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Kapitel 7

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Leise fluchend stieg der Mann aus seinem klapprigen schmutzig-blauen VW-Polo. Umständlich schloss er den Wagen ab und versenkte den Schlüssel in der Tasche seiner abgewetzten schwarzen Lederjacke. Ein kalter Windstoß fegte über den Asphalt, trieb trockenes Laub vor sich her. Unwillkürlich stellte der Mann den Jackenkragen auf. Dadurch wurde sein strähniger grauer Pferdeschwanz verdeckt, zu dem sein dünnes Haar gebunden war.

»Scheißwetter«, brummte er und schnippte die halbgerauchte Kippe in den Rinnstein. Geräuschvoll zog er die Nase hoch und spuckte den Schleim in die gleiche Richtung. Seit Tagen plagte ihn eine hartnäckige Erkältung. Er hatte sich darauf eingerichtet, im Bett zu bleiben und sich mit einer Mischung aus heißem Tee und hochprozentigem Rum zu kurieren, bevor er sich seiner Leidenschaft hingeben würde: den Toten. Nichts faszinierte ihn mehr. Filmreif inszeniert, übten sie einen besonderen Reiz auf ihn aus. Leichen, die bereits auf den ersten Blick die Fantasie anregten, die auf eine Weise positioniert waren, die Rätsel aufgab. Die dazu aufforderten, ein Puzzleteil nach dem anderen aufzuspüren und zusammenzusetzen, bis ein stimmiges Bild entstand.

Die letzten beiden Ermordeten in dieser Stadt waren ausgesprochen kunstvoll in Szene gesetzt worden, als hätte ein Meister seines Fachs akribisch das Bühnenbild für eine finale Aufführung erschaffen, ehe der Vorhang für immer fallen würde. Im ersten Akt war ein Psychologe der Hauptdarsteller gewesen, im zweiten ein Pfarrer. Damit war das Stück aber nicht beendet. Bis zum Schlussapplaus würden einige Tote hinzukommen – ganz sicher.

Der Mann vergrub die Hände in den Jackentaschen und schlurfte mit gesenktem Kopf zum Eingang des Polizeipräsidiums.

Bei seinem Eintreten lehnte Pia Wagner am Tresen und sprach mit dem uniformierten Beamten, der dahinter stand.

»Der hat uns gerade noch gefehlt«, raunte Siegfried Welsch seiner jungen Kollegin zu, worauf sie sich halb herumdrehte. Beim Anblick des Mannes unterdrückte Pia einen Seufzer. Bartholomäus Plaschke, kurz BP genannt, bezeichnete sich gern hochtrabend als freier Journalist, war aber eher ein Sensationsreporter, der seine Storys an jedes Revolverblatt verkaufte. Außerdem war dieser Mann eine Nervensäge erster Güte.

»Was willst du, BP?« Es klang nicht gerade freundlich. »Du bekommst heute keine andere Antwort als vor ein paar Tagen: Aus ermittlungstaktischen Gründen geben wir keine weiteren Infos raus.«

Dicht vor ihr blieb er stehen.

»Bist du auf Krawall gebürstet? Mensch, Mädchen, mach dich mal locker.«

Er sah wie meistens ziemlich heruntergekommen aus, hatte wie immer keine Zeit mit seinem Rasierer verschwendet und stank wie gewöhnlich nach einem übervollen Aschenbecher.

»Das fällt mir in deiner charmanten Gegenwart schwer«, parierte sie und trat einen Schritt zur Seite. »Also sag, was du willst – und dann verschwinde.«

Er zog ein schmuddeliges Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll. Seine Nase war genauso gerötet wie seine Augen.

»Ich muss mit deinem Boss sprechen.«

»Keine Chance. Geh nach Hause ins Bett, bevor deine Bazillen anfangen, sich hier heimisch zu fühlen.«

Er grinste und zeigte dabei eine Reihe nikotinverfärbter Zähne.

»Was glaubst du, wo ich alter, kranker Mann bis vor ’ner Stunde war? Ich habe mich nur hergeschleppt, um euch zu helfen.«

Pia wechselte einen kurzen, bedeutungsschwangeren Blick mit ihrem Kollegen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich höre.«

»Ich will mit Bremer reden.«

»Der hat keine Zeit.«

»Die wird er sich nehmen, wenn er hört, dass der Killer Kontakt zu mir aufgenommen hat.«

Eindringlich forschte die Kommissarin in seinem zerknitterten Gesicht. Wollte der Typ sie auf den Arm nehmen?

