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Was hast du heute gelernt?

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Jeden Abend nach dem Essen versammeln wir uns zum Gesprächskreis in unserem Yoga-Sala. Yoga-Sala nennt sich der zweite wellbeblechte Holzbau, in dem alles außer kochen, schlafen, duschen und Toilette stattfindet. Das Wichtigste für diese allabendliche Zusammenkunft ist eine gute Imprägnierung gegen die jetzt sehr aktiven Moskitos. Eine junge Schottin reagiert auf die Stiche so allergisch, dass sie sich weinend unter ihrem Moskitonetz versteckt und den Abbruch des Retreats in Erwägung zieht. Es sind vor allem die gemeinen Tigermücken, die zur Dämmerung ihr Unwesen treiben. Auch Greta reagiert ängstlich auf diese Blutsauger, vor deren Stachel eigentlich nur der in den 50er Jahren für die US-Army entwickelte und sehr umstrittene Stoff DEET Sicherheit bietet.

Wenn alle gut geschützt mit Spray und Tüchern bedeckt im Kreis Platz genommen haben, eröffnet Christian die Runde mit einem kurzen Vortrag über eine buddhistische Weisheit. Dann folgen zwei Fragen. Die erste ist ein harmloser Appetizer und leicht zu beantworten: “Was war dein schönster Moment heute?” oder “ Was hast du heute gelernt?”. Die zweite zielt tiefer und erwartet, offen vor der Gruppe über die eigene Wahrheit zu sprechen. Frei vor einer Gruppe zu reden, ist per se nicht einfach. Vor fremden Menschen einen Seelenstriptease hinzulegen, fügt dem ganzen eine Würze hinzu, die nicht nach jedermanns Geschmack ist. So stößt in dieser Woche eine der Fragen auf ganz besonderen Widerstand bei mir. Sie lautet: “Was tust du, damit andere Menschen dich nett finden? Was ist deine Strategie?” Ich stocke innerlich und finde es im ersten Moment total doof, öffentlich über so etwas zu sprechen. Außerdem habe ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Als allererstes kommen mir dazu Strategien anderer in den Sinn. Zum Beispiel, in eine niedliche Kleinkindstimme zu verfallen. In meinen Augen bewirkt das zwar genau das Gegenteil von Sympathie und doch tue ich es selbst manchmal. Ich glaube, meine Strategie ist, mich zu erklären, mit all meinen dunklen Seiten. Offenzulegen wie unperfekt ich bin und vor allem, wie destruktiv ich manchmal denke. Ich mache mich klein, um weniger gefährlich zu scheinen. Doch am Ende ist es egal, welche Methode ein jeder verfolgt. Das Ziel ist immer gleich: “Schau her, ich tu doch nichts.”

Diese Erkenntnis habe ich schnell gefasst, aber es fügt sich der Druck hinzu, als Älteste hier meine Antwort in schlaue und weise Worte zu verpacken. Ein Talkingstick geht herum und wer ihn in der Hand hält, darf sprechen. Bis ich an der Reihe bin, habe ich Zeit, mir ein paar Sätze zu überlegen. Theoretisch. Aber meine Multitasking Fähigkeit ist begrenzt, ich kann nicht zuhören und denken zur selben Zeit. Das stresst mich. Mit ungutem Gefühl beobachte ich das Näherkommen des Stocks. Als er mich erreicht, lasse ich meinem Redefluss freien Lauf. Komme vom Hölzchen zum Stöckchen, umkreise das Thema weitläufig und sage nichts von dem, was ich sagen wollte. Als ich den Stock weitergebe, habe ich trotzdem das Gefühl, verstanden worden zu sein.

