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1910

Terence hielt den Rollstuhl fest, als Theo Jessica den Schal um die Augen band. Obwohl er ihn so stramm zog, dass er an ihrem Haar ziepte und ihr auf die Augen drückte, protestierte Jessica nicht. Während Terence sie nach draußen auf das Sträßchen schob, klammerte sie sich an die Peddigrohr-Armlehnen.

»Sag mal ›Cheese‹!«, rief Theo, worauf sie sich ein Grinsen abrang. Seine Kamera klickte. Jessica spürte, wie der Wind an den losen Enden ihres Schals zupfte und sich ihr vor Angst der Magen zusammenkrampfte. An dieser Stelle war die Straße so steil, dass die rotgesichtigen Radfahrerinnen, die verbissen die sanfte Steigung durch das Dorf hinaufgekeucht waren, absteigen und schieben mussten. Wenn ihre Mutter das sah, lachte sie. Manchmal, wenn sie mit dem Auto unterwegs waren, wies Eleanor Pritchard an, dicht aufzufahren und dann zu hupen. Phyllis hasste das, doch Eleanor lachte herzhaft, wenn die Radfahrerinnen schlingernd auf den Straßenrand auswichen. Sie erweise der Allgemeinheit nur einen Dienst, sagte sie zu Phyllis und Jessica, und im Übrigen sollten sich die rotgesichtigen Damen über diese kleine Aufregung freuen.

Die rotgesichtigen Damen schoben hier auch bergab. Vater sagte, das müssten sie auch, sonst gingen die Räder mit ihnen auf und davon, und Eleanor lachte und meinte: ja, aber nur die Räder, worauf die Lippen ihres Vaters zu einem dünnen Strich wurden. Vor ihrem geistigen Auge sah Jessica die holprige graue, von hohen Hecken gesäumte Straße, die sich wie eine Wäscherutsche nach unten neigte, um am tiefsten Punkt beim Tor zur Stream Farm über den Fluss hinweg scharf nach rechts abzubiegen. Theo sagte, der Rollstuhl würde an der Kurve geradeaus weiterrollen und schlimmstenfalls umkippen, wenn er ins dichte Gras neben dem Acker der Stream Farm geriete, was nicht weiter schlimm wäre, denn im Gras würde man weich landen. Jessica wusste, das war nicht das Schlimmste, was passieren konnte, aber es hatte keinen Sinn, es sich weiter auszumalen. Nanny, das Kinderfräulein, sagte, wenn man zu viel über schlimme Dinge nachdenke, beschwöre man sie erst herauf.

»Fertig?«, fragte Theo, und Jessica nickte und krallte sich im Rohrgeflecht des Rollstuhls fest, um sich Mut zu machen. Es war dumm, Angst zu haben. Theo hatte gesagt, Angst sei der Grund, warum so viele Leute ein derart kleines, freudloses Leben führten. Jessica sei klein für ihr Alter, wurde Eleanor nicht müde zu wiederholen, aber Jessica hatte trotzdem nicht die Absicht, jemals freudlos zu sein.

»Weißt du was, Theo?«, sagte Terence Connolly mit seinem breiten amerikanischen Akzent. »Du hast ja recht, wir glauben dir.«

»Regel bleibt Regel. Wir haben gesagt, wer das rote Zündholz zieht. Stimmt’s, Jess?«

Jessica nickte und biss sich auf die Innenseite der Lippen. Sie wünschte, Terence Connolly würde den Mund halten, damit sie die Sache hinter sich bringen konnte.

»Die Kleine hat doch schon Mumm genug bewiesen«, wandte Terence ein. »Nicht nötig, sie auf die Straße klatschen zu lassen.«

»Du bist doch nicht etwa ein Schlappschwanz, Connolly?«, feixte Theo, ruckelte am Rollstuhl und ließ ihn kurz los, um ihn sofort wieder festzuhalten, als er zu rollen anfing. Jessica drehte sich der Magen um. Marjorie hinter ihr kicherte. Jessica musste sich zusammennehmen, um nicht aufzustehen und ihr eine zu knallen. Marjorie Maxwell Brooks hing immerzu auf Ellinghurst herum, weil ihre Mutter unbedingt mit Eleanor befreundet sein wollte; immerzu tapste sie um sie herum, säuselte, wie reizend sie die Soundsos gefunden habe – und woher nehme Eleanor nur dieses fabelhafte Gespür für Farben? Marjorie hatte Polypen, weshalb sie durch den Mund atmete und beim Sprechen wie eine blecherne Gießkanne klang, als sei sie schwer erkältet.