»Wenn das ein Vorwand ist, um …«

»Ich kann meine Infos gern der Presse anbieten, aber ich will keinen Ärger mit der Staatsanwältin. Die hat mich sowieso aufm Kieker.«

»Also gut«, entschied Pia, wandte sich um und gab ihm dabei ein Zeichen, ihr zu folgen. »Komm mit.«

Aus Rücksicht auf ihren empfindlichen Geruchssinn nahm Pia statt des Lifts die Treppe. Mit einem Seufzer folgte Plaschke der Kommissarin. Während sie leichtfüßig die Stufen hinauflief, zog er sich schnaufend am Geländer hoch. Als er schwer atmend oben ankam, erwartete sie ihn mit spöttischem Lächeln.

»Du solltest weniger rauchen und saufen.«

Da er nach Luft schnappte, fiel seine Antwort unverständlich aus.

Auf dem Flur deutete Pia im Vorbeigehen auf die Besucherstühle an der Wand.

»Warte hier.«

Sie wandte sich nach rechts, klopfte kurz an die Tür ihres Chefs und trat ein.

In der Hoffnung, etwas zu entdecken, was sie womöglich übersehen hatten, hatte sich ihr Vorgesetzter über einen Tisch mit Detailaufnahmen von den Leichenfundorten gebeugt.

»Du hast Besuch, Hannes. Draußen sitzt BP.«

Ein vorwurfsvoller Blick traf sie.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Er sagt, der Mörder hätte ihn kontaktiert.«

»Ist das seine neuste Masche, um an Infos zu kommen?«

»Angeblich hat er wirklich was für uns.«

»Hast du das überprüft?«

»Er will nur mit dir reden.«

»Bleibt mir denn nichts erspart?«

Mit einem unterdrückten Stöhnen richtete sich der fast zwei Meter große Hauptkommissar auf und drückte den Rücken durch. Mit langen Schritten ging er zur Tür und öffnete sie.

Der Reporter saß breitbeinig auf dem mittleren von insgesamt fünf Stühlen. Abwartend blieb Hannes vor ihm stehen.

»Seit wann kommst du mit Neuigkeiten zu uns, BP?«

»Seit dieser geniale Täter erkannt hat, dass ich der Beste für diesen Job bin.«

»Für welchen Job?«

»Für die Berichterstattung über ihn.«

Zweifelnd runzelte Hannes die Stirn. Ihm war anzusehen, dass es ihm schwerfiel, dem Mann zu glauben.

»Der Killer hat sich bei dir gemeldet?«

»Müssen wir aufm Flur darüber reden?«

Einen Moment lang zögerte der Ermittler. In seinem Arbeitszimmer war alles sichtbar, was die beiden Morde betraf. Das wäre ein gefundenes Fressen für den Reporter.

Unterdessen hatte Pia einladend die Tür zum Büro geöffnet, das sie mit ihrem jüngeren Kollegen teilte. Hannes warf seiner Kommissarin einen zustimmenden Blick zu und gab Plaschke einen Wink.

Überrascht schaute Martin Drews von der vor ihm liegenden Akte auf, als Pia ohne Erklärung an die große Scheibe trat, durch die man ins Chefzimmer schauen konnte, und die Jalousie herunterließ. Beim Eintreten des Reporters verstand der Kommissar und verdrehte die Augen.

»Wir stören nicht lange«, wandte sich Hannes an ihn und schob Plaschke zu einem Stuhl. Er selbst setzte sich auf die Schreibtischkante, Pia lehnte sich an ein Aktenregal. Aller Blicke richteten sich auf den Reporter, der es sichtlich genoss, im Mittelpunkt zu stehen.

»Spuck’s aus«, forderte Hannes ihn auf. »Wir haben nicht ewig Zeit.«

»Krieg ich ’n Kaffee?«

»Treib es nicht zu weit.« Trotz dieser Warnung nahm er Blickkontakt zu Pia auf, die sich in Richtung des niedrigen Aktenschranks in Bewegung setzte, auf dem die Warmhaltekanne stand. Während sie einen bunten Keramikbecher einschenkte, fixierte der Hauptkommissar den Reporter scharf.

