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Kapitel 3

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Nach dem gemeinsamen Frühstück verließen die meisten der sechs Bewohner der Senioren-Wohngemeinschaft die große Küche. Professor Philipp Thaler, Gründer der WG und Besitzer des Hauses, zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. General a. D. Albert Scheuermann ließ sich zur Physiotherapie fahren, und Diplommeteorologe Conrad Lenz ging ein paar Schritte durch den spätherbstlichen Garten. Er hatte sich hinter dem Haus eine kleine Wetterstation mit Thermometer, Windrichtungsgeber und weiteren Messgeräten eingerichtet. Elisabeth Seegers, die nach ihrem Einzug in dieses Haus ihre Freude am Backen wiederentdeckt hatte, wollte ein neues Rezept für einen Apfelkuchen mit Marzipan und Rosinen ausprobieren. Während sie die Zutaten dafür zusammensuchte, setzte sich Charlotte mit der HAZ an den Küchentisch und vertiefte sich in den Leitartikel. Kurz da­rauf gesellte sich die oft »Strick-Liesel« genannte Anneliese Grothe zu den Freundinnen. Unaufgefordert reichte Charlotte ihr den Hannover-Teil der Tageszeitung.

»Alter Schwede!«, entfuhr es ihr nach einer Weile, wo­rauf Charlotte fragend aufblickte und Elli über ihre Schulter schaute.

»Was ist?«

»Erinnert ihr euch an die Leiche, die am letzten Samstag im Georgengarten gefunden wurde?« Annelieses Blick wechselte zwischen den Frauen. »Hier steht, dass es schwierig war, den Mann zu identifizieren. Inzwischen weiß man, wer der Tote ist.« Sie atmete tief durch. »Stellt euch vor, ich kannte ihn.«

Erstaunt hob Charlotte die Brauen.

»Du kanntest diesen Flachsbarth?«

»Woher weißt du, wie der … Ach, du hattest ja gestern Stammtisch – wahrscheinlich mit Infos aus erster Hand.«

»Wir haben nur kurz über den Fall gesprochen.«

Sie schob ihren Zeitungsteil beiseite und zog die vor der Freundin liegenden Seiten zu sich heran. Rasch überflog sie den Artikel. Danach betrachtete sie das abgebildete Foto. Es musste vor einigen Jahren aufgenommen worden sein, denn es zeigte keinen fast Siebzigjährigen, sondern einen etwa 50-jährigen Mann mit einer rahmenlosen Brille und wenig Haar.

»Was hattest du denn mit ihm zu tun?«

»Er war Psychologe beim Jugendamt. Unsere Wege haben sich manchmal beruflich gekreuzt. Er müsste aber seit ein paar Jahren im Ruhestand gewesen sein.«

Verstehend nickte Charlotte.

»Was war er für ein Mensch?«

Vage zuckte Anneliese die Schultern.

»Schwer zu sagen … besserwisserisch … Wenn er sich eine Meinung gebildet hatte, ließ er sich noch nicht mal durch logische Argumente umstimmen.«

»Demnach könnte er Feinde gehabt haben.«

Mit vorwurfsvollem Blick trat Elisabeth zu ihnen an den Tisch.

»Das klingt, als würdet ihr mitten in Mordermittlungen stecken. Lasst euch dabei bloß nicht von Philipp erwischen.«

»Wir unterhalten uns nur«, erwiderte Charlotte mit Unschuldsmiene. »Mach dir keine Sorgen, Elli. Die Polizei findet den Täter bestimmt ohne uns. Man soll sich sowieso nur bei der Kripo melden, wenn man sachdienliche Hinweise geben kann.«

»Die haben wir nicht«, gab Anneliese zu. »Ich kannte den Mann ja nur beruflich – und das ist Jahre her.«

Sie schaute zur Tür, als Philipp hereinkam. Er schenkte sich aus der Warmhaltekanne einen Pott Kaffee ein und setzte sich damit den Damen gegenüber. Dabei registrierte er die aufgeschlagene Zeitung, worauf Anneliese auf das abgebildete Foto deutete.