Auch war sie dermaßen idiotisch in Theo verknallt, wie Jessica es noch nie erlebt hatte. Marjorie konnte kein Wort an ihn richten, ohne zu kichern oder rot anzulaufen. Letztes Jahr an Weihnachten hatte Theo sein Taschentuch fallenlassen, und Jessica hatte beobachtet, wie Marjorie es aufhob und an ihr Gesicht drückte, obwohl Theo gerade hineingeschnäuzt hatte. So etwas Widerliches hatte Jessica in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Alle dachten, Marjorie sei Phyllis’ Freundin, weil die beiden gleich alt waren, aber Marjorie lief hinter Theo her wie Marys Lämmchen in dem Kinderreim, während Phyllis nichts anderes wollte als Bücher lesen. Bestimmt will Phyllis nach ihrem Tod weder begraben noch zu Asche verbrannt werden wie Großvater Melville, dachte Jessica, sondern in einem dicken schweren Buch landen, plattgedrückt wie eine Pressblume, und wer in dem Buch lesen wollte, müsste durch ihr zermatschtes Hirn spähen und ihre getrockneten braunen Eingeweide zwischen den Zeilen wegkratzen.

»Du würdest es nicht tun, Marjorie, oder?«, fragte Terence.

»Nicht für alles Geld der Welt«, sagte Marjorie, immer noch kichernd.

»Wer redet denn von schnödem Geld?«, sagte Jessica blasiert, und Theo lachte.

»So gefällst du mir«, sagte er und drückte ihr sanft die Schulter. Das Gefühl von Stolz, das sie erfasste, brannte ihr in der Kehle, als müsste sie Tränen zurückhalten.

»Los!«, befahl sie, und mit einem gewaltigen Schubs flog sie davon und brauste bergab, während der Wind ihre Schalenden flattern ließ und die Unebenheiten der Straße ihre Knochen durcheinanderrüttelten, als wäre sie ein Skelett; und als ihr Tränen in die Augen stiegen, entrang sich ihrer Brust ein durchdringender Schrei, unklar, ob mehr aus Angst oder einem Gefühl des Triumphs, und die Dunkelheit erstrahlte plötzlich von silbrig funkelnden Sternen, und sie dachte: So muss es sich anfühlen als Vogel oder in einem Rennwagen, und dann gab es plötzlich einen gewaltigen Ruck, und der Rollstuhl kam schlagartig zum Stillstand und sie flog wie ein Vogel durch die Luft, und für einen Moment stand die Zeit still, und sie dachte noch, was wohl als Nächstes käme und ob es sehr wehtun würde, bevor sie mit einem dumpfen Aufprall, der ihr den Atem raubte, in einem dichten Brennnesselgestrüpp landete.

Nanny schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sie ihr Zinksalbe auf die Nesselstiche rieb. Müßiggang sei aller Laster Anfang, sagte sie, und der Fluss kein Ort für ein Mädchen, das besser malen oder Klavier üben sollte. Dann band sie Jessicas Haar wieder hoch und strich mit ihren knorrigen roten Händen die Strähnen glatt. Jessica erwähnte den Rollstuhl nicht. Sie wollte Theo nicht in Schwierigkeiten bringen. Nicht dass er jemals in echten Schwierigkeiten gesteckt hätte. Wenn Nanny ihn ausschimpfte, zog er nur Grimassen, kitzelte sie, dass sie sich krümmte und wand, und sagte, sie tue doch nur so, als sei sie böse auf ihn.

Was ihre Eltern anging, hätte Theo das Haus niederbrennen können. Eleanor hätte nur gelacht und die hübschen Flammen bewundert. Ihren Vater machte es wütend, wenn Eleanor Theo verteidigte, aber wenn er ihn ausschimpfte, mündete es in einen Streit, den Theo mit schöner Regelmäßigkeit gewann. Er lächelte seinen zornigen Vater auf eine Weise an, dass dieser mit geballten Fäusten das Zimmer verließ.

