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Kapitel 8

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Charlotte war beunruhigt – seit Hannes vor zwei Tagen Philipp aufgesucht hatte. Die Tatsache, dass der Freund kaum ein privates Wort mit ihr gewechselt hatte und gegangen war, ohne sich von ihr zu verabschieden, ließ nur einen Schluss zu: Es gab Neuigkeiten, die sie auf keinen Fall erfahren sollte. Er war ihr aus dem Weg gegangen, um keine neugierigen Fragen zu provozieren. Da Philipp als Profiler darüber informiert worden war, schien es den Täter unmittelbar zu betreffen. War er womöglich viel gefährlicher als angenommen? Die Ermittlungen könnten Zusammenhänge ergeben haben, die weitere Opfer aus dem gemeinsamen beruflichen Umfeld der beiden Toten befürchten ließen. Das ahnte sie schließlich seit dem zweiten Leichenfund. Von diesem Zeitpunkt an hielt sie es für möglich, dass Annelieses Kontakt zu beiden Männern eine Rolle spielen könnte und sie dadurch in Gefahr war.

Charlotte hätte sich gern mit jemandem darüber ausgetauscht, aber mit wem? Mit Anneliese konnte sie nicht darüber reden, ohne die Freundin zu beunruhigen. Philipp hatte sie gesagt, sie würde sich raushalten. Conrad würde in Panik geraten, wüsste er, in welcher Gefahr seine Liesel eventuell schwebte. Ihre Mitbewohner Elisabeth und Albert konnte sie damit nicht belasten. Die ehemaligen Kollegen im Präsidium kämen ebenso wenig infrage wie die Staatsanwältin. Familie und sonstige Freunde überhaupt nicht. Ihr fiel nur eine Person ein, die außerdem verschwiegen war.

Ihren Mitbewohnern sagte Charlotte, sie hätte etwas zu erledigen und würde zum Mittagessen nicht zu Hause sein. Das war zwar ungewöhnlich, aber weder Philipp noch die anderen stellten Fragen. Ihre Wohngemeinschaft funktionierte unter anderem deshalb so gut, weil sie nicht ständig beieinander hockten, sondern gegenseitig ihre Freiräume respektierten.

Sie betrat das Institut für Rechtsmedizin nicht zum ersten Mal. Dennoch verspürte sie wie bei den wenigen vorherigen Besuchen ein beklemmendes Gefühl. Neben DNA-Analysen, toxikologischen Untersuchungen oder der Begutachtung von Missbrauchsopfern wurden hier durch Gewaltverbrechen zu Tode Gekommene obduziert.

Im Eingangsbereich roch es nach Desinfektionsmitteln. Von einer jungen Ärztin erfuhr Charlotte, in welchem der vier Obduktionssäle sie den Freund finden würde.

Sie ging ein Stück über den Flur. Langsam, bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als könnte ein Geräusch ihrer Absätze die Ruhe der Toten stören. Vor einer breiten Edelstahltür blieb sie stehen und drückte auf den Öffnungsschalter. Mit leisem Summen glitt die glänzende Schiebetür zur Seite. Die Besucherin wurde im Vorraum der Obduktionssäle von kühler Luft und einem aufdringlich süßlichen Geruch empfangen. An den weiß gefliesten Wänden standen auf einer Seite Metallregale, auf der anderen befanden sich Kühlfächer, in denen die Leichen da­rauf warteten, dass ein Rechtsmediziner ihre Todesursache ans Licht brächte. Ein Mann im OP-Kittel kam mit einem Gefäß herein, das mit einem grünen Tuch abgedeckt war. Charlotte bat ihn, Dr. Fleischmann zu sagen, dass sie ihn sprechen wollte. Danach verließ sie fluchtartig den Vorraum, um im Flur zu warten.

Nach der Autopsie riss der Rechtsmediziner die dünne, mit Blutspritzern übersäte Einwegschürze herunter und streifte die schnittfesten Handschuhe ab. Er wusch sich gerade die Hände, als sein Kollege zu ihm ans Waschbecken trat.

»Draußen wartet eine Frau auf dich.«

Horst deutete zum Obduktionstisch, auf dem eine männliche Leiche lag.

»Eine Angehörige?«

»Eher nicht.«

»Hat sie nicht gesagt, wie sie heißt?«

»Ich habe ihren Namen nicht richtig verstanden. Ist wohl privat.«

Der Rechtsmediziner runzelte die Stirn.

