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Kapitel zehn

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Am nächsten Morgen war alles wieder so wie es sein sollte. Doch ich kam nicht umhin, dem Junikalenderblatt einen Blick zuzuwerfen, während ich den Deckel der Farbdose zudrückte.

»Siehst du? Ich hab doch gesagt, dass es toll aussehen wird.« Bina stand im Türrahmen und grinste über das ganze Gesicht. Zugegeben hatte sie mit der Idee dem Gästebereich des Cafés einen lilafarbenen Anstrich zu verpassen genau richtiggelegen. Der Raum wirkte sofort gemütlich.

»Passt perfekt.« Ich nickte anerkennend.

Bina kam an meine Seite, legte mir den Arm um die Schulter und seufzte. »Na, Schwesterherz, ich hätte wohl doch Raumausstatterin werden sollen, was?«

»Wer sagt denn, dass du das nicht immer noch kannst?«

»Stimmt!«

Ich lehnte den Kopf gegen Binas. Zusammen starrten wir auf die kahle, frisch gestrichene Wand, als wäre sie das Sinnbild unseres Neuanfangs.

»Jetzt haben wir uns aber eine Pause verdient.« Meine Schwester ging hinter die Theke, schlug die Abdeckplane zurück und holte eine Flasche Rotwein darunter hervor.

»Ich dachte eher an ein Frühstück. Kaffee, Brötchen, so was in der Art.« Ihr lockerer Lebensstil rief in mir automatisch immer irgendeine Kritik wach. Ich war es nicht gewohnt, zwanglos in den Tag zu starten. Während meiner Ehe mit Paul hatte es für jeden Wochentag einen anderen Smoothie gegeben. Für ihn war das Frühstück die wichtigste Mahlzeit gewesen. Ohne dass ich es wollte, musste ich an die Liste an unserem Kühlschrank denken, die er regelmäßig erweitert hatte. Die Rezepte darauf hatte er nach Farben sortiert und jedem Wochentag eine davon zugeordnet. Heute war Dienstag und dienstags gab es Grün – eine Mischung aus Blattspinat, Avocado und Pinienkernen. Unwillkürlich verzog ich das Gesicht. Das Zeug hatte ich immer nur ihm zuliebe hinuntergewürgt.

»Gib schon her!« Ich nahm den gefüllten Pappbecher, den mir Bina hinhielt, und trank ihn auf ex. Auf einmal fühlte ich mich unglaublich erleichtert.

Bina sah mich mit großen Augen an. »Du gefällst mir immer besser!«

Zuerst war ich irritiert, aber dann wusste ich, was sie meinte. Bina und ich hatten früher immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt. Mit Paul war ich jedoch zu einem schnöden Liebchen mutiert, das sich sämtlichen Spaß am Leben entzogen hatte. Wenn ich so darüber nachdachte, auf was ich alles verzichtet hatte, nur um ihm zu gefallen, wurde ich wütend auf mich selbst. Ich war sechsunddreißig und hatte wertvolle Zeit an einen Mann verschenkt, der mich nicht zu schätzen wusste. Alles, was ich für ihn getan hatte, war umsonst gewesen. Von ihm fühlte ich mich betrogen und von Anja, meiner ältesten Freundin, hintergangen. Das tat immer noch weh. Bina entging meine plötzliche Nachdenklichkeit nicht. Seit der Trennung überkam sie mich manchmal unerwartet. Wie eine Welle ebbte sie meist kurz darauf wieder ab, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder über mich zu kommen.

»Noch was?« Bina schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Entschlossen hielt ich ihr meinen Becher hin.

»Das ist die richtige Einstellung.« Lachend schenkte sie mir nach.

Während sie auch ihren Becher wieder auffüllte, musterte ich sie ernst. »War ich wirklich so schlimm?«

Bina blickte schnaufend auf. »Die Wahrheit?«

Ich nickte.

»Wenn wir nicht verwandt gewesen wären, hätte ich dich irgendwann mit deinem Einmachobst erschlagen.«

Die Wahrheit tat weh. Ich holte tief Luft.