Als Nanny endlich aufhörte, sie zu betüddeln, und sie das Kinderzimmer verlassen durfte, lief sie die Treppe hinunter und hinaus in den Garten, aber sie konnte die anderen nirgendwo entdecken. Ihre Haut tat weh und juckte fürchterlich, und ihre Handflächen brannten. Sie leckte über die harten weißen Quaddeln, um den Schmerz zu lindern, verzog das Gesicht angesichts des bitteren Geschmacks der Salbe und wischte sich die Zunge am Ärmel ab.

Es war kalt geworden, am Himmel standen dicke Wolken. Die Rosen rund um die Terrasse zitterten und drängten ihre blassen Köpfe aneinander, und die grünen Blätter der Rosskastanien wogten auf und nieder. Jemand, vielleicht Terence, hatte seinen Kricketpullover auf der schmiedeeisernen Bank unter der Eiche liegen lassen. Jessica hoffte, es würde regnen und der Pullover wäre nicht mehr zu gebrauchen. Sie konnte Terence Connolly nicht ausstehen. Sein Mund war zu rot und seine Stimme laut und amerikanisch. Außerdem war er ein fürchterlicher Aufschneider. Als ihr Vater ihn fragte, ob er Tennis spiele, hatte er sich so endlos über die albernen Turniere ausgelassen, die er gewonnen hatte, dass sie plötzlich das Bedürfnis hatte zu schreien. Dass Theo ihn unbedingt hatte einladen müssen, noch eine Woche zu bleiben, statt ihn am nächsten Tag mit seinen Eltern nach London fahren zu lassen, konnte sie kaum fassen. Vermutlich war es die Brownie-Kamera, die ihrem Bruder den Kopf vernebelt hatte. Bevor sie mit Bergen von dämlichen amerikanischen Geschenken angekommen waren, hatte niemand einen der Connollys auf Ellinghurst haben wollen. Niemand außer Eleanor.

Jessica hob einen Stock auf und lief über den Krocketrasen, wobei sie sich bei jedem Sprung über einen Drahtbügel auf den Oberschenkel schlug. Sie überlegte, in die Stallungen zu gehen und Max zu besuchen, aber allein auszureiten machte keinen Spaß. Allein machte überhaupt nichts Spaß. An den Buchen bei der Kurve in der Auffahrt blieb sie stehen und spähte durch das Tor zwischen den Rhododendronbüschen, aber der Tennisplatz war verwaist, das Netz hing schlaff zwischen den Pfosten. Mit ihrem Stock drosch sie auf die Rhododendronblüten ein, dass rosa Blütenblätter zu Boden segelten, dann schlenderte sie den Waldrand entlang zurück und ließ den Stock über das Eisengeländer klappern. Über den Wipfeln des Waldes ragte Großvaters Turm hoch in den Himmel hinauf wie Jacks Bohnenranke im Märchen. Von hier aus konnte sie die Rückseite der Wendeltreppe sehen, die sich wie eine dunkle fette Schlange von dem grauen Beton des Turms abhob.

Großvater war zwar Vaters und nicht ihr eigener Großvater gewesen, aber weil ihr Vater immer von Großvaters Turm sprach, nannten sie ihn ebenfalls so. Jessicas richtiger Großvater war gestorben, als ihr Vater noch jung war, also vor langer Zeit, denn ihr Vater war alt, viel älter als die Väter ihrer Freunde. Während Jessica weiterging, ließ sie die Turmspitze nicht aus den Augen. Sie mochte es, dass man beim Näherkommen das Gefühl hatte, der Turm würde gleich umfallen. Das lag daran, dass er so hoch war. Ihr Vater sagte, er sei im italienischen Stil erbaut, was bedeutete, dass er eigentlich nach Venedig gehörte und nicht in den New Forest. Eleanor verabscheute ihn, sie bezeichnete ihn als einen Schandfleck, aber nach wie vor war eine ihrer Lieblingsgeschichten, wie Großvater Melville in Beton vernarrt aus Indien zurückgekehrt war und eine Dame namens Mrs Gleeson kennengelernt hatte, die Spiritistin war, also mit Verstorbenen reden konnte. Großvater Melville und Mrs Gleeson seien sehr, sehr gute Freunde geworden, sagte Eleanor, rollte dabei die Augen und machte ein lustiges Gesicht, sodass alle lachten. Dank Mrs Gleeson hatte Großvater Melville mit Sir Christopher Wren sprechen können, der schon lange tot war, und von ihm Hilfe beim Entwurf des Turms erhalten. Wie sich herausstellte, war Sir Christopher Wren von unbewehrtem Beton genauso begeistert wie Großvater Melville.