»Sagt dir der Name Enak Flachsbarth etwas?«

»Ist er tot?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil ihr euch anscheinend für ihn interessiert.« Sein wacher Blick wechselte zwischen ihnen. »Was berichtet die HAZ? Wurde er ermordet? Oder ist er nur unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen?«

Charlotte unterdrückte ein Lächeln.

»Anneliese hatte öfter beruflich mit ihm zu tun – und du vielleicht auch?«

Nachdenklich fixierte er das Zeitungsfoto.

»Hin und wieder wurde ich vom Gericht als zweiter Gutachter bestellt.«

»Wozu war das nötig?«

»Wenn es zum Beispiel um die Glaubwürdigkeit eines Jugendlichen ging. Flachsbarth war für die Begutachtung zuständig. Wenn nun der Rechtsbeistand des Angeklagten oder der Staatsanwalt an der psychologischen Beurteilung oder der Prognose zweifelte, wurde ein zweites Gutachten beantragt. Waren alle Beteiligten damit einverstanden, kam ich manchmal ins Spiel.«

»Flachsbarth war außerdem zuständig, wenn eine Inobhutnahme durch das Jugendamt stattfand«, fügte Anneliese hinzu, die jahrelang eine Einrichtung geleitet hatte, in der überwiegend auffällig gewordene Kinder und Jugendliche betreut wurden. »Mitunter können Kinder wegen einer Notsituation nicht in der Familie bleiben. Manche haben psychische Probleme, sind enorm aggressiv. Es gibt viele Gründe, aus denen sie anderweitig untergebracht werden müssen.«

»Verstehe«, sagte Charlotte, bevor sie Philipp anschaute. »Was hattest du für einen Eindruck von Flachsbarth? War er ein so netter und einfühlsamer Psychologe wie du?«

»Natürlich nicht«, scherzte er, wobei er ihr zuzwinkerte. Er wurde aber gleich wieder ernst. »So gut kannte ich ihn nicht.«

»War er kompetent?«

Bedächtig wiegte er den Kopf.

»Unsere Einschätzungen stimmten selten überein. Das sagt aber nicht viel über ihn aus. Vielleicht waren einige seiner Beurteilungen und Prognosen falsch. Genauso gut könnten es meine gewesen sein. Im Gegensatz zu ihm habe ich nach dem Gerichtsurteil meistens nichts mehr über die weitere Entwicklung des Betreffenden erfahren.«

»Demnach kann man nicht ausschließen, dass sich jemand an ihm rächen wollte«, überlegte sie. »Eltern, denen das Kind weggenommen wurde, oder jemand, der von ihm falsch begutachtet worden war und deshalb im Heim aufwachsen musste. Oder ein …«

»Was wird das, Sternchen?«, fragte er mit ruhiger Stimme. »Haben sie dich gestern beim Stammtisch mit Infos geködert?«

Sie wusste, dass er sie liebte und sich um sie sorgte.

»Wir haben eben nur über den Fall gesprochen, weil Anneliese den Mann kannte.«

»Es steht erst heute in der Zeitung, wer der Tote aus dem Georgengarten ist«, fügte die Freundin hinzu. »Ich kannte ihn zwar nicht besonders gut, aber es ist was anderes, wenn ein Mordopfer kein Fremder war. Wahrscheinlich dauert das eine Weile, aber ich denke, ich sollte zu seiner Beerdigung gehen. – Kommt ihr mit?«

»Ich bin dabei.« Charlotte bemerkte selbst, dass ihr die Zusage zu schnell entschlüpft war und dadurch ihr Inte­resse verriet. »Niemand geht gern allein auf den Friedhof.«

Philipps Blick verriet, dass er sie durchschaute, aber er sagte nichts dazu.