»Gleich, nachdem ich Paul in seinem Tomatensaft ertränkt hätte«, legte Bina beiläufig nach.

Wie sehr ich mich in der Rolle der perfekten Hausfrau verloren hatte, war mir nicht klar gewesen. Natürlich hatte ich gemerkt, dass Bina uns immer seltener besuchte. Auch dass sie mich nicht mehr angerufen hatte, war mir nicht entgangen. Damals wollte ich es aber einfach nicht auf die Frau beziehen, zu der ich geworden war. Ich flüchtete mich in eine heile Welt. Von der ich jetzt wusste, dass sie nie existiert hatte.

»Das tut mir leid«, hauchte ich. »Warum hast du nie versucht mit mir zu reden?«

Sie lehnte sich gegen die Theke und schüttelte den Kopf. »Hättest du es denn hören wollen?«

»Vermutlich nicht.«

Bina nickte bedächtig.

Ich war froh, mit ihr hergekommen zu sein. Wir waren erst sechs Wochen auf Korfu und doch standen wir uns wieder näher denn je. Dieser Ort hatte es geschafft, die Jahre aufzufangen, in denen wir uns fremd geworden waren. Nun kam es mir so vor, als wäre seit unserer Kindheit keine Zeit vergangen. Als hätte sich nichts verändert.

»Ich danke dir!«, sprudelte es aus mir heraus.

»Ach, wofür denn?«

Ich ließ meinen Blick durch das halbfertig gestrichene Lokal gleiten. »Für das alles hier. Du hast mir geholfen zu mir zurückzufinden.«

»Papperlapapp. Das war doch selbstverständlich. Du würdest dasselbe für mich tun.«

Ich spürte wie mir, bei dem Versuch die Tränen zurückzuhalten, die Hitze ins Gesicht stieg.

Meine Schwester betrachtete mich schadenfroh. »Ich hab vergessen, wie schnell du beschwipst bist.«

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und schluchzte.

»Jaja, der Wein spült so manches an die Oberfläche.«

»Ich fühl mich super!«, gackerte ich, jetzt, nachdem ich einen Pegel erreicht hatte, der mich allmählich über die Melancholie hinausbrachte. Bina füllte erneut ihren Becher und führte ihn an die Lippen.

Auf einmal klopfte es an der Tür. Ich zuckte verschreckt zusammen. »Wer kann das sein?« Hicksend zerknüllte ich meinen Becher in der Hand und warf ihn in die Mülltüte am Boden.

»Ich geh schon.« Bina entriegelte das Schloss, ließ jedoch die Kette vor. Sie steckte den Kopf durch den schmalen Türspalt, sodass ich nicht erkennen konnte, wer uns besuchte.

»Ja, bitte?«

Ich hörte einen Mann antworten, konnte jedoch nicht verstehen, was er sagte.

»Kleinen Moment.« Bina knallte ihm die Tür vor der Nase zu und schaute mich über ihre Schulter hinweg erstaunt an.

»Was ist denn?«

»Es ist der Typ mit dem Jeep.«

»Der vom Strand?«

Bina nickte verdattert, dann löste sie die Kette vor dem Schloss und machte die Tür auf. Ich war überrascht, ihn wiederzusehen. An dem Tag, an dem er uns nach dem Leihwagendiebstahl geholfen hatte, hatten wir weder Namen noch Adressen ausgetauscht. Und das hatte ich auch bei unserem darauffolgenden Treffen versäumt. Binas und mein Schock wegen des hinterlistigen Täuschungsmanövers dieser Teenager und ihres Esels war einfach zu tief gewesen. Und der Vorfall am Strand hatte uns nicht weniger erschreckt. Wie also hatte er uns gefunden? Dann fiel mir ein, dass wir uns auf einer Insel befanden. Daran hatte er uns bereits mehrmals erinnert. Zwei alleinstehende Frauen ausfindig zu machen, die sich eine neue Existenz aufbauten, gestaltete sich hier wahrscheinlich einfacher als auf dem Festland.