»Wäre er klüger gewesen, hätte er vielleicht bedacht, dass Wren gut zweihundert Jahre zu früh geboren war, um Beton zu kennen«, sagte Eleanor gern, »aber was zählen schon solche Kleinigkeiten, wenn man in einem abgedunkelten Zimmer sitzt und Händchen hält?«

Jessicas Vater hasste es, wenn sie diese Geschichte zum Besten gab. Manchmal stand er mittendrin auf und verließ das Zimmer. Dann lachte Eleanor nur und erzählte ungerührt die andere Geschichte, die er ebenso wenig ausstehen konnte: wie Großvater Melville ein paar Bedienstete über die Turmbrüstung geschubst hatte, um seine Flugmaschinen zu testen. Den Kindern hatte sie das Besteigen des Turms streng verboten, da er ihrer Ansicht nach jederzeit einstürzen konnte; sie taten es trotzdem. Auf jedem der dreizehn Stockwerke gab es einen Raum, aber der oberste gehörte Theo. Er sagte, dreizehn sei seine Glückszahl. Niemand außer ihm durfte dort hinauf. Jessica überlegte, ob er nach dem Tod ihres Vaters, wenn Ellinghurst ihm gehörte, wohl dort einziehen würde.

Langsam stieg sie die Stufen zum Haus hinauf. Normalerweise ging sie gern die Brustwehr entlang, weil es Spaß machte, von einer Zinne zur nächsten zu hüpfen, aber an diesem Tag war ihr nicht danach. Die Quaddeln an ihren Armen und Beinen brannten, und die Schulterprellung pochte. Sie konnte es nicht fassen, dass die anderen sie ihrem Schicksal überlassen hatten. Irgendwie hatte sie sich ausgemalt, sie würden alle zusammen auf der Terrasse ihren Triumph feiern und Theo würde ein Glas Limonade erheben, um auf ihren Schneid anzustoßen. Stattdessen war er wie üblich von der Bildfläche verschwunden, während sie sich mutterseelenallein mit ihrer wunden, juckenden Haut wand wie ein Fisch. Sie blickte zum Turm zurück. Wahrscheinlich hockte Phyllis gerade dort oben im Gekachelten Raum, über das eine oder andere Buch gebeugt. Der Gekachelte Raum war achteckig und restlos mit Kacheln ausgekleidet. Ihr Vater hatte gesagt, in Indien verwende man Kacheln, um die Räume kühl zu halten. Großvater Melville schien das englische Wetter vergessen zu haben, denn der Gekachelte Raum war wie ein Eiskeller, was aber Phyllis nicht zu stören schien. Jessica fragte sich, ob sie überhaupt merkte, wie kalt es dort oben war. Von allen nervigen Marotten, die Phyllis besaß, nervte am meisten, dass sie immer so tat, als wären Bücher real und das wirkliche Leben bloß eine Geschichte, die jemand ohne sich groß Mühe zu geben erfunden hatte.

Der Große Saal war verwaist, die Türen zum Salon und zur langen Galerie waren geschlossen. Jessica küsste den geschnitzten Adler, der auf dem Treppenpfosten thronte, auf den Schnabel und sah zu dem gerahmten Porträt von Jeremiah Melville hoch, der von seinem Platz über dem Kaminsims auf sie herunterstarrte. Rings um ihn herum hingen Knüppel und Schilde, gekreuzte Spieße und Teile alter Rüstungen. Jeremiah Melvilles Vorfahren waren nicht etwa mittelalterliche Ritter gewesen, sondern Bauern. Nachdem er jedoch mit indischer Baumwolle ein Vermögen gemacht hatte, beschloss er, nicht in einem langweiligen Gutshaus leben zu wollen, sondern in einer Burg mit einer Galerie von Minnesängern und Türmen mit Schießscharten für Bogenschützen, auch wenn es schon damals keine Minnesänger mehr gab und man, wenn überhaupt, mit Pistolen aufeinander schoss. Jeremiah Melville war Großvater Melvilles Großvater gewesen.

