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Prolog

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1920

Es regnete, als sie dem Sarg aus der Kirche folgten. Ein böiger Wind zerrte an den Hüten der Trauergäste. Der Pfarrer an der Spitze der Prozession hielt den sich bauschenden Talar mit den Armen fest und sang: »Denn wir haben nichts in die Welt gebracht, darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinausbringen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« Der Wind trug die Worte davon und zerstreute sie wie trockenes Laub.

Mit gesenktem Kopf standen sie zusammen am Grab, Phyllis und Jessica und Oscar. Hinter ihnen hielt Evelyn, ein entfernter Cousin des Verstorbenen, seinen Schirm über Lettice und stemmte ihn gegen den Wind, damit er nicht umschlug. Sie war wieder guter Hoffnung. Diesmal ein Mädchen, da sei sie ganz sicher, hatte sie Jessica freudig anvertraut. Noch nie im Leben sei ihr so übel gewesen.

Danach gingen sie zum Haus zurück, wo Tee und Sandwiches warteten. Marjorie half Jessica beim Auftragen, während Oscar ein Grüppchen rotgesichtiger Pächter begrüßte, die sich in ihren Sonntagsanzügen sichtlich unbehaglich fühlten. Von seinem Platz über dem Kamin aus verfolgte Jeremiah Melville, die Hände auf seinem Stock, das Geschehen mit grimmiger Miene. Oscar bemühte sich, nicht zu ihm hinaufzusehen.

Auf der anderen Seite des Großen Saals flüsterte Mr Rawlinson, der Anwalt der Familie, Phyllis etwas zu, die nickte und dabei aus dem Fenster schaute. Ihr schwarzes Kleid betonte ihre blasse Haut und ihr rotschimmerndes Haar. Rawlinson wandte sich um und fing Oscars Blick auf, doch Oscar tat so, als hätte er ihn nicht bemerkt. Vermutlich wollte ihm der Anwalt nur sein Beileid bekunden, aber Oscar wollte nicht mit ihm reden. Hätte er mehr Taktgefühl besessen, wäre er erst gar nicht gekommen.

Die Trauergesellschaft löste sich bald auf. Als der letzte Gast gegangen war und die Frauen vor dem Kaminfeuer Platz genommen hatten, machte sich Oscar zu einem Spaziergang auf. Der Wind hatte sich gelegt, und die Luft war feucht und frostig. Es roch nach nasser Erde und fauligem Laub und, entfernt, nach Meer.

Die Dämmerung brach schon herein, als er durch den Garten und über den Krocketrasen auf den Turm im Wald zuging. Der Turm zog ihn immer noch magisch an, selbst nach so langer Zeit. Am Fuß der Wendeltreppe blieb er stehen, eine Hand auf dem Rahmen des bogenförmigen Eingangs zum Gekachelten Raum, wie sie ihn immer genannt hatten. Der Boden war dick mit Laub bedeckt, und die Fenster waren mit Efeu und Brombeergestrüpp zugewachsen, deren Ranken sich durch die zerbrochene Scheibe hindurch um die vermodernden Bänke schlängelten. Die Wandkacheln waren grau und mit Schmutz und Spinnweben überzogen. Mit der Kante seiner Faust rieb er eine frei. Sie schimmerte in der Dämmerung wie das Weiße eines Auges.

Keuchend stieg er bis ins oberste Turmgeschoss hinauf. Hier wirkte das Licht fahler. Die geduckte Masse der Isle of Wight verschmolz mit dem Horizont, und in den glaslosen Fenstern säuselte der leichte Wind. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Sir Aubrey ihn einmal hier heraufgeführt. Sir Aubrey schien nicht gewusst zu haben, dass Theo diesen Raum als sein privates Reich betrachtete, das man nur auf Einladung betreten durfte. Oscar hatte Sir Aubrey versprechen müssen, es nicht Patentante Eleanor zu erzählen. Patentante Eleanor hielt den Turm für gefährlich. Sir Aubrey erklärte Oscar, der Turm habe dreizehn Stockwerke und 385 Stufen und sei 66 Meter hoch. Seine Grundfläche betrage fünfeinhalb Meter im Quadrat, die außenliegende Treppe nicht eingerechnet, und er ruhe auf einem Fundament von zwei Meter siebzig. Am Fuß des Turms sei der Beton sechzig Zentimeter stark, an seiner Spitze dreißig Zentimeter. Für den Bau habe ein Trupp von vierzig Arbeitern fünf Jahre benötigt. Oscar war so gefesselt, dass er fast seine Angst vergaß, Theo könnte es herausbekommen. Oscar war damals wie besessen von Zahlen.

Das Westfenster des Turms gewährte einen Blick auf das Haus. Von einem so hochgelegenen Aussichtspunkt mutete Ellinghurst mit seinen kastellartigen Wehren und Türmchen wie die von einem Kind errichtete Sandburg an, die breiten efeubewachsenen Mauern, die es zum Westen hin umschlossen, schienen kaum mehr zu sein als eine geschwungene Linie von Kieselsteinen im Sand. Jenseits der leicht abschüssigen Rasenflächen war der grasbewachsene Burggraben in Schatten getaucht, das auf einem Erdhügel errichtete Haus glich einer Insel inmitten des weitläufigen Parks, der sich nach Süden erstreckte, während sich im Norden die dunklen Schemen der Wälder und Hügel des New Forest abzeichneten. Hinter dem Torhaus konnte Oscar gerade noch den Fluss erkennen, eine schwarzblau gekrakelte Linie inmitten tintenklecksartiger Bäume.