»Das kann nicht sein. Wie sieht sie denn aus?«

»Groß, blond, sehr attraktiv. Himmlisch, würde ich sagen – und ein bisschen blass um die Nase.«

Der Gesichtsausdruck von Horst Fleischmann wechselte von ungläubig zu erfreut. Es gab nur eine Frau in seinem Freundeskreis, auf die diese Beschreibung zutraf – und zu der aufgrund ihres Nachnamens die Bezeichnung »himmlisch« passte. Er versetzte dem Jüngeren einen leichten Schlag vor die Brust. Offenbar hatte der Kollege ihn an der Nase herumgeführt.

»Du hast den Namen dieser Dame genau verstanden.«

»Du kennst sie also. Lass sie nicht warten, sonst verschwindet sie vielleicht wie eine Sternschnuppe am Horizont.«

Mit Papiertüchern trocknete Horst nachdenklich seine Hände. Charlotte kam selten ins Institut – obwohl sie sich länger kannten als die Freunde im Präsidium. Er erinnerte sich genau an ihre erste Begegnung. Damals hatte er knapp die Hälfte seines derzeitigen Gewichts auf die Waage gebracht und über volles Haupthaar verfügt. Charlottes Mann war ein befreundeter Kollege, mit dem er zusammen im Vinzenzkrankenhaus gearbeitet hatte. Maximilian Stern hatte ihn irgendwann einmal zum traditionellen Tiergartenfest eingeladen, das er mit seiner Familie jedes Jahr am zweiten Samstag im Oktober besuchte. Dieses Fest war ein Dankeschön für die vielen Eicheln und Kastanien, die Kinder für die Tiergartenbewohner sammelten. Sie bekamen dafür eine Baumscheibe als Eintrittskarte. Horst hatte das Bild vor Augen, wie Charlotte damals auf ihn zukam: an jeder Hand ein Kind und ein fröhliches Lächeln im Gesicht. Diese Mischung aus Wärme, Intelligenz und Humor hatte ihn sofort fasziniert. Sie besaß eine Ausstrahlung, der er sich nicht entziehen konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich Hals über Kopf verliebt. Gleichzeitig wurde ihm die Aussichtslosigkeit dieser Empfindungen klar. Man musste Charlotte nur mit ihrem Mann zusammen sehen, um zu wissen, dass jeder Versuch, sie für sich zu gewinnen, zum Scheitern verurteilt war. Maximilians Tod vor etwa drei Jahren hatte nichts daran geändert. Horst liebte Charlotte seit jeher in der Stille. Dieses Gefühl war für ihn so selbstverständlich geworden wie das Atmen. Die Baumscheibe, die ihre kleine Tochter für das Sammeln der Herbstfrüchte erhalten und ihm geschenkt hatte, besaß er immer noch.

Der Rechtsmediziner streifte einen weißen Arztkittel über, bevor er auf den Flur trat.

Charlotte hörte das leise Quietschen seiner Gummisohlen und wandte sich schuldbewusst vom Fenster um.

»Entschuldige den Überfall. Ich hätte vorher anrufen sollen.«

»Kein Problem.« Forschend musterte er sie. »Du kommst nicht oft hierher, Charlotte.« Er war der Einzige aus dem Kreis, der sie selten Charly nannte. »Was ist passiert?«

»Nichts – jedenfalls bislang. Das ist etwas kompliziert. Darf ich dich zum Mittagessen einladen? Oder kannst du hier nicht weg?«

»Gib mir ein paar Minuten zum Umziehen.«

Sie legte kurz die Hand auf seinen Arm.

»Danke, Horst. Ich warte draußen.«

Verständnisvoll schaute er ihr nach. Niemand kam wirklich gern ins Rechtsmedizinische Institut. Für ihn gehörte der Geruch des Todes längst zu seinem Alltag. Besucher taten sich schwer damit.

Bald darauf saßen sie in Charlottes schwarzem Golf. Da Horst erst am Nachmittag den nächsten Termin hatte, konnten sie sich Zeit lassen. Deshalb fuhren sie zu einem von Charlottes Lieblingsrestaurants, dem idyllisch am Maschsee gelegenen Pier 51.

Sie nahmen an einem freien Fenstertisch Platz und bestellten beide ein Fischgericht. Charlotte entschied sich für Strozzapreti mit Champignon-Lauchsauce und geräucherter Forelle, Horst wählte das Schwertfischsteak mit Knoblauch und Kräutern. Als sie die Vorspeise – Blumenkohl-Currysuppe mit Hähnchenstreifen – genossen hatten und auf das Hauptgericht warteten, schaute der Rechtsmediziner sein Gegenüber erwartungsvoll an.

»Nun erzähl mal, was du auf dem Herzen hast.«

»Es geht um den Toten aus dem Georgengarten und um den aus der Aegidienkirche …«, begann sie, wurde aber sofort von ihm unterbrochen.