»Na, Rexy, wo sind sie denn alle?«, fragte Jessica und strich über den steinernen Löwen, der sich über dem gewaltigen Kamin breitmachte. Eines Tages, so hoffte sie, würde sie Eleanor vielleicht überreden können, einen Hund anzuschaffen. Hinter ihr ließ plötzlich ein Sonnenstrahl die Buntglasfenster aufleuchten und warf Farbtupfen auf die steinernen Bodenfliesen. Jessica berührte mit einem Zeh eine gelbe Raute. Vermutlich schlenderten Mrs Maxwell Brooke und Mrs Connolly immer noch mit Mrs Grunewald in Salworth House herum, sofern sie nicht an Langeweile gestorben waren. Und wer wusste schon, wie weit weg Eleanor und Mr Connolly inzwischen bereits waren? Mr Connollys neues Auto war weiß mit roten Ledersitzen und silbrig glänzenden Rädern mit Speichen kreuz und quer wie bei einem Mikado-Spiel. Der Wagen bot nur Platz für zwei. Als Mr Connolly sie alle hinausgebeten hatte, um ihn sich anzusehen, hatte Eleanor über den glänzenden Kotflügel gestrichen und ausgerufen: Ach, in solch einem Wagen fahren und sterben! Und Mr Connolly hatte sie angelächelt wie die Hexe Hänsel und Gretel, als sie sich daranmachte, sie zu verspeisen.

Jessica verachtete Mr Connolly noch mehr als Terence. Das lag zum Teil daran, dass er beim Lachen den Mund zu weit aufriss und sich Öl ins Haar rieb und hässliche gemusterte Jacken mit zu vielen Taschen trug. Aber hauptsächlich mochte sie ihn deshalb nicht, weil er zu dumm war, um zu merken, dass sich Eleanor nicht mehr aus ihm machte als aus allen anderen. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, starrte er sie an. Tags zuvor, als Jessica neben dem Geländer der Galerie gelegen und gespielt hatte, sie wäre ein Tiger im Käfig, hatte sie gehört, wie unter ihr die Tür zum Salon aufgegangen war und Mr Connolly »Mein Gott, was machst du denn da?« gesagt hatte, mit dieser amerikanischen Stimme, die sich selbst bei geflüsterten Worten zu laut anhörte. Am liebsten hätte sie ihm etwas auf den Kopf fallen lassen. Bestimmt würde Mr Connolly mit Eleanor im Wagen miserabel fahren, weil er immerzu sie anglotzen würde, anstatt auf die Straße zu achten.

Ach, in solch einem Wagen fahren und sterben!

»Aber natürlich werde ich sterben, du Dummerchen«, hatte Eleanor fröhlich lachend geantwortet. »Wir alle müssen sterben. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde ganz bestimmt in Schönheit sterben.« Und plötzlich stand Jessica ein schreckliches Bild von Mr Connollys weißem Auto vor Augen – zerknüllt wie eine Papiertüte lag es da, darin, mit dem Kopf im Nacken, Eleanor, aus deren Mund ein Rinnsal Blut lief, scharlachrot und glänzend wie Nagellack.

Jessica schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben, und rieb sich die Nase. Sie überlegte, nach oben ins Kinderzimmer zu gehen, aber wahrscheinlich war Oskar dort, und Oskar war schlimmer als überhaupt keine Gesellschaft. Oskar war Mrs Grunewalds Sohn und genauso alt wie Jessica, weshalb alle von ihr erwarteten, dass sie mit ihm spielte. Wann immer sie versuchte, dem Kinderfräulein zu erklären, dass sie das nicht tun würde, setzte diese nur ihr strenges Gesicht auf und sagte, es sei Jessicas Aufgabe, sich um ihre Besucher zu kümmern.

Jessica sah nicht ein, warum Oskar ihr Besucher sein sollte, wo sie ihn doch gar nicht eingeladen hatte, und sie hatte auch nicht den leisesten Schimmer, woran man erkennen sollte, ob er sich wohlfühlte. Oskar brachte es fertig, einen ganzen Tag lang kein Sterbenswörtchen zu sagen und nur vor sich hinzustarren oder in einem Mathebuch zu lesen. Und wenn man die Geduld verlor und wissen wollte, ob er überhaupt noch am Leben war, blinzelte er einen verdutzt an, mit Augen wie abgelutschte Aniskugeln, als wäre es für einen Jungen, der nicht krank war, das Normalste auf der Welt, den ganzen Tag still dazusitzen und kein einziges Mal zu gähnen oder zu quengeln oder irgendwohin flitzen oder etwas kaputtmachen zu wollen. Er schrieb immer nur Zahlen auf, Reihe um Reihe, so dicht nebeneinander, dass auf dem Blatt kaum mehr etwas weiß war, und wenn er den Mund aufmachte, war es das Gleiche: eine endlose Aneinanderreihung von Fakten, die so unsäglich langweilig waren, dass man sie im Leben nicht hören wollte, geschweige denn auswendig lernen. Theo meinte, Oskar sei wie diese Maschine in Gullivers Reisen – wenn man herausfände, wo er aufzuziehen sei, würde er für den Rest seines Lebens in siebzehn Sprachen gleichzeitig nutzlose Informationen herunterrattern.