»Also: Schieß los.«

»In meinem Briefkasten lag heute ’n brauner Umschlag. Da waren Fotos drin – und ’n Brief.«

Mit fordernder Geste streckte Hannes die Hand aus.

Umständlich zog Plaschke den Reißverschluss seiner Jacke auf und fischte den Umschlag aus der Innentasche. Unterdessen hatte sich Martin Einmalhandschuhe übergestreift. Er nahm das Kuvert an sich, drückte es an den Längsseiten etwas zusammen und ließ den Inhalt auf seine Schreibtischplatte gleiten. Den Briefumschlag verwahrte er in einer Plastiktüte zur Beweismittelsicherung.

Er wusste, dass der Reporter vor etwa zwei Jahren buchstäblich über eine Leiche gestolpert war. Damals hatte er Gegenstände am Tatort angefasst und mit seinen Spuren kontaminiert. Der Chef der Kriminaltechnik hatte heftig geflucht und Plaschke ins Präsidium zitiert, um Finger- und Handabdrücke abzunehmen, damit man über das Ausschlussverfahren ermittlungsrelevante Spuren herausfiltern konnte. Da für eine Speicherung keine Rechtsgrundlage existierte und aus Gründen des Datenschutzes durften damals die Abdrücke des Reporters nicht gespeichert werden. Er würde sie ein weiteres Mal abgeben müssen.

»Hat das außer dir jemand angefasst?«

Plaschke zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. Dankbar nahm er den Kaffeebecher von Pia entgegen. Dabei fiel ihr Blick auf die beiden gelb-braun verfärbten Finger seiner rechten Hand. Das verdankte er den selbstgedrehten filterlosen Glimmstängeln, ohne die er selten anzutreffen war. Es passte zu seiner ungepflegten Erscheinung.

Die Polizistin konzentrierte sich auf den Inhalt des Umschlags, den Martin ausgebreitet hatte. Je zwei Fotos lagen, den jeweiligen Opfern zugeordnet, auf dem Schreibtisch. Das Ermittlungsteam stellte schnell fest, dass es sich um Momentaufnahmen des Entsetzens, immenser Schmerzen und Todesangst handelte. Die schreckensgeweiteten Augen der Opfer dokumentierten wahrscheinlich die letzten Lebensminuten der Ermordeten.

Pia griff nach dem bedruckten Papier, das Martin in eine Klarsichthülle gesteckt hatte, um eventuelle Spuren nicht zu verwischen. Hannes bat seine Kollegin, den Text vorzulesen.

»Ich habe Sie ausgewählt, weil wir uns ähnlich sind. Wir sind beide Außenseiter. Sie sollen die Wahrheit über Flachsbarth und Rugard aufdecken und veröffentlichen. Recherchieren Sie, wie die Toten wirklich waren: unfähig, inkompetent und nicht in der Lage, richtige Entscheidungen zu treffen. Dadurch haben sie großes Unheil angerichtet und Leben zerstört. Sie haben die Verantwortung dafür nicht übernommen. Deshalb mussten sie sterben – deshalb wird es weitere Leichen geben. Auch diese Versager werden nicht einfach getötet. Sie sollen das lange Leiden ihrer Opfer nachempfinden, erleben, was es bedeutet, zu wissen, dass niemand ihnen helfen wird.

Schreiben Sie, wie genial ich sie verurteilt und ausgelöscht habe. Die Fotos beweisen, dass ich kein Spinner oder Trittbrettfahrer bin. Sie werden erkennen, dass es eine große Kunst ist, jemanden langsam sterben zu lassen. Ich bin ein brillanter Künstler. Jahrelang habe ich mir meine Vorgehensweise bis ins kleinste Detail ausgemalt, daran gefeilt und eine große Inszenierung geplant, die ich nun verwirkliche, bis jeder seine verdiente Strafe erhalten hat. Sie werden der erste Zeitungsmann sein, der die ganze Wahrheit aufdeckt. Lassen Sie dabei die unfähige Polizei aus dem Spiel. Von mir bekommen Sie die Chance auf die Story Ihres Lebens.« Mit ernster Miene blickte Pia auf. »Unterschrift: Der ›Regisseur‹.«

Sekundenlang war es still.