»Hier steht noch ein interessanter Artikel«, teilte Anneliese den Freunden mit. »Ein 84-Jähriger hat eine 77 Jahre alte Frau mit einer Schusswaffe zum Sex gezwungen – und das anscheinend nicht zum ersten Mal.«

»Was sagt man dazu?« Charlotte konnte ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken. »Das war bestimmt schlimm für die Frau, aber wenn man sich das bildlich vorstellt … Warum muss ich dabei eigentlich an unseren Freund Pippich und sein Viagra-Experiment im Eichengrund denken?«

Auch Philipp musste schmunzeln.

»Weil man so eine Nummer nicht so schnell vergisst. Wir können ihn ja mal besuchen.«

»Das muss nicht sein.« Damit erhob sich Charlotte. »Ich werde erst mal eine Runde laufen. Conrad hat gesagt, dass es gegen Mittag regnen soll.«

Im Polizeipräsidium wartete Hannes Bremer auf die Rückkehr seiner beiden Kollegen, die unterwegs waren, um Nachbarn des Ermordeten zu befragen. Der Tote hatte in Hannover-Kirchrode in einem Mehrfamilienhaus gewohnt.

Unterdessen las der Hauptkommissar abermals den Obduktionsbericht. Die Vielzahl der Verletzungen, die der Rechtsmediziner festgestellt hatte, dokumentierte ein Crescendo der Wut. Möglicherweise handelte es sich um einen Sadisten, der anderen aus reiner Lust Schmerz zufügte. Bislang gab es keinen Anhaltspunkt in irgendeine Richtung. Sie wussten nicht viel mehr, als dass der Fundort des Toten nicht mit dem Tatort übereinstimmte. An der Leiche war keine Fremd-DNA gefunden worden. Und auf den Aufzeichnungen der Verkehrskameras war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Sie brauchten dringend ein möglichst vollständiges Bewegungsprofil des Ermordeten: Wer hatte den Psychologen wann zuletzt gesehen, wo hatte er sich vermehrt aufgehalten? Das würde sie hoffentlich weiterbringen.

Als Hannes Geräusche von nebenan hörte, schaute er erwartungsvoll durch die große Glasscheibe, die sein Büro von dem der Kollegen trennte. Die beiden zogen ihre warmen Jacken aus, bevor Pia zu ihrem Chef hinüberging.

»Und?«, fragte Hannes gespannt. »Was habt ihr über Flachsbarth rausgekriegt?«

»Nicht viel.« Die erfahrene Kommissarin lehnte sich gegen die Schreibtischkante. »Er lebte seit seiner Scheidung vor beinah 20 Jahren zurückgezogen, hatte anscheinend nicht viele Freunde. Die Nachbarn beschreiben ihn als ruhigen, unauffälligen Mann.«

Martin kam mit zwei Bechern Kaffee dazu und reichte einen davon an die etwas ältere Kollegin weiter. Ernst schaute er anschließend seinen Chef an.

»Die alte Dame, die über ihm wohnt, hat in der letzten Zeit öfter einen weißen Lieferwagen bemerkt, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Der Fahrer ist nach ihren Worten immer im Wagen geblieben. Seit dem Leichenfund ist er nicht wieder aufgetaucht.«

»Ihr glaubt, dass Flachsbarth observiert wurde?«

»Ist jedenfalls nicht auszuschließen. Leider konnte sich die Frau nicht an das Kennzeichen erinnern. Das Modell konnte sie auch nicht genau beschreiben. Allerdings ist sie sicher, dass an dem Transporter kein Firmenlogo angebracht war.«

»Solche Fahrzeuge gibt es vermutlich massenhaft: Firmenwagen, Paketdienste, zum Camper umgebaute Lieferwagen«, resümierte ihr Vorgesetzter wenig begeistert. »Hoffentlich bringt uns die Befragung von Flachsbarths ehemaligen Kollegen weiter.« Er warf einen Blick auf die große Wanduhr. »Aber nicht mehr heute. Erfahrungsgemäß arbeiten die Behörden freitags nur bis mittags.«

»Verbrecher machen aber keinen Feierabend«, sagte Pia. »Wenn das wirklich eine Serie werden sollte, schlägt der Killer wahrscheinlich bald wieder zu.«

»Mal den Teufel nicht an die Wand.«

Uhlenbrock

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