Auf dem Tisch im Saal stand eine große Silberschale voller blassrosa Rosen. Jessica zog eine heraus, hielt sie sich vor die Brust und tänzelte auf eine der Ritterrüstungen zu, die den Fuß der Treppe bewachten. Die Rüstung hielt einen Spieß in der angewinkelten Hand. Die andere Hand war leer, der Arm leicht ausgestreckt. Sie ergriff die kalten Finger und beugte den Kopf.

Willst du, Jessica Margaret Crompton Melville, diesen Mann zu deinem schrecklich angetrauten Gatten nehmen? Er liebt dich bis ans Ende aller Tage und wünscht sich nichts sehnlicher auf der Welt, als dir einen Alfonso-Wagen zu kaufen.

Na gut, wenn es so ist, dann will ich.

Sie zupfte die Blütenblätter von der Rose, warf sie über ihren Kopf, und schritt gleichzeitig triumphierend zurück zur Eingangstür. Sie war nur ein einziges Mal auf einer Hochzeit gewesen, letztes Jahr, als Onkel Henry und Tante Violet geheiratet hatten. Es war kein bisschen romantisch gewesen. Onkel Henry war zwanzig Jahre jünger als ihr Vater, aber trotzdem schon uralt. Als er seine Rede hielt, küsste er Tante Violet weder noch sagte er, sie würden zusammen glücklich sein bis ans Ende ihrer Tage, oder etwas in der Art. Als Jessica Eleanor fragte, warum er es nicht gesagt hatte, zog ihre Mutter eine Grimasse und antwortete, ob sie immer noch nicht bemerkt habe, dass die Melvilles kalt wie Fische seien.

Beim Blick durchs Fenster entdeckte Jessica Theo und Terence, die gerade lachend die Kiesauffahrt überquerten. Sie hatten sich umgezogen und trugen weiße Flanellsachen, Terence dazu einen Panamahut, was sein Gesicht noch röter machte als sonst. Jessica stellte sich breitbeinig in den Eingang zum Großen Saal, die Fäuste in die Hüften gestemmt, sodass die beiden Jungen, als sie, noch immer lachend, die Tür öffneten, sie fast umstießen.

»Wo, verdammte Scheiße, seid ihr gewesen?«, wollte sie wissen. Es fühlte sich gut an, zu fluchen. Ihr Blick fiel auf die Tennisschläger, die Theo unter den Arm geklemmt hatte. »Ihr wollt doch nicht etwa dämliches Tennis spielen?«

»Dämliches Tennis?«, gab Theo zurück. »Wie kommst du nur auf die Idee?«

»Die Schläger.«

»Schläger?« Theo schaute zu den Schlägern hinunter und schnappte erstaunt nach Luft. »Du lieber Himmel! Wo zum Teufel kommen die denn her?« Terence lachte, als Theo ihm die Schläger in die Arme drückte und ihm mit einer schnellen Bewegung den Hut vom Kopf riss, um ihn in Richtung des Adlers auf dem Treppenpfosten segeln zu lassen. Die Krempe streifte den Schnabel des Vogels, ehe der Hut umgedreht über den Boden schlitterte.

»Danebengetroffen«, sagte Jessica.

»Hängt davon ab, was ich treffen wollte«, sagte Theo, worauf Terence wieder mit weit offenem, rotem Mund lachte. Jessica funkelte ihn böse an.

»Du sollst niemanden ausschließen«, sagte sie zu Theo. »Das ist ungezogen.«

»Was ist ungezogen?« Marjorie kam die Treppe heruntergetänzelt. Sie trug ein tailliertes Tenniskleid und Schuhe so weiß, dass Jessica die Augen zusammenkniff. Hinter ihr schlurfte Phyllis her, wie üblich in Rock und Bluse und mit einem Buch in der Hand. Ihr Daumen steckte als Lesezeichen zwischen den Seiten.

