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Kapitel neun

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Mit jedem neuen Tag auf Korfu fühlte ich mich stärker. Die Wunden der Vergangenheit schlossen sich und ich begann mich wieder völlig neu zu entdecken. Unter der Verkleidung, die ich all die Jahre getragen hatte, kam die alte Elisabeth zum Vorschein. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie überhaupt noch da war, dass sie sich noch einmal heraustrauen würde. Doch da war sie, und es fühlte sich gut an mit ihr. Sie hatte Träume, Wünsche, Ziele. Und das Beste war: Sie konnte genießen. Diese Fähigkeit nach so kurzer Zeit der Veränderung wiedererlangt zu haben, war unbeschreiblich.

Ich verbrachte den Abend wie so oft mit Barnabas am Strand. Bina war im Haus geblieben, um mit dem Abbeizen der Theke fertig zu werden. Das war ihr wichtig. Und das gefiel mir. Es zeigte mir, dass in Bina ein Arbeitstier steckte, das nur darauf gewartet hatte, herausgelassen zu werden. Für die richtige Sache, versteht sich. Eine Sache, für die es sich lohnte.

Mit nackten Füßen schlenderte ich nah am Wasser entlang und sog die salzige Luft tief in mich ein. Barnabas hopste neben mir her, den Kopf dem Wind entgegengereckt. Abends war der Strand fast menschenleer. Wir hatten ihn die meiste Zeit für uns allein. Und es fühlte sich an, als wäre es unser persönliches Stückchen Paradies. Ich hielt inne, drehte mich dem offenen Meer zu und beobachtete den Sonnenuntergang. Der Himmel wurde von sanften Rottönen dominiert. Es war umwerfend schön. Barnabas, ich und der Wind, der sanft an meinem schulterlangen Haar zerrte. Das Rauschen des Meeres beherrschte den Moment. Ich schloss meine Augen und ließ den Augenblick voll auf mich wirken.

Dann klingelte mein Handy. Ich atmete tief ein, bevor ich es aus der Hosentasche zog und den Anruf entgegennahm, ohne vorher auf die Nummer zu sehen.

»Hallo?«, meldete ich mich.

»Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen?«

Mein Stimmungsbarometer fiel ruckartig in den Keller. Denn es war Paul.

»Du hast meine Star Wars-Sammelfiguren auf eBay verschleudert?«

Er hatte es also gemerkt. Ich presste belustigt die Lippen aufeinander.

»Ist dir eigentlich bewusst, was sie mir bedeutet haben?«

Die lächerlichen Figuren hatte er seit der Kindheit besessen und nie auch nur eine davon aus ihrer Verpackung geholt. Es hatte also immer eine Plastikschicht zwischen ihnen und Paul gestanden.

»Das hätte ich dir nicht zugetraut!«, keifte er, als wäre ich diejenige gewesen, die ihn jahrelang hintergangen hatte. Er schimpfte weiter, aber meine Gedanken wurden mit den Wellen davongespült. Ich fühlte mich auf merkwürdige Weise mit seinen Spielfiguren verbunden. Ja, Prinzessin Leia und ich haben ein Schicksal geteilt, denn Paul hatte uns beide verloren und wir waren an einem besseren Ort. In Gegenwart von Menschen, die uns mehr zu schätzen wussten. Nach dem Tod von Carrie Fisher hatte die Leia-Figur am meisten Geld erzielt. Ich war mir sicher, dass der Käufer sie in Ehren halten würde. Für ihn würde sie immer etwas Besonderes sein.

»Hörst du mir überhaupt zu, Elisabeth?«

Ich musste zugeben, dass ich schon nach der ersten Beschimpfung nicht mehr hingehört hatte.

»Elisabeth?«

»Was willst du eigentlich von mir, Paul? Du hast das Schreiben selbst aufgesetzt, aus dem hervorgeht, dass das Haus und alles, was darin ist, mir gehört. Also …«

Für eine halbe Minute blieb es still. Vermutlich hatte er dieses winzige Detail vergessen. Verständlich, wenn man eine Gütertrennung festlegt, obwohl man vor lauter Schmetterlingen im Bauch nicht richtig denken kann.