Hannes zwang sich, das Gehörte nicht sofort zu kommentieren. Was er zu sagen hatte, war nicht für die Ohren der Presse bestimmt.

»Es war eine gute Entscheidung, damit zu uns zu kommen, BP. Ich muss nicht erst betonen, dass davon kein Wort an die Öffentlichkeit gelangen darf. Ich spreche nachher mit der Staatsanwältin.«

»Sag der Pauli, dass ich aus freien Stücken hier war. Dann sind wir hoffentlich quitt.«

»Nur wenn du die Klappe hältst.«

»Mach ich. – Dafür will ich die Story exklusiv, wenn alles vorbei ist.«

»Ich rede mit der Staatsanwältin«, versprach Hannes. »Geh bitte mit Martin zur Kriminaltechnik. Du kennst das ja. Wir müssen deine Fingerabdrücke ausschließen – obwohl ich nicht glaube, dass der ›Regisseur‹ so unvorsichtig war, welche zu hinterlassen.«

Kurz darauf war der Hauptkommissar mit seiner Kollegin allein.

»An der Echtheit des Briefes besteht schon wegen der Fotos kein Zweifel«, sagte er und rieb sich das Kinn. »Sogar Hinweise auf das Motiv hat uns der Mörder geliefert.« Rasch nahm er die Nachricht vom Tisch und richtete die Augen darauf. »Er beschreibt die Opfer als unfähig und inkompetent, als nicht in der Lage, richtige Entscheidungen zu fällen. – Ihn betreffend? Haben sie dadurch Unheil über ihn gebracht, sein Leben zerstört?«

»Das kann man daraus schließen«, stimmte sie ihm zu. »Anscheinend will er sich an allen rächen, die er für sein zerstörtes Leben verantwortlich macht. Da werden zu unseren beiden Opfern wohl einige dazukommen. Wenn wir ihn nicht bald stoppen, reichen Horsts Kühlfächer nicht aus.«

Damit hatte sie zweifellos recht.

»Zuerst werde ich die Staatsanwältin informieren. Ich fahre gleich zu ihr. Danach muss ich Professor Thaler über den neuen Sachverhalt unterrichten. Das könnte wichtig fürs Profil sein.«

»Wenn du ihn zu Hause besuchst, wirst du Charly über den Weg laufen.«

»Mir fällt sicher eine plausible Erklärung ein.« Er deutete auf die Kisten mit Jugendamt-Unterlagen, die sich vor einem der Aktenschränke stapelten. »Macht ihr inzwischen damit weiter, alle Fälle rauszusuchen, an denen sowohl Flachsbarth als auch Rugard beteiligt waren.«

»Hoffentlich finden wir überhaupt was, das uns weiterbringt. Nach so langer Zeit …«

»Ich weiß, wie mühsam das ist, aber wir haben keine Wahl. Irgendwo da drin muss es einen Hinweis auf den Täter geben.«

Mit ernster Miene betrachtete Frau Dr. Pauli die Scans der Fotos, bevor sie die Kopie des Briefes las, den Hannes ihr vorgelegt hatte.

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte sie, als sie aufsah. »Er nennt sich ›Regisseur‹. Offenbar glaubt er, dass er die Fäden in der Hand hält. Wir brauchen dringend Ergebnisse, sonst mordet er munter weiter.«

»Wir arbeiten mit Hochdruck daran.« Der Hauptkommissar hockte auf der Stuhlkante vor dem Schreibtisch der Staatsanwältin, als wolle er gleich aufspringen. »Meine Leute durchforsten Aktenberge bis zurück in die Zeit vor über 30 Jahren. Wir wissen nicht, ob sie überhaupt vollständig sind. Ein paar Kollegen sind seit Tagen unterwegs und befragen Nachbarn, Freunde oder ehemalige Mitarbeiter der Opfer. Einige sind inzwischen im Ruhestand oder verzogen oder sonst wie unauffindbar. Zusätzlich habe ich Kollegen von der Operativen Fallanalyse angefordert, aber die haben wie immer viel zu wenig Leute zur Verfügung.«

Das leuchtete ihr ein. Nach kurzem Überlegen hob sie die feingeschwungenen Brauen.