»Hier, unsere Miss Messie, die ist ungezogen«, sagte Theo. Er nahm Terence einen Schläger ab und klopfte Jessica mit der Bespannung auf den Kopf. »Du solltest hören, was für Flüche Nanny ihr beigebracht hat. Die beiden würden sogar einen Bierkutscher erröten lassen.«

Marjorie kicherte. Jessica sah sie böse an. Sie hasste es, wenn Theo sie Mess oder Messie nannte. Miss Messica Jelville, sagte er oft, als hätte er sich verhaspelt, worauf Eleanor sich vor Lachen ausschüttete. Aber gleichzeitig war sie auch ein bisschen stolz, dass er sich einen besonderen Namen für sie ausgedacht hatte. Phyllis war für ihn einfach nur Phyll.

»Fertig?«, fragte Theo, nachdem Terence seinen Hut aufgehoben hatte. Dann runzelte er die Stirn. »Mach schon, Phyll. Du hast ja noch nicht einmal deine Schuhe gewechselt.«

»Ist doch egal«, erwiderte Phyllis. »Ich habe sowieso keine Chance.«

»Wenn du es nicht versuchen willst, brauchst du gar nicht erst zu spielen.«

»Na dann …« Sie lächelte und machte kehrt, um wieder nach oben zu gehen, den Blick bereits wieder auf das Buch gerichtet. Marjorie fasste sie am Arm.

»Bitte, Phyllis«, sagte sie bettelnd, indem sie Theo einen kurzen Blick zuwarf. »Wir brauchen dich. Stimmt doch, Theo, oder? Zu viert macht es viel mehr Spaß.«

»Dann lass sie doch zu zweit spielen«, erwiderte Phyllis. »Das wäre ihnen ohnehin lieber.«

»Stimmt das?«, fragte Marjorie, an Theo gewandt. »Stimmt das wirklich?« Sie biss sich auf die Lippen und sah ihn so schmachtend an, dass Jessica ihr am liebsten auf ihre schneeweißen Schuhe gekotzt hätte.

»Mein Gott, Phyll«, sagte Theo genervt. »Jetzt spiel halt mit!«

»Ich könnte ja mitspielen«, warf Jessica rasch ein. »Ich habe Unterricht genommen.«

»Mir ist ohnehin schleierhaft, warum du mich dabeihaben willst«, erwiderte Phyllis. »Jedes Mal, wenn der Ball ins Netz geht, schnauzt du mich an.«

Jessica schaltete sich erneut ein. »Miss Whitfield sagt, ich habe ein gutes Auge für den Ball.«

»Das wird er nicht mehr tun«, sagte Marjorie. »Du wirst sie nicht mehr anschnauzen, Theo, oder?«

Theos Mund zuckte, und er sah aus dem Augenwinkel Terence an. »Tja, wenn sie auf der anderen Seite stünde, würde ich es wohl nicht tun. Dann würde es mir vielleicht sogar gefallen.«

»Soll das etwa das sein, was man bei uns an der Ostküste ›Challenge‹ nennt, Melville?«, fragte Terence.

»Für dich ganz bestimmt. Hast du Phyllis schon mal auf dem Tennisplatz erlebt?«

»Genau«, sagte Phyllis. »Deswegen spiele ich auch nicht.«

»Jetzt komm schon«, sagte Terence. Die Art, wie er Theo ansah, ließ auf einen Witz schließen, den nur sie beide verstanden. »Würde es dir nicht ein wenig Spaß machen, deinem Bruder sein selbstzufriedenes Grinsen auszutreiben?«

»Das wäre mir das reinste Vergnügen. Aber leider hat er recht. Ich spiele grauenhaft Tennis.«

»Quatsch«, entgegnete Terence, der immer noch Theo ansah. »Glaub mir, es wird ein Kinderspiel. Ein Klacks. Ein Zuckerschlecken. Ein Spaziergang.«

»Brillant«, sagte Theo. »Erst ein paar Wochen im Land der Vorfahren und schon so gekonnt überheblich.«

»Warte nur, bis du meinen Aufschlag erlebst.«

Marjorie wandte sich an Phyllis. »Ich habe gehört, Terence ist wahnsinnig gut. Du wirst keinen einzigen Ball treffen müssen. Du brauchst einfach bloß herumzustehen und hübsch auszusehen.«

Phyllis verdrehte die Augen. »Wenn Miss Pankhurst dich bloß hören könnte, Marjorie. Sie wäre stolz auf dich.«

