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1.2.3 Formen der Kompetenz

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Ein sehr grundlegender Punkt, der in der Mehrsprachigkeitsforschung immer wieder diskutiert wird, ist die Frage: Ab wann ist ein Mensch mehrsprachig? In der Tat ist dies gar nicht so leicht zu beantworten. Bereits Uriel Weinreich (1953), einer der Pioniere in der Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsforschung, hat zwischen drei Typen unterschieden, allerdings (der damaligen Tradition folgend) nur auf die Kompetenz in zwei Sprachen bezogen:

Typen von Zweisprachigkeit

 Zusammengesetzte Zweisprachigkeit (compound bilingualism)

 Koordinierte Zweisprachigkeit (coordinative bilingualism)

 Untergeordnete Zweisprachigkeit (subordinative bilingualism)

Weinreich bezieht sich hier vor allem auf die Speicherung von Sprachen im Gehirn eines Individuums und erläutert dies anhand der Speicherung von Wörtern und Konzepten für die verschiedenen Sprachen: Im Falle von zusammengesetzter (bzw. verbundener) Zweisprachigkeit hat der Sprecher ein bestimmtes Konzept zur Verfügung, auf das er mit beiden Sprachen zugreifen kann, im Falle der koordinierten Zweisprachigkeit ist im Gehirn des Sprechers neben dem betreffenden Wort auch jeweils ein eigenes Konzept für einen bestimmten Begriff gespeichert. Bei der untergeordneten Zweisprachigkeit findet dagegen kein direkter Zugriff auf das Konzept statt, sondern der Sprecher übersetzt einfach von der Erstsprache (L1) in die Zweitsprache (L2).

Weinreich verdeutlicht sein Modell am Beispiel des russischen Begriffs kniga und des deutschen Buch (vgl. Weinreich 1953:9f.):


Abb. 1: Typen der Zweisprachigkeit nach Weinreich (aus Roche 2013a:78)

Koordinierte Zweisprachigkeit ist in der Regel das, was Menschen haben, die in zweisprachiger Umgebung aufwachsen und die Sprachen natürlich lernen. Die untergeordnete Zweisprachigkeit erreicht man meistens dann, wenn man eine zweite Sprache im Fremdsprachenunterricht erlernt. Denn zumindest im traditionellen Fremdsprachenunterricht lernt man die neue Sprache am Anfang immer über Übersetzungsäquivalente. Verwendet man dagegen die Sprachen in natürlichen Kontexten, kommt es zur zusammengesetzten Zweisprachigkeit. Viele Modelle, die die Speicherung mehrerer Sprachen im Gehirn erklären wollen, greifen diese Konzeption wieder auf, aber in der Sprachwirklichkeit lässt sich das nicht immer trennen: Es gibt zu viele Konstellationen von Mehrsprachigkeit – die ja auch oft von einer reinen Zweisprachigkeit weggeht und drei oder mehr Sprachen umfasst, so dass man diese nicht mit einem einfachen Modell erfassen kann. Daher erfuhr die sog. coordinate-compound-Theorie bereits in den 70er-Jahren zwei Revisionen: 1. koordinierte und zusammengesetzte Mehrsprachigkeit wurden als zwei Pole einer Skala angesehen, auf der Zweisprachige eingeordnet werden können, 2. es wurde postuliert, dass das Sprachsystem eines Zweisprachigen in einen stärker zusammengesetzten Bereich (z.B. Lexikon) und einen stärker koordinierten Bereich (z.B. Grammatik) unterteilt werden müsse. Trotz aller Kritik hat aber die Unterscheidung, die Weinreich (1953) getroffen hat, durchaus eine gewisse Plausibilität, die auch durch neuere Ergebnisse aus der Hirnforschung untermauert werden, wie wir in Kap. 3.2 noch sehen werden.

Kompetenz und Domänen

In der Mehrsprachigkeitsforschung geht man heute davon aus, dass eine quasi-muttersprachliche Kompetenz in zwei oder mehr Sprachen die Ausnahme bildet. Im Allgemeinen ist für die Herausbildung der Kompetenzen in den jeweiligen Sprachen der Sprachgebrauch in unterschiedlichen Domänen (oder in unterschiedlichen sozialen Rollen) ausschlaggebend. Diese Verteilung bezeichnet man als Diglossie (zur Definition s.u. 4.2). Außerdem kann entweder eine Sprache in allen Bereichen immer dominant sein, oder aber in einem Bereich (einer Rolle) die eine, im anderen die andere. Vielfältige Zwischenformen sind denkbar.