»Wieso hat er sich ausgerechnet an Plaschke gewandt?«

»Weil der dafür bekannt ist, dass er sich selten an die Regeln hält? Ein Sensationsreporter, der keine Skrupel hat, im Dreck zu wühlen.« Er zuckte die Schultern. »Die Artikel von BP sind immer reißerisch und hart an der Grenze des guten Geschmacks. Wahrscheinlich dachte der ›Regisseur‹, BP würde sofort zu Geld machen, dass er ihn kontaktiert hat. Das hätte er vermutlich sogar getan, wenn Sie ihn nicht im Visier hätten. Der Mann hat einen Riesenres­pekt vor Ihnen.«

»Das will ich ihm auch raten«, erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln. »Er wird es nicht wagen, darüber zu schreiben. Wie ich ihn kenne, will er dafür die Story als Gegenleistung exklusiv von uns.«

»So ist es.«

»Meinetwegen.« Sie stand auf, blieb aber hinter ihrem Schreibtisch stehen. »Gibt es sonst etwas Wichtiges?«

»Ich bringe Kopien zu Professor Thaler. Vielleicht kann er uns eine erste Einschätzung geben.«

»Das halte ich für keine gute Idee. Sie wissen, unter welcher Bedingung er uns hilft.«

»Keine Sorge, Frau Stern wird nichts davon erfahren.«

»Unterschätzen Sie diese Frau nicht. Wir haben öfter erlebt, dass sie ein besonderes Gespür hat.«

»Diesmal wird sich Charly nicht einmischen«, sagte er zuversichtlich. »Ich melde mich, wenn es Neuigkeiten gibt.«

Von der Staatsanwaltschaft im Volgersweg nahm der Hauptkommissar die schnellste Route nach Wülfel. Über die Hildesheimer erreichte er nach knapp 20 Minuten sein Ziel. Er stellte seinen Dienstwagen an der Straße ab und passierte das offen stehende Tor. Mit langen Schritten ging er über das weitläufige Grundstück und stieg die drei Granitstufen hinauf. Die sechs Namensschilder an der Hauswand über dem Klingelknopf entlockten ihm ein Lächeln. Er war immer noch verwundert darüber, wie rasch sich Charlotte entschlossen hatte, hier einzuziehen. Fraglos bot dieses Haus eine Menge Komfort, war geräumig und verfügte über einen großen Garten. Die Bewohner waren durchweg sympathisch. Vor etwa drei Jahren war die Freundin gezwungen, sich nach dem Tod ihres Mannes ihr Leben neu einzurichten und hatte mit der Zeit ihre Unabhängigkeit schätzen gelernt. Obwohl sie nie darüber gesprochen hatte, schien ihr etwas Wichtiges gefehlt zu haben. Was verständlich war. Hannes freute sich für sie, dass sie in Philipp Thaler wieder einen geliebten Menschen gefunden hatte.

Er verdrängte, dass er sich genau so etwas wünschte, und läutete.

Charlotte kam leichtfüßig die Treppe herunter.

»Ich bin unterwegs!«, rief sie in Richtung des Wohnzimmers, als der sanfte Doppelklang des Gongs ertönte, strebte auf die Haustür zu und öffnete.

»Hannes.« Überrascht lächelte sie. »Mit dir hätte ich nicht gerechnet.« Sie beschrieb eine einladende Geste. »Du möchtest bestimmt zu Philipp.«

An ihr vorbei betrat er das Haus.

»Woher weißt du das?«

»Eingebung?«, schlug sie vor und schloss die Tür. »Ich bringe dich zu ihm.«

Durch die Wohnhalle führte sie den Gast zum Arbeitszimmer des Professors. Nach kurzem Anklopfen ging sie hinein. Philipp saß an seinem von Unterlagen übersäten Schreibtisch am Computer.

»Du hast Besuch.«

Beim Anblick des Hauptkommissars nahm er die Lesebrille ab und erhob sich erstaunt.

»Herr Bremer. Was verschafft mir die Ehre?«

»Ich war zufällig in der Nähe …«

Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust, während sie den Freund gespannt ansah.