Erneut mischte sich Jessica ein. »Und was ist mit mir? Wieso darf ich nicht mitspielen?«

»Du bist ja immer noch da!« Theo legte ihr eine Hand auf den Kopf, erfasste mit der anderen ihr Kinn, bog ihr den Kopf nach hinten und drehte ihn hin und her. »Willkommen in der Royal Society, Ladies and Gentlemen. Heute wollen wir eine leider gar nicht so seltene Spezies untersuchen, das verzogene Kind.«

»Lass mich los!«, protestierte Jessica und versuchte sich ihm zu entwinden, aber Theo verstärkte seinen Griff. Er tat ihr weh.

»Man beachte den charakteristischen Flunsch«, sagte er, »das übellaunige Stirnrunzeln. Und dazu, ebenfalls nicht ungewöhnlich, die herausgestreckte Zunge …«

»Lass sie los, Theo!«, sagte Phyllis, während sich Marjorie kichernd die Hand vor den Mund hielt. »Wir können sie doch die Bälle aufsammeln lassen oder so was.«

»Eure Sklavin sein?«, sagte Jessica. »Nie im Leben!«

»Na gut.« Phyllis zuckte die Achseln. »Dann bis später.«

»Ihr könnt mich doch nicht allein lassen.«

»Oskar muss doch irgendwo in der Nähe sein, oder? Und überhaupt, ich dachte, du bereitest dich auf ein Konzert vor.«

»Kein Konzert, sondern eine Show. Aber wenn ihr nie da seid, komme ich damit nicht weiter, weil ihr alle mitmachen müsst.«

Theo sah Terence an und schnaubte. »Nie im Leben!«

»Das mache ich nicht für dich, Theodore Melville, sondern für Eleanor.« Jessica artikulierte den Namen übertrieben langsam und deutlich, als wäre sie eine Sprecherzieherin. Ihre Mutter ermahnte sie stets, ihn richtig auszusprechen, nicht so schlampig wie ein ungebildetes Dienstmädchen.

»Für Eleanor?«, wiederholte Theo und äffte ihre überdeutliche Aussprache nach. »Ist das etwa jene Eleanor, die die Darbietungen von Kindern jedem anderen Amüsement vorzieht?«

»Sie würde sich freuen, wenn du mitmachst«, erwiderte Jessica säuerlich. Theo machte gar nicht erst den Versuch, es zu leugnen. So unbeherrscht Eleanor auch war, so unstet oder reizbar oder zu Tode gelangweilt hier, am Ende der Welt, so war sie Theo gegenüber nie ungeduldig. Manchmal gab sie ihm aus heiterem Himmel einen Kuss oder strich ihm das Haar aus der Stirn. Rutschte hingegen bei Jessica das Haar aus den Bändern, zuckte Eleanor nur zusammen und schickte sie zu ihrer Nanny.

»Nimm doch Oskar dazu«, schlug Theo vor. »Der ist schließlich der reinste Alleinunterhalter.« Er hielt den Tennisschläger, als würde er auf einer spanischen Gitarre klimpern. Dann sang er mit übertrieben deutschem Akzent: »Ich heiße Oskar Grunewald, ja, ja, ei, ei. An manchen Tagen sag ich nur ein Wort, an andern deren zwei.«

»Lass das, Theo«, sagte Phyllis. »Das ist gemein.«

»Es ist nicht gemein, sondern wahr«, erwiderte Jessica.

»Gerade weil es wahr ist, ist es umso gemeiner«, sagte Phyllis. »Außerdem – warum verteidigst du ihn? Ich bin doch auf deiner Seite.«

»Nein, bist du nicht. Du hintertreibst meine Show genau wie Theo, nur gibst du es nicht offen zu. Deshalb bist du noch schlimmer als er.«

Terence grinste und zeigte seine weißen Zähne. »He, das kam jetzt wie aus der Pistole geschossen, Schwesterchen.«

Jessica sah den amerikanischen Jungen mit zusammengekniffenen Augen an. Dann hob sie langsam die Hände und richtete Zeige- und Mittelfinger auf seinen Kopf.

»Peng, peng, du bist tot«, sagte sie. Sie tat, als bliese sie Rauch von einem imaginären Pistolenlauf, reckte das Kinn und stolzierte durch die Dienstbotentür in die Küche.

Am Ende jener Tage

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