Definition von Mehrsprachigkeit

Viele Publikationen berufen sich daher auf die Definition von Els Oksaar, die Mehrsprachigkeit wie folgt definiert:

„Mehrsprachigkeit definiere ich funktional. Sie setzt voraus, dass der Mehrsprachige in den meisten Situationen ohne weiteres von der einen Sprache zur anderen umschalten kann, wenn es nötig ist. Das Verhältnis der Sprachen kann dabei durchaus verschieden sein – in der einen kann, je nach der Struktur des kommunikativen Aktes, u.a. Situationen und Themen, ein wenig eloquenter Kode, in der anderen ein mehr eloquenter verwendet werden“ (Oksaar 1980:43).

Nach dieser Definition kann man ein Individuum als mehrsprachig bezeichnen, das eine oder mehrere weitere Sprachen irgendwann im Laufe seines Lebens erlernt hat und es zumindest so weit gebracht hat, dass es ohne Weiteres von der einen in die andere Sprache umschalten kann.

Franceschini (2009:33) erweitert diese Definition noch um den gesellschaftlichen Aspekt, indem sie vorschlägt, Mehrsprachigkeit als eine Fähigkeit von Gesellschaften, Institutionen, Gruppen und Individuen „to engage on a regular basis in space and time with more than one language in everyday life“ zu betrachten. Sie verankert die Mehrsprachigkeit auch in den Verhaltensweisen einer bestimmten Gruppe und definiert dabei Sprache als die konventionalisierte Sprachform in dieser Gruppe („habitual way of communication“) (Franceschini 2011:346). Dies kann auch eine Mischvarietät zwischen zwei oder mehr verschiedenen Sprachsystemen sein. Diese in mehrsprachigen Gruppen entstandenen Varietäten können dann sogar auch von einsprachigen Sprechern übernommen werden, wie die sog. ‚Ethnolekte‘, jugendsprachliche Mischformen, die Elemente aus Migrantensprachen integrieren.

Mehrsprachigkeit als dynamischer Prozess

Ein wichtiger Aspekt, der in der neueren Forschung immer wieder diskutiert wird, ist, dass man Mehrsprachigkeit als einen dynamischen Prozess auffassen muss: D.h. die gerade beschriebenen Kompetenzen sind nicht statisch, sondern können sich im Laufe des Lebens immer wieder verlagern, da sich auch die Sprachfigurationen immer wieder ändern. Dabei gibt es Phasen, in denen die Kompetenzen relativ stabil sind, und Phasen, in denen eine Veränderung stattfindet (dazu auch Grosjean 2013:10f.). Wie bereits erwähnt, hängt das meist von der Dominanz der jeweiligen Sprachen ab. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Junge wächst in einer türkischsprachigen Familie in Deutschland auf und spricht bis zu seinem dritten Lebensjahr nur Türkisch. Dann kommt er in einen deutschsprachigen Kindergarten und wird allmählich zweisprachig. In der Schule wird dann die deutsche Sprache immer dominanter (v.a. wenn der Junge keine Möglichkeit hat, einen muttersprachlichen Unterricht zu besuchen). Nach dem Abitur beschließt nun der junge Mann, sein Studium in der Türkei zu absolvieren. Hier wird nun die türkische Sprache dominant. Nach dem Abschluss kehrt er nach Deutschland zurück und je nach Verhältnissen kann dann die deutsche Sprache wieder dominant werden usw. Wie das Beispiel zeigt, ist die dominante Sprache dabei nicht immer die ‚Muttersprache‘ (vgl. Grosjean 2013:13).