»Noch ist die Scheidung nicht durch«, drohte er.

»Was soll das denn jetzt heißen?«

»Das wirst du schon sehen«, knurrte er.

»Du kannst mir nicht drohen, Paul!« Ich blieb ruhig.

»Und ob ich das kann. Ich bin wirklich froh, dass unsere Ehe keine Kinder hervorgebracht hat. Das macht die Sache leichter.«

Ich spürte einen kleinen Stich im Herzen. Er hatte mich absichtlich an meiner Schwachstelle getroffen.

»Wegen des Hauses wird noch mal verhandelt«, tönte er weiter. »Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«

»Regele das mit Peer. Ich bin raus!«

Das Haus hatte längst feste Interessenten und Peer die notwendigen Vollmachten von mir, um es zu verkaufen. Paul wusste das. Und ich wusste, dass er mich nur einschüchtern wollte. Denn jetzt hatte er nichts mehr gegen mich in der Hand.

»Wir sprechen uns noch!« Wieder eine Drohung.

»Leb wohl Paul!«, säuselte ich in den Hörer, brachte das Handy in Stellung und warf es in die Tiefen des Ionischen Meers, wie zuvor schon meinen Ehering. Ich war frei und dieses neu gewonnene Gefühl würde ich mir auch nicht mehr nehmen lassen.

»Du hast dein Handy ins Meer geschmissen?« Bina stellte mir diese Frage jetzt schon das dritte Mal.

»Ja. Was ist schon dabei? Paul kann mich jetzt nicht mehr nerven. Der Vertrag läuft eh bald aus. Damit bin ich für alle aus meinem alten Leben unerreichbar geworden.« Ich strahlte, als ich das sagte, denn mir wurde klar, was das bedeutete. »Ich finde, dieser Schritt war nötig.«

»Klar doch.« Bina schien sich dabei nicht so sicher zu sein. Aber, hättest du dir nicht einfach eine neue Nummer besorgen können?«

»Bina, auf dieser Insel ist es anders als in Köln. Hier hat noch längst nicht jeder ein Mobiltelefon. Hier ist die Welt noch in Ordnung und alles funktioniert ohne diesen ganzen modernen Quatsch.«

Bina war eins mit ihrem Handy, weshalb sie meinen Standpunkt nicht ganz nachvollziehen konnte.

»Die Menschen hier sehen noch das, was um sie herum ist. Sie leben und genießen. Selbst die Kinder wachsen unbeschwerter auf, ohne Videospiele und Handys. Sie wissen sich anders zu beschäftigen.«

»Indem sie sich einem Eselmafioso anschließen und die Autos von Touristen stehlen?«

»Aber nein. So was passiert auch bei uns in Deutschland.«

Bina runzelte die Stirn. »Also mir ist vorher noch kein krimineller Esel begegnet.«

Ich schüttelte den Kopf. »Was hast du nur immer mit dem Esel? Ich glaube nach wie vor, dass er mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hat.«

»Du bist einfach zu gutgläubig, Schwesterchen.«

Auf einmal hatte sie einen starren Blick. »Ich werde diesen Esel wiedersehen und dann kann er sich warm anziehen.«

Ich hob verdattert die Brauen. »Aha.«

Sie tunkte einen Pinsel in den Parkettlack und verstrich ihn auf der Thekenaußenseite. Die Theke war das Erste, das wir vom Inventar in Angriff genommen hatten, und sie sah toll aus. Wir hatten beschlossen sie in ihren ursprünglichen Zustand zu bringen. Ein schönes Akazienholz, naturbelassen. Barnabas krabbelte in sein Körbchen, das wir daneben aufgestellt hatten. Mit müden Augen sah er uns zu, wie wir die Theke mit der Schutzschicht ummantelten.

»Was hat er eigentlich gesagt?«, wollte Bina nach kurzer Zeit wissen.

»Paul? Och, nichts Wichtiges.«

»Das hat er nie.« Bina strich sorgfältig über die feinen Rillen im Holz.

