»Was dann?«

Jessica legte den Kopf schief. Dann legte sie das Buch auf die Fensterbank und verschränkte die Arme.

»Zeig mir dein Ding.«

Oskar starrte sie an.

»Komm schon. Zieh die Hose runter und zeig mir dein Ding.«

»Nein!«

Jessicas Mund zuckte. »Wieso nicht? Oder hast du keins?«

»Nein. Ich … ich meine, das mach ich nicht. Auf keinen Fall.«

»Theo hat recht. Du bist jämmerlich. Durch und durch jämmerlich.« Sie schlug auf den Enzyklopädieband. »Tja, das Buch nehme ich mit hoch. Nicht dass ich es lesen will oder so, aber vielleicht taugen die Seiten als Papiergirlanden. Mal sehen, was ich damit mache. Schließlich gehört es mir.« Sie rutschte, das Buch in den Armen, von der Fensterbank, machte aber keine Anstalten zu gehen, sondern baute sich vor ihm auf. Sie roch nach warmem Heu und Zinksalbe. »Du bist so dumm. Wenn du mir dein Ding gezeigt hättest, hätte ich dir höchstwahrscheinlich auch meines gezeigt. Und ich wette, du möchtest gern wissen, wie es aussieht, stimmt’s? Bei einem Mädchen?«

Oskar brachte kein Wort heraus. Er konnte auch nicht mehr denken. Während ihm die Hitze aus der Brust ins Gesicht stieg, starrte er zu Boden.

»Also, willst du?«

»Geh weg«, flüsterte er. Seine Ohren glühten. Er dachte, wenn er sich nur intensiv genug wünschte, dass sie verschwände, würde sie vielleicht ganz klein zusammenschrumpfen. Jessica blickte ihn unverwandt an. Plötzlich legte sie das Buch auf den Boden, hob den Rock und zog den Schlüpfer herunter. Oskar sah glatte blasse Oberschenkel und dazwischen eine Wölbung aus Fleisch wie eine weiße Frucht, mit einem Spalt in der Mitte. Da fiel, wie ein Theatervorhang, der Rock wieder nach unten.

»Weißt du was, Oskar Grunewald«, sagte sie, während sie den Schlüpfer hochzog, »du bist ein feiger, bleichgesichtiger, weichlicher, dämlicher Milchbubi.« Sie packte das Buch und schleuderte es ihm mit aller Kraft entgegen. Von dem Schlag blieb ihm die Luft weg. Benommen hörte er das Klacken ihrer Stiefel auf dem Parkett, dann knallte die Tür zu. Die Bibliothek um ihn herum begann sich zu drehen, doch mochten sich in seinem Kopf die Gedanken auch überschlagen, war er sich einer Sache sicher: Nichts auf der Welt war genau so, wie er es sich vorgestellt hatte.

Am Ende jener Tage

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