»… da fiel mir ein, dass ich Sie schon lange was fragen wollte …«

Ein wissendes Lächeln erschien auf Charlottes Gesicht.

»… zu einem alten Fall.«

»Nun lass es gut sein, Hannes. Ich bin dann mal weg.«

Verblüfft schaute er ihr nach, bis sie die Tür von außen geschlossen hatte.

»Anscheinend bin ich ein schlechterer Lügner, als ich dachte.«

»Charlotte hat den Braten längst gerochen.« Philipp deutete auf die kleine Sitzgruppe. »Sie weiß, dass ich das Profil erstellen soll.«

»Aber nicht von uns.« Hannes setzte sich abermals nur auf die Sofakante. Ein Zeichen seiner Anspannung. »Machen Sie deshalb womöglich einen Rückzieher?«

Kopfschüttelnd nahm der Hausherr ihm gegenüber Platz.

»Sie hat versprochen, sich rauszuhalten.«

»Das erleichtert mich, obwohl das so gar nicht zu ihr passt.«

»Wahrscheinlich ist sie kuriert – jedenfalls für ein Weilchen.«

Sie tauschten einen verstehenden Blick.

»Warum sind Sie trotz unserer Abmachung hier?«, fragte Philipp. »Gibt es was Neues?«

»Der Killer hat sich gemeldet.«

Mit knappen Worten erzählte er von Plaschke, während er die für den Professor gescannten Fotos und eine Briefkopie aus der Tasche zog und auf den Tisch legte.

»Moment«, bat Philipp und holte seine neue Brille. »Die Hilfsmittel werden immer mehr«, kommentierte er, als er sich zu seinem Gast setzte. Zuerst griff er nach den Fotos und studierte sie eingehend. Ohne die Aufnahmen zu kommentieren, nahm er das Blatt zur Hand. Konzentriert las er den Text – erst einmal, danach ein weiteres Mal.

Hannes versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Der Professor genoss als Gutachter höchste Anerkennung. Er würde beides wohlüberlegt kommentieren.

»Was schließen Sie daraus?«

»Dieser Brief untermauert meine erste Einschätzung: Wir haben es mit einem hochintelligenten Täter zu tun, der fest davon überzeugt ist, dass er absolut richtig handelt. Er bestraft seine Opfer für deren Versagen, durch die er gelitten hat.« Nachdenklich zog er die Brille von der Nase. »Ob dieses Leiden real ist oder nicht, kann ich ohne persönliche Begutachtung des Mannes nicht beurteilen. Wenn er das allerdings bereits seit der Kindheit so empfindet …«

»… ist seine Todesliste viel länger, als ich befürchtet habe«, vollendete Hannes. »Können Sie mir auf die Schnelle mehr über den Killer erzählen?«

»Wenn ich das richtig deute«, sagte Philipp und tippte mit dem Zeigefinger auf die Briefkopie, »ist er Perfektionist. Er überlässt nichts dem Zufall. Außerdem braucht er Anerkennung. Die Welt soll erfahren, wie genial er ist.«

»Ein Psychopath?«

»Gut möglich. Ich vermute eine schwere Persönlichkeitsstörung. Was er seinen Opfern zufügt, lässt auf sehr geringe Empathie schließen. Der Geltungsdrang deutet auf NPS, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.«

»Und der Name, den er sich gegeben hat?«

Sekundenlang überlegte Philipp.

»Ein Regisseur ist ein Spielleiter. Er inszeniert das Stück. Es ist sein künstlerisches Werk. Dass er eine Kombination aus verschiedenen Fähigkeiten vorweisen kann, wissen wir ja bereits. Medizinisch, dramaturgisch und logistisch scheint er auf der Höhe zu sein. Seine gewählte Ausdrucksweise spricht für einen höheren Bildungsgrad. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Spekulationen bringen uns nicht weiter.«

»Okay.« Fast gleichzeitig standen sie auf. Hannes beugte sich hinunter, nahm die mitgebrachten Kopien vom Tisch und reichte sie Philipp. »Die brauchen Sie vielleicht fürs Profil. Aber nicht offen rumliegen lassen, sonst gerät Charly vielleicht in Versuchung.«

»Das werden wir beide verhindern.«

Uhlenbrock

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