»Drüber kann und will ich nicht mit dir sprechen.«

»Ich weiß, Frau Dr. Pauli hat euch zum Schweigen verdonnert.«

»Bei aller Liebe, erwartest du etwa, dass ich mich darüber hinwegsetze?«

»Selbstverständlich nicht.« Sie berichtete zunächst, was sie über den Fall mitbekommen hatte. Horst hörte ihr mit unverkennbar wachsendem Erstaunen zu.

»Woher hast du diese ganzen Infos? Von uns weißt du nur, was am Stammtisch geredet wurde. Philipp hat dir garantiert nichts erzählt – und von dem Brief wird dir erst recht keiner was gesagt haben.«

»Das meiste habe ich mir nach meinen eigenen Wahrnehmungen zusammengereimt – dazu ein bisschen Logik und Intuition.«

»Wie machst du das bloß?«, fragte er sichtlich beeindruckt. »Man könnte meinen, dass du zum Ermittlungsteam gehörst. Allerdings weiß ich nicht, wie ich dir helfen kann.«

»Ich brauche deinen Rat. Es geht um Anneliese. Sie hatte nicht nur beruflich mit beiden Opfern zu tun. Mit Rugard war sie sogar eine Zeit lang liiert. Hältst du es für möglich, dass sie in Gefahr ist?«

»Nur weil sie die beiden kannte? Die hatten mit zahlreichen anderen Personen Kontakt – beruflich wie privat.«

»Und wenn mehrere davon sowohl untereinander als auch mit einem einzigen ehemaligen Heimbewohner in Verbindung stehen?«

»Ist das nicht ein bisschen zu weit hergeholt?«

Hilflos zuckte Charlotte die Schultern.

»Ich habe über viele Möglichkeiten nachgedacht. Es könnte sein, dass sie alle irgendwie an der Heimunterbringung eines Kindes beteiligt waren. Vielleicht wurde es aus irgendwelchen Gründen aus der Familie genommen, hat sehr darunter gelitten und will sich im Erwachsenenalter dafür rächen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Beide Opfer waren bereits einige Jahre im Ruhestand. Soviel ich weiß, haben sie seitdem ehrenamtlich für das Diakonische Werk gearbeitet, auch in der Obdachlosenhilfe oder mit psychisch Kranken. Vielleicht sind sie dort jemandem auf die Füße getreten.«

»Mmm.« Sollte der Täter aus diesem Bereich stammen, war ihre Angst um Anneliese unbegründet. Nachdenklich ließ sie den Blick aus dem Fenster über das Wasser schweifen. Der See lag völlig ruhig. Einige Schwäne und Enten dümpelten in Ufernähe. »Du hast vorhin einen Brief erwähnt. Was ist damit?«

»Ach, das war nichts Wichtiges. Das habe ich nur am Rande mitbekommen.«

Charlotte glaubte ihm kein Wort. Sie wollte ihn aber nicht in einen Konflikt bringen.

»Nach deiner Meinung ist es also Zufall, dass Anneliese die beiden Toten kannte.«

Nachdrücklich nickte der Rechtsmediziner.

»Mach dir nicht immer so viele Sorgen. Deine Freundin hat sicher nichts zu befürchten.«

Während des Essens zerstreute er Charlottes letzte Bedenken.

Später brachte sie den Freund zum Institut zurück. Auf dem Heimweg dachte sie über das Gespräch mit Horst nach. Es hatte ihr gutgetan – und sie beruhigt. Wahrscheinlich neigte sie dazu, Gespenster zu sehen.

Als sie heimkam, war es still im Haus. Einige ihrer Mitbewohner zogen sich nach dem Mittagessen gern in ihre Räume zurück, um ein wenig zu ruhen. Philipp zählte nicht dazu. Ihr war klar, wo sie ihn suchen musste. Da das Profil des Doppelmörders so schnell wie möglich gebraucht würde, vermutete sie den Professor in seinem Arbeitszimmer. Sie durchquerte den Wohnraum und steuerte auf die offen stehende Verbindungstür zu. Als sie näher kam, hörte sie Philipps Stimme. Offenbar telefonierte er. Um nicht zu stören, wandte sich Charlotte ab. Im gleichen Moment schnappte sie Wortfetzen auf:

»Killer … verdammt gefährlich …«

Abrupt blieb sie stehen. Einen Moment lang war nur Papierrascheln zu hören.

»Ich kann Ihnen nur raten, den Mann unter Polizeischutz zu stellen«, ertönte Philipps eindringliche Stimme. »Der ›Regisseur‹ hat ihm praktisch einen Auftrag erteilt, den er nicht erfüllt hat. Darüber wird er sehr wütend sein. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich dafür rächen will.«

Unbemerkt und sehr nachdenklich verließ Charlotte den Raum.

Uhlenbrock

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