Neben dieser Dynamik, die von den äußeren Konstellationen bestimmt wird, gibt es auch eine Dynamik, die durch kognitive Bedingungen bestimmt ist: Dies wird etwa beschrieben in der ursprünglich aus der Mathematik stammenden Dynamic Systems Theory, die von de Bot/Lowie/Verspoor (2007) auf die Mehrsprachigkeit angewendet wird. Danach bestehen Sprachwissen und Sprachkompetenz eines Mehrsprachigen nicht aus getrennten oder trennbaren Subsystemen (L1, L2, L3 usw.), sondern bilden ein holistisches dynamisches System, in dem jede Veränderung Auswirkungen auf alle Subsysteme hat. D.h. wenn ein Mehrsprachiger ein bestimmtes Konzept oder ein sprachliches Muster in einer Sprache erwirbt, kann sich das auch auf die Konzepte und Muster in seinen anderen Sprachen auswirken. Im Gegensatz zu älteren Theorien, die primär den Einfluss der L1 auf alle weiteren Sprachen betrachteten, geht dieser Ansatz davon aus, dass der Erwerb weiterer Sprachen auch Auswirkungen auf die Erstsprache hat. Man hat dann quasi ein sprachliches Gesamtrepertoire, aus dem man sich bedienen kann. Meist sind das lediglich Wörter, auf die man zurückgreift, wie etwa wenn man englische Wörter in das Deutsche einbaut. Allerdings sind oft auch die Bedeutung oder grammatische Strukturen vom Transfer betroffen (vgl. Riehl 2013a, 2014). De Bot (2004:27) betont, Sprachen seien „highly individual, idiosyncratic subsets of elements at different levels, with no real boundaries to keep them apart, and always in a state of flux“.

Multicompetence

Die Fähigkeit, die gesamten sprachlichen Ressourcen nutzen zu können, wird auch als Multicompetence bezeichnet. Cook (2005) versteht darunter die Koexistenz von mehr als einer Sprache in einem Kopf. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass man jemanden, der eine Sprache als Zweitsprache lernt, nicht mit einem Muttersprachler vergleichen darf, da er unter diesem Aspekt immer als ein Sprecher, der die Sprache nicht perfekt beherrscht, erscheinen würde. Vielmehr plädiert Cook dafür, Zweitsprachlerner mit anderen Zweitsprachlernern zu vergleichen. Er weist auch auf das hin, was in der Dynamic Systems Theory beschrieben wird, nämlich dass das Lernen einer zweiten Sprache auch die Erstsprache beeinflusst: „the L1 in the mind of an L2 user was by no means the same as the L1 in the mind of a monolingual native speaker“ (Cook 2005:4). Auch wenn man davon ausgeht, dass das menschliche Denken grundsätzlich universal ist, so nutzen doch die verschiedenen Sprachen verschiedene Konzepte oder geben verschiedene Möglichkeiten vor, mentale Konzepte zum Ausdruck zu bringen. Bei mehrsprachigen Menschen findet hier eine Überblendung der Konzepte statt, die ihnen die jeweils unterschiedlichen Sprachen zur Verfügung stellen (vgl. Cook 2011). Cook (ebd.:3) formuliert das folgendermaßen, dass etwa eine englischsprachige Person, die Japanisch als L2 gelernt hat und in Tokyo lebt, weder rein englisch noch rein japanisch „denkt“, sondern in einer Weise, die aus beiden zusammengesetzt ist.

Phänomen mehrsprachiger Mensch

Aus diesen Überlegungen kann man nun ableiten, was Grosjean bereits 1985 (Wiederabdruck 2008) gefordert hat, nämlich dass ein mehrsprachiger Mensch nicht als ein aus zwei einsprachigen zusammengesetztes Individuum betrachtet werden darf. Er verfügt nicht nur über ein dynamisches Sprachsystem, sondern unterscheidet sich von einsprachigen Menschen auch dadurch, dass er Praktiken mehrsprachigen Sprechens verwendet – wie Code-Switching oder Formen des Übersetzens von einer Sprache in die andere. Oder wie García (2009:44f.) es formuliert: „a bilingual person is a person that languages‘ differently“. Daher darf man auch einen mehrsprachigen Menschen nicht mit einem einsprachigen vergleichen. Grosjean (2008:14) verdeutlicht dies sehr schön am Bild eines Hürdenläufers: Ein Hürdenläufer vereinigt im Prinzip zwei Sportarten in sich, den des Sprinters und den des Hochspringers. Er wird aber nie so hohe Leistungen in diesen beiden Sportarten erreichen wie Sportler, die nur auf Sprint oder Hochsprung spezialisiert sind. Und es wird ihn auch niemals jemand mit einem Sprinter oder Hochspringer vergleichen. Ein bilingualer Sprecher ist nun wie ein Hürdenläufer: er vereint zwei verschiedene Sprachen, wird aber in der Regel weder in der einen noch in der anderen Sprache einem monolingualen Sprecher einer der beiden Sprachen gleichen. Daher darf er auch nicht mit einem monolingualen Sprecher verglichen werden.

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