Die Höfe sollte man am besten aufgeben, hatte Rawlinson gesagt. Es sei ein guter Zeitpunkt, sie zu verkaufen. Die von der Regierung während des Kriegs eingeführten Agrarsubventionen hätten die Ernteerträge und Gewinne der Landwirte ansteigen lassen. In Westminster kursierten Gerüchte über eine Rücknahme dieser Unterstützung, aber solange das Gesetz in Kraft war, seien die Pächter versessen darauf zu kaufen, und angesichts der zu erwartenden Steuererhöhungen sei ein steuerfreier Kapitalgewinn verminderten Einnahmen vorzuziehen, meinte der Anwalt. Oscar hatte einen Blick in die Hauptbücher mit den Bilanzen des Anwesens geworfen, und ihm waren die vielen Zahlenkolonnen durch den Kopf geschwirrt. Wenn Rawlinson recht hatte, was den Wert von Grund und Boden anging, würde der Verkauf genügend einbringen, um die Erbschaftssteuer zu bestreiten und sich zumindest vorerst über Wasser zu halten.

Über die Zukunft hatten sie nicht gesprochen, dafür war es noch zu früh. Doch Oscar wusste, in absehbarer Zeit würde auch der Park verkauft werden müssen. Das hatte Rawlinson zwar nicht gesagt, aber Oscar wusste, dass der Anwalt bereits begonnen hatte, die Fühler auszustrecken. Das Anwesen war schwer mit Hypotheken belastet, und ohne die landwirtschaftlichen Pachteinnahmen würden sie die Raten kaum aufbringen können. Nach und nach würde sich Ellinghurst auf seinen Erdhügel zurückziehen, die Zugbrücke hochgeklappt zum Schutz vor den Immobilienhaien, mit deren Geld sie die Schulden begleichen und das Dach vor dem Einsturz bewahren könnten.

Oscar war unschlüssig, ob er an der Universität bleiben sollte. Gegenüber Rawlinson hatte er zwar darauf bestanden, seinen Abschluss machen zu dürfen, aber er war sich nicht mehr sicher, ob das noch wichtig war. In diesen Zeiten bestand ohnehin keine Aussicht auf eine Forschungsstelle nach dem Examen, warum also nicht gleich hinwerfen und sich mit ganzer Kraft Ellinghurst widmen? Es wäre ein geringer Verlust, und nur für ihn persönlich. Die Wissenschaft würde seinen Weggang nicht bedauern. Vor fast fünf Jahren war Sir Aubreys Bruder Henry in der Schlacht von Gallipoli von einem Scharfschützen getötet worden. Obwohl bei seinem Tod erst Anfang dreißig, hatte Henry Melville in den Fachbüchern bereits unauslöschliche Spuren hinterlassen. Unter den Wissenschaftlern aus Oscars Bekanntenkreis herrschte weithin die Ansicht, Henrys Arbeiten hätten ihm, wäre er nicht im Krieg gefallen, den Nobelpreis eingetragen.

Niemand bezweifelte, dass Henry ein Werk von überragender Bedeutung geschaffen hätte, das ihn beizeiten zu einem der größten Wissenschaftler seiner Generation gemacht hätte. Doch auch nach seinem Tod war dieses Werk nicht brachgelegen. Andere hatten es fortgeführt. Der Riss, der durch seinen Tod entstanden war, hatte keine weiteren Schäden verursacht und war ordentlich verputzt worden. Die Experimentalphysik war eine kollektive Unternehmung wie der Bau eines Ameisenhügels. Der Beitrag der einzelnen Ameise hatte dabei keine Bedeutung. Was zählte, war der gemeinsam erschaffene Bau. Große Wissenschaftler waren selten, aber nicht so selten, dass ihre Arbeit mit ihnen zu Grabe getragen wurde. Wenn es in einem bestimmten Jahr einem Wissenschaftler nicht gelang, eine Entdeckung zu machen, dann würde ein anderer sie im folgenden Jahr machen. So oder so, der Ameisenhügel würde unaufhaltsam wachsen.

Mit Ellinghurst verhielt es sich anders. Nach dreihundert Jahren waren sie die einzigen übriggebliebenen Ameisen. Oscar hatte es dem Zufall zu verdanken, dass er gerettet wurde, dem Zufall und Mr Rawlinson. Dafür war er ihm dankbar. In den letzten sechs Kriegsmonaten verzeichnete die britische Armee fast eine halbe Million Tote und Verwundete, das war nahezu ein Fünftel des grauenvollen Blutzolls, den der gesamte Krieg gefordert hatte. Was immer die Wahrheit sein mochte, Oscar hatte seine Wahl getroffen. Eine Schuld musste beglichen, eine Pflicht erfüllt werden. Die Papiere waren unterzeichnet und Sir Aubrey zur ewigen Ruhe gebettet. Oscar würde tun, was er konnte, wie Sir Aubrey es gewünscht hatte. Er würde nicht derjenige sein, der die Ketten sprengte. Vielleicht würde sich im Lauf der Zeit das Gefühl einstellen, dass das Haus und der Name sein Eigen seien. Dabei sollte gerade er inzwischen wissen, dass Namen nichts bedeuteten.

Es war geschafft. Ellinghurst gehörte ihnen. Die Zukunft war vorgezeichnet. Es hatte keinen Sinn, »Was wäre wenn …«-Grübeleien anzustellen oder sich zu fragen, ob er es sich so gewünscht hatte.

Am Ende jener Tage

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