Der Mann kam rein und beäugte uns ernst aus seinen großen, grünen Augen. Genauso hatte ich ihn von unserer letzten Begegnung in Erinnerung. Von draußen kam Wind herein, der ihm das dunkle Haar ins Gesicht wehte.

»Guten Morgen!« Ich machte den Anfang, da weder Bina noch er eine Begrüßung herausbrachten.

»Morgen«, grummelte er und stemmte die Hände in die Hüfte.

Ich drängte mich vor Bina, die stocksteif dastand, und unterdrückte meinen aufkommenden Schluckauf.

Der Mann räusperte sich und betrat die milchige Plastikfolie, die den hellen Steinboden während unserer Renovierungsarbeiten schützte.

»Das ist ja eine Überraschung!« Ich schloss die Tür hinter ihm, um den Wind, der die Promenade entlangfegte, auszusperren.

»Wie schön, dass Sie uns gefunden haben. Ich weiß gar nicht, ob wir uns richtig für Ihre Hilfe bedankt haben. An dem Tag am Strand ging wieder alles so schnell. Also, ich bin Elisabeth Schaaf.« Hicksend hielt ich ihm die Hand entgegen, doch er sah darüber hinweg. Stattdessen begutachtete er auffällig das, was einmal unser kleines Café werden sollte. Sein Blick blieb an der halb geleerten Rotweinflasche haften, die auf der Theke stand. Verunsichert ließ ich meine Hand sinken und führte sie unauffällig hinter den Rücken. »Das ist meine Schwester, Bina.« Ich deutete mit dem Kinn zu ihr. Bina war ungewöhnlich ruhig. Ernsten Menschen gegenüber hatte sie von Natur aus eine gewisse Skepsis. Wahrscheinlich hielt sie ihn für widernatürlich.

Der Mann nickte knapp. »Ilias. Ilias Tanopolis.«

Bina musterte ihn mit schmalen Augen. »Woher wussten Sie, wo wir sind?«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus.

Bei Ilias deutete sich eine tiefe Stirnfalte ab. »Wir sind hier auf einer Insel.«

»Es spricht sich eben alles herum«, sagte ich schnell, um das Gespräch ein wenig aufzulockern. »Das war in Köln auch nicht anders.«

»Außerdem sind wir Nachbarn«, fügte er ernüchternd hinzu, ohne auf meinen letzten Satz einzugehen.

Bina und ich tauschten erstaunte Blicke aus.

»Mir gehört das Restaurant gleich nebenan«, erklärte er weiter.

»Wir dachten, es sei geschlossen, so wie die meisten der Läden am Ende dieser Straße.« Binas Ton war jetzt nicht mehr ganz so bissig.

Ilias sah sie finster an. »Nicht geschlossen. Wir hatten Urlaub. Außerdem ist gerade noch außerhalb der Saison.«

Er ging einige Schritte und blieb vor der Wand mit der noch feuchten Farbe stehen. »Was genau soll das hier werden, wenn es fertig ist?«

»Ein Kaffeehaus. Im Wiener Stil«, verkündete ich stolz.

»Ein Café?« Er drehte sich mit einem amüsierten Gesichtsausdruck zu mir um.

»Ja!«

»Wissen Sie eigentlich, wie viele Gastronomiebetriebe Korfu hat?«

»Einige?«, schätzte ich.

Er betrachtete mich mit versteinerter Miene. »Wann wollen Sie öffnen?«

»So schnell wie möglich. In vier Wochen – dann müssten wir mit allen Arbeiten fertig sein. Zeit ist Geld. So sagt man doch.« Ich lächelte verunsichert.

»Ach, so bald schon?« Er sog hörbar Luft ein. »Dann haben Sie bestimmt schon alle Zulassungen?«

Ich wechselte einen ratlosen Blick mit Bina.