Ich nickte leicht. Insgeheim hasste ich mich dafür, dass er es geschafft hatte, mich zu verletzen, indem er sagte, dass er froh darüber war, dass wir kinderlos geblieben waren. Ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, beschäftigten mich seine Worte. Und ich verfluchte ihn dafür. Natürlich hatte ich nicht von heute auf morgen alle Emotionen uns gegenüber auslöschen können. Und mit seiner Aussage hatte er genau ein solches, vermeintlich tief vergrabenes Gefühl in mir geweckt. Obwohl er mich sitzen gelassen und betrogen hatte, hielt dieser verkorkste Teil von mir an ihm fest. Ich fragte mich, warum. War es tatsächlich Liebe oder einfach nur Gewohnheit? Hatte ich mich so sehr in unserer Ehelüge gesehen, dass ich sie irgendwann für wahr gehalten hatte? Ich zog einen der alten Barhocker an mich heran und setzte mich. Wieder einmal war ich so in meine Gedanken vertieft, dass ich zunächst nicht merkte, dass Bina zu Pinseln aufgehört hatte und mich aufmerksam beäugte.

»Lass das, Lissi«, sagte sie sanft. »Er ist es nicht wert, dass du ihm nachtrauerst.«

Verwundert darüber, dass Bina offensichtlich genau wusste, was in mir vorging, schaute ich sie an.

»Es war gut, dass du das Handy ins Meer geworfen hast«, fügte sie mit einem schiefen Lächeln bei. »Sieh es als endgültigen Abschluss.«

Ich nickte seufzend.

»Wir besorgen dir ein neues. Mit einer neuen Nummer, die nur die Menschen bekommen, die sie verdienen.«

Ich musste lächeln. »Ja, das machen wir.«

»Oh ja!« Bina strich mit der Hand über die glatte Oberfläche der Theke, dort wo der Lack bereits getrocknet war. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich mein Herz von zehn Jahren Paul erholt hatte. Aber das musste ich ihm auch zugestehen. Es war immer ein zartes, kleines Ding gewesen, das sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als eine heile Welt. Die war nun erschüttert. Doch die Zeit würde alles richten. Das hatte Oma Inge immer gesagt. Also tat ich, was ich immer getan hatte, und glaubte ihr. Selbst fünfzehn Jahre nach ihrem Tod blieb sie für mich ein Vorbild. Ich war nie einem weiseren Menschen begegnet.

Die Tage vergingen wie im Flug und kaum dass wir uns versehen hatten, war der Juni angebrochen. Bina hatte den Jon Snow-Kalender im Gastraum aufgehängt, den unsere Mutter ihr zum Jahreswechsel geschenkt hatte. Nicht, weil Bina so auf Game of Thrones stand, sondern weil unsere Mutter für Jon Snow schwärmte. Bina glaubte, dass diese den Kalender eigentlich lieber selbst behalten wollte, und nur darauf spekuliert hatte, dass Bina ihn ablehnen würde. Das allein war ausschlaggebend. Deswegen hatte Bina das Geschenk behalten und es sogar mit auf die Insel gebracht. Um mich zu motivieren – so ihre Aussage. Das Tapezieren fiel tatsächlich leichter, wenn der König des Nordens einem dabei zusah. Zumindest mir. Jon Snow – was für ein Kerl! Obwohl er für meinen Geschmack etwas zu klein geraten war, besaß er dennoch alles, was das Herz einer Frau begehrte: schneidiges Aussehen, eine üppige Wallemähne, Courage und den ultimativen Welpenblick. Schade eigentlich, dass er nicht echt war. Genauso wenig wie Franzl, von dem es keine Kalender gab, aber das machte auch keinen Unterschied. Nach einem harten Tag auf unserer Baustelle starrte ich mich an Jon Snow fest, als plötzlich etwas Seltsames geschah: Ohne dass ich es wollte, schob sich plötzlich das Gesicht des unnahbaren Griechen mit den grünen Augen über die breiten Schultern auf dem Bild. Mir wurde furchtbar heiß. Ich bin wohl schon übermüdet, dachte ich und hastete die Treppe ins Schlafzimmer hinauf.

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