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Eine Lehre in Anicca

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Mit den Mönchen leben viele Tiere im Kloster. Einige sind zugelaufen, andere wurden geschenkt. Unter den großen, groben Straßenhunden gibt es auch einen, der im Januar noch nicht hier war. Es ist ein sehr kleiner Hund, der aussieht wie ein Kinderspielzeug. Jeden Abend stürmt er während des Chantens in die große Buddhahalle und bespaßt die Gruppe mit seinem ungestümen Spieltrieb. Greta liebt diesen Hund und spielt mit ihm, wann immer sie kann. An einem Tag zum Ende des Retreats sehe ich sie auf dem Boden einer offenen Halle mit ihm spielen. Eine Weile beobachte ich diese pure Lebensfreude, bis Greta aufsteht, um ihre Trinkflasche in einem anderen Teil des Klostergeländes zu füllen. Der Kleine läuft hinter ihr her und verbellt beiläufig einen der großen Hunde. Ohne dem Gedanken weitere Beachtung zu schenken, weiß ich, dass hinter seinem Kläffen Angst steckt. Doch der kleine Hund wägt sich in Gretas Windschatten sicher und begibt sich in den Große-Hunde-Bereich. Kaum biegt er um die Ecke in das Revier der anderen, macht einer der Großen auch schon Jagd auf ihn. Blitzschnell holt er ihn ein, schnappt ihn am Kragen und schlägt ihn mit Leichtigkeit mehrmals auf den Boden. Es ist mehr ein Schütteln, das in eine Richtung immer wieder gegen die Stabilität des Bodens prallt. Als endlich jemand eingreift, liegt ein regloses Fellknäuel am Boden. Paralysiert stehen wir um den Kleinen herum. Wir können nichts fragen, nichts sagen, nicht helfen. Wir müssen schweigen. Einige weinen still. Seine Augen sind geöffnet und noch voller Glanz. Aber er bewegt sich nicht. Ist er tot? Brutal zeigt uns das Leben, was Anicca, die Impermanenz, noch ist. Das Gesetz von Leben und Tod. Ein kleiner, alter Mönch, von oben bis unten mit Kraftsymbolen tätowiert, hebt ihn sacht auf und trägt ihn zu seinem Häuschen. In seinem Gesicht ist keine emotionale Regung zu erkennen. Schockiert und verstört zerstreut sich unsere Gruppe. Ich beobachte, wie Greta sich schnell vom Tatort entfernt und mache mir Sorgen, wie sie diese brutale Szene verkraftet. Ich folge ihr bis zu den Duschkabinen, wo sie sich eingeschlossen hat. Dann breche ich mein Schweigen und rufe leise: „Greta?“ Aber sie antwortet mir nicht.

Von der Freiheit, ich zu sein

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