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Richtung Norden zum Mindfulness Project

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Wider meines erlernten Wissens, dass viel innere Arbeit notwendig ist, um sich aus der Tiefe von alten Mustern, Gewohnheiten und Vorstellungen zu befreien, fühlt sich der erste Schritt vor die Klostermauern nach größtmöglicher Freiheit an. Wir sind alle in Hochstimmung und geradezu euphorisch. Es scheint als würde der Körper sein ganzes Depot an Glückshormonen auf einmal ausschütten. Auch Greta ist komplett aufgekratzt. Mit geröteten Wangen redet sie ununterbrochen über ihre Erlebnisse. Sie hat das Gefühl, etwas ganz tief verstanden zu haben. Dass Licht auf eine Wahrheit gefallen ist, die ihr bisher verborgen blieb. Sie macht einen zutiefst glücklichen Eindruck. Fast als wäre sie von einer körperfremden Substanz berauscht.

In diesem Zustand checken wir in unser kleines angestammtes Hotel ein. Das Zimmer empfängt uns mit zwei richtigen Betten. Einmal darauf werfen, soviel Zeit muss sein. Die Aussicht, die kommende Nacht darin zu verbringen, ist einfach göttlich. Ansonsten ist dieser Raum aus westlicher Sicht alles andere als luxuriös. Für uns aber ist er luxuriöser als alles andere, was wir in der letzten Zeit erfahren haben. Es gibt ein En-Suite-Badezimmer mit Warmwasser und eine Toilette mit Spülung. Nachdem wir das alles ausgiebig genossen haben, wandern wir, von unserer Freiheit beschwingt, die mittlerweile dunkle Straße von unserem Hotel hinunter zu einer nur wenige Minuten entfernten Garküche. Es ist mehr ein Küchenwagen, der auf dem Gehsteig steht und von vier bestuhlten Tischen umgeben ist. An einem davon sitzen unsere Freunde und wir begrüßen uns, als hätten wir uns ewig nicht gesehen. Bei der Spezialität des Hauses, einer Fischsuppe namens Tom Yam Pla reden wir laut und durcheinander und lachen uns über Dinge kaputt, die wir normalerweise noch nicht mal lustig finden würden. Eine weitere Begleiterscheinung eines Schweigeretreats. Wir sind so sensibilisiert, dass es nur wenig braucht, um prustend loszulachen. Völlig erschöpft und glücklich machen wir uns nach zwei Stunden wieder auf den Weg in unsere himmlischen Betten.

Am nächsten Morgen geht es dreißig Kilometer Richtung Norden zum Mindfulness Project. In ein paar Tagen wird hier das Retreat mit Swami Atma beginnen. Das Grundstück des Mindfulness Projects liegt in der Nähe eines kleinen Dorfes mitten auf dem Land zwischen endlos scheinenden Feldern, Knicks und einzeln verstreuten Bäumen. In Thailand wird häufig in Monokultur angebaut, was dem Boden alle Nährstoffe entzieht und die rote Erde auslaugt. Das Mindfulness Project hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, mit Hilfe von Permakultur toten Boden fruchtbar zu machen und öde Steppen aufzuforsten. Permakultur ist ein nachhaltiges Gestaltungskonzept für Landwirtschaft und Gartenbau, das sich an natürlich gewachsenen Ökosystemen und fein aufeinander abgestimmten Kreisläufen der Natur inspiriert. In den letzten Jahrzehnten hat sich daraus eine Philosophie entwickelt, die sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens anwenden lässt. Zusammen mit dem Buddhismus bildet sie die Basis des Mindfulness Projects.

Die beiden Freunde aus Hamburg, die später noch in Richtung Heimat fliegen werden, haben Ähnliches für ihre Zukunft vor und sind mitgekommen, um sich das Projektland anzuschauen. Zwischen den Zeiten, in denen hier Volontäre wohnen und arbeiten, liegen immer ein paar Wochen des Müßiggangs, in denen das Team sich erholen kann. Diese Zeit nutzt auch die Natur, um durchzuatmen und sich ihr Terrain zurückzuerobern. In den letzten sechs Wochen ist neben ein wenig Gartenarbeit so gut wie nichts getan worden und Christian gab schon im vornherein zu bedenken, dass es nicht viel zu sehen gäbe, dass noch viel Arbeit zu tun wäre bevor das Gelände für die nächste Gruppe bezugsbereit ist. Wir sind die ersten, die nach so einer Pause das Grundstück betreten. Als wir aus dem Pick-up steigen, sehe ich Erstaunen und auch einen Anflug von Mitleid in den Augen der Freunde. Auch in mir steigt ein mulmiges Gefühl auf bei dem Gedanken, hier schon bald acht Tage zu wohnen. Aber ich weigere mich, meine Gefühlsregung nach außen zu lassen und gebe mich betont lässig. Es ist, man könnte sagen, rudimentär. Außer einer kleinen schwarzen Katze, die sich wahnsinnig freut, uns zu sehen, gibt es hier hauptsächlich Wildnis. Brachland mit ein paar Holzkonstruktionen und einem See. Mir fehlt im Moment die Vorstellungskraft, wie ein Hier-Leben aussehen könnte. Wir begehen das ganze Grundstück und kämpfen uns durch das kniehohe Gras. Ich bin froh, als wir wieder ins Auto steigen und zum nächsten Grundstück fahren.