Jeden Abend zeigt sich aufs Neue, dass es eigentlich nebensächlich ist, welche Frage gestellt wird. Die Antwort kommt immer aus dem Umfeld des Themas, das die Gefragte in diesem Moment am meisten beschäftigt. Helen aus Hamburg, eine junge Frau, die allein für ein paar Wochen Südostasien bereist, erzählt von ihrer Schwester. Von einem Tag auf den anderen Tag erlitt sie vor zwei Jahren eine extreme Persönlichkeitsveränderung, die mit der Diagnose einer Krankheit erst richtig Fahrt aufnahm, die durch den gleichnamigen Film als „Feuer im Kopf“ bekannt wurde. Eine Autoimmun-Hirnentzündung, die zu Krampfanfällen, Psychosen, Atemstörung und Koma führen kann. Zwei Jahre begleitet Helen mit ihrer ganzen Familie den Prozess. Sie erzählt von den Kraftanstrengungen und dem Horror, der alle fest im Griff hatte und immer noch hat, denn ihre Schwester ist nie wieder die Alte geworden.

Die Themen der jungen Menschen drehen sich meist um ihre Ursprungsfamilie. Es geht um die Folgen erfahrenen Liebesentzugs und um die Nichterfüllung von an sie gestellten Erwartungen, hinsichtlich ihrer beruflichen, aber auch ihrer privaten Entwicklung und immer noch um das konservative Lebenskonzept von Heirat, Kinderkriegen versus Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen. Dem von den Eltern erwarteten nächsten Schritt, auf ein abgeschlossenes Studium eine berufliche Karriere folgen zu lassen versus der Freiheit, sich auf low budget in ein Projekt wie diesem hier einzubuchen und sich mit Themen wie Liebe und Buddhismus auseinanderzusetzen. Es geht um Essstörungen, Liebeskummer, Selbsthass, um Einsamkeit, darum, die eigene Homosexualität anzunehmen und erfahrenen Missbrauch zu integrieren. So geliebt zu werden, wie man ist. Als das, was man ist. Gemessen zu werden an dem, wer man ist und nicht an dem, was man tut. Und das bedingungslos. Ich würde mir wünschen, dass das Recht, zumindest von seinen eigenen Eltern bedingungslos geliebt zu werden, in die Grundrechte eines jeden Menschen aufgenommen wird. Unter Strafe bei Nichteinhaltung. Bedingungslose Elternliebe ist die Basis für eine barrierefreie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und für den Start in ein glückliches Leben.

All diese Themen sind mir nicht fremd, aber meine Lebenszeit hat mich mittlerweile darüber hinaus geführt. Mir wird auf diesem Workshop klar, dass das Mindfulness Project für meine eigene Entwicklung nicht der nächste Schritt sein kann. Bleibe ich hier, nehme ich die Mutterrolle für all die verlorenen Kinder ein. Ernte neben Mutterbild-Projektionen eventuell auch Zuneigung und Bewunderung, aber beschäftige mich ausschließlich mit Themen, die nicht mehr meine sind. Ich brauche ein erwachseneres Umfeld, um selbst zu wachsen.

Mit dieser Klarheit steigt Unmut in mir auf. Obwohl ich die Inhalte des Workshops, die Unterrichtseinheiten von Anja, Christian und Swami Atma, der mittlerweile wieder gesund ist, sehr schätze, geht mir der strenge Zeitplan auf die Nerven. Ich will weg! Ich sehne das Ende der acht Tage herbei. Ich habe einfach unterschätzt, wie ich auf einen strengen, über drei Wochen vorgegebenen Tagesablauf reagiere. Zehn Tage im Kloster, drei Tage im Haus von Anja und Christian, acht Tage mit Swami Atma markieren ganz klar meine persönliche Obergrenze an Fremdbestimmung. Ich stehe kurz vor einem Gruppenkoller und glaube, Greta geht es ganz ähnlich. In den letzten Tagen habe ich sie häufiger nur noch von hinten auf dem Sozius eines Motorrads gesehen. Sie hat sich mit einer Volontärin angefreundet und nutzt jede Chance, das Weite zu suchen. Es wird Zeit, dass unsere gemeinsame Reise beginnt.

Von der Freiheit, ich zu sein

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