»Sie brauchen eine Genehmigung für Ihr Geschäft, Gesundheitszeugnisse und so weiter. Hier bei uns ist das gar nicht so einfach, allen Anforderungen zu entsprechen. Vieles ist anders als bei Ihnen in Deutschland.«

Mein Schluckauf war dem Schreck gewichen. Bei all den Bemühungen einen geeigneten Laden zu finden, hatten wir vergessen, uns mit dem nötigen Papierkram auseinanderzusetzen. Das Gewerbe hatte ich bereits vor drei Wochen angemeldet, aber alles andere musste noch erledigt werden. Ich beschloss gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Schließlich musste dieser vorwitzige Mann ja nicht alles wissen. »Natürlich haben wir längst alles, was wir brauchen.«

Irritiert von meinem hitzigen Tonfall verschränkte er die Arme vor der Brust. »Na dann.« Er scharwenzelte zur Tür. »Sie haben sicher auch an die sanitären Anlagen gedacht«, merkte er an, bevor er die Türklinke herunterdrückte. »Dies ist eines der ältesten Häuser in der Gegend. Es stand lange leer. Da haben Sie sicher einiges zu tun.«

Während ich noch darüber nachdachte, was ich ihm entgegnen sollte, war Binas Geduld bereits am Ende. »Haben wir!« Im nächsten Moment hatte sie die Tür aufgerissen. »Und deshalb müssen wir jetzt auch wieder an die Arbeit. Danke für Ihren Besuch.« Fordernd sah sie ihn an. Ein Blick, der sagte: Zieh endlich Leine. Ilias war kaum gegangen, da hatte Bina die Tür bereits hinter ihm zugeschlagen. »Was sollte das denn bitte?«

»Ich hab keine Ahnung«, entgegnete ich leicht verzögert.

»Erst einen auf Retter in der Not machen und jetzt kommt der uns so. Der wollte nur schnüffeln. So was erkenne ich sofort.« Binas Gesicht war vor Wut puterrot angelaufen.

Ich zuckte die Achsel. »Vielleicht wollte er nach der Leihwagen-und Strandgeschichte nur höflich sein. Übermäßig aufgeschlossen war er da ja auch nicht.«

»An dem ist was faul, Lissi. Das sag ich dir! Und so einer ist unser Nachbar. Ist wahrscheinlich irgend so ein Verrückter. War schon komisch, dass er am Strand sofort da war, oder? Oh Mann, hoffentlich haben wir jetzt keinen Stalker am Hals.« Bina hatte etwas gegen Männer, weshalb sie in dem Punkt auch zu Übertreibungen neigte. Wild wühlte sie in ihrer Handtasche. »Der soll sich bloß nicht noch mal hier blicken lassen.«

»Mir kam es eher so vor, als hätte er Angst vor Konkurrenz«, gab ich an.

Bina prustete gereizt. »Der hat sie doch nicht mehr alle! Das sind zwei völlig verschiedene Gewerbe. Wir haben Kaffee und Kuchen und er Bier und, was – Fischsuppe? Das ist wohl kaum dieselbe Kundschaft. Wenn du mich fragst, hat der ein ernsthaftes Egoproblem oder einen an der Klatsche.« Sie klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und steckte sie an. Einen tiefen Atemzug später entspannten sich ihre Gesichtszüge.

»Wolltest du nicht aufhören?«

Bina schnalzte mit der Zunge. »Hab ich.«

Ich blickte sie stirnrunzelnd an.

»Das hier ist ja schließlich so was wie ein Notfall«, entschuldigte sie sich. »Da kann ich ja wohl mal ’ne Ausnahme machen.«

Bedröppelt setzte ich mich auf einen Farbeimer und atmete durch. Seit wir auf Korfu waren, hatte uns schon das eine oder andere Missgeschick unfreiwillig eingeholt. Wir hatten einsehen müssen, dass es auch hier nicht nur freundliche, ehrliche Menschen gab – selbst wenn es uns früher anders vorgekommen war. Wenn wir einmal im Jahr mit Oma Inge hergekommen waren, war es gewesen, als betraten wir mit der Insel eine magische Welt. Ein Archipel an Wohlwollen und Glücksseligkeit. Ein unbeschwertes, friedliches Fleckchen Erde. Ich schmunzelte bei der Erkenntnis, dass die Augen eines Kindes sich eben ein ganz eigenes Bild von der Welt machten.

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