Weil es auf dem offiziellen Projektland keine Privatsphäre gibt, lebt das Mindfulness Team auf einem anderen Grundstück, keine zwei Kilometer entfernt. Es ist der künftige Altersruhesitz eines Universitätsprofessors aus Khon Kaen, der eng mit dem Kloster von Ajahn Somchei verbunden ist. Bis der Professor hier irgendwann einmal einzieht, stellt er seinen Besitz dem Mindfulness Project kostenfrei zur Verfügung.

Gleich zu Beginn einer langen Auffahrt, die an einem wunderschön eingewachsenen See endet, steht ein langgezogenes Gebäude, das das weiße Haus genannt wird. Hier leben vier Langzeit-Volontäre, allesamt junge Frauen mit ihren drei Hunden. Daneben unter Bäumen versteckt in einem Ein-Zimmer-Häuschen wohnt Pedro. Er ist schon seit zwei Jahren im Mindfulness Project und der best friend aller Frauen. Praktischerweise ist er schwul, weshalb das auch so gut klappt. Das orangefarbene Haupthaus liegt direkt am Seeufer. Hier wohnen Anja und Christian mit Kerry und Adrian. Sie bilden das Basisteam. Kerry ist für den Nutzgarten im Projekt zuständig und Adrian als Klimatechniker für alles, was kaputt gehen kann. Und das ist so ziemlich alles. Dem tropischen Klima ist kein Material gewachsen. Leder schimmelt, Gummi löst sich auf, Holz wird von Termiten pulverisiert, Plastik in Kürze brüchig.

Durch eine Glasschiebetür betreten wir das Innere des Hauses, das ganz aus Lehm gebaut ist. Sie führt uns in ein Durchgangszimmer, das irgendwann mal ein Wohnzimmer sein wird. Doch noch ist es Lagerraum. Hier werden Greta und ich die nächsten Nächte schlafen. Nachdem wir die Hamburger Freunde verabschiedet haben, richten wir uns ein. Wir rollen eine Matte aus, schützen unseren Bereich mit einem Moskitonetz vor Krabbelgetier und einer kleinen, sehr aufdringlichen Katze, was nur mäßig gelingt. Einige der den Raum beherrschenden Kisten und Kästen, nutzen wir als Trennwand zu den anderen haarigen Mitbewohnern. Nachts werden wir den Raum auch mit vier Hunden teilen. Es ist auf seine ganz eigene Art gemütlich. Einen Wermutstropfen birgt die Wohnungssituation jedoch, denn es gibt kein frei zugängliches Badezimmer. Zur Dusche und zur Toilette geht der Weg durch Anjas und Christians Schlafzimmer. Nachts durch ihr Zimmer zu tapern, ist für mich problematisch. Das Gefühl, ihre Privatsphäre zu stören, schränkt mich in meiner Freiheit ein, zu pinkeln, wann immer ich will und muss. Aber was soll´s, man kann nicht alles haben. Vielleicht ist die Strategie des wenig Trinkens ein probates Mittel? Ich probiere das in der ersten Nacht aus und tatsächlich führt es dazu, dass ich weit über die Nacht hinaus, insgesamt zwölf Stunden, nicht zur Toilette muss. Doch ich habe die Wirkung von Hitze in Kombination mit körperlicher Bewegung unterschätzt. Schon am Morgen habe ich ein merkwürdiges Blasengefühl. Ich hatte solange keine Blasenentzündung, dass ich sie jetzt, hier mitten auf dem Land, auch nicht wahrhaben möchte. In der Hoffnung, dass es sich um einen vorübergehenden Anflug handelt, beginne ich gleich morgens ganz viel zu trinken.

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