Читать книгу Der Mann, der Weltmeisterin wurde - Claudio Honsal - Страница 11
Meine lange Anreise zum Sieg in den Anden
ОглавлениеEndlich in der Luft auf dem Weg nach Portillo, dachte ich mir beim Abheben in Schwechat mit einem zufriedenen Lächeln übers ganze Gesicht. Ich hatte in meiner Glückseligkeit völlig vergessen, dass sich unsere Anreise zur 19. Alpinen Weltmeisterschaft noch über mehrere Tage ziehen würde. Den ersten Zwischenstopp legte das Team in Paris ein.
Zwei Tage machte man uns in der Seine-Metropole zum Geschenk. In der »Stadt der Liebe« wurde uns ein reichhaltiges Programm geboten: der Eiffelturm, Museen und jede Menge Zeit zum Entspannen und Abschalten – Regeneration der angenehmen Art, bevor die Weltkämpfe beginnen sollten. Es war heiß während dieser Julitage in Paris. An Liebe dachte ich im Gegensatz zu anderen Mädchen vom Team sehr wenig, denn meine einzige Liebe galt doch dem Skisport. Dennoch genoss ich meinen ersten Aufenthalt in Frankreichs Hauptstadt sehr.
Dakar, Buenos Aires und endlich Santiago de Chile lautete die weitere Flugroute des gecharterten WM-Fliegers, der ausschließlich Sportler und Funktionäre transportierte. Fast einen ganzen Tag verbrachten wir in der Luft. Die Strapazen waren uns allen anzusehen. Immer noch hatten wir keinen Schnee gesehen im südamerikanischen Winter.
Am nächsten Tag ging es weiter nach San Carlos de Bariloche, einem Wintersportort im benachbarten Argentinien. Es gab erste Testfahrten und ein Kennenlernen der Beschaffenheit des Anden-Schnees. Es hatte kurz zuvor heftig geschneit. Dieser südamerikanische Schnee in gut 2800 Metern Höhe war einfach anders. Wir alle mussten uns auf die unterschiedliche Qualität des Schnees einstellen, die Service-Crew, die Funktionäre und natürlich wir Sportler. Während andere Teamkolleginnen mit den neuen Verhältnissen ihre liebe Not hatten, war es für mich einfach nur Schnee – das weiße Gold, auf dem ich unbedingt Gold holen wollte. Meine Euphorie war groß, mein Selbstbewusstsein schien durch gute Trainingsergebnisse ins Unendliche zu wachsen.
Nach einer Woche der Akklimatisierung ging es wieder zurück in die chilenische Hauptstadt, eine sehr fremde Welt für ein Kärntner Mädchen aus der tiefsten Provinz. Ein paar Tage später fand in Santiago die – meiner Meinung nach – völlig überdimensionierte, pompöse Eröffnungsfeier der ersten Ski-Weltmeisterschaft in der südlichen Hemisphäre statt. Es sollte übrigens auch die einzige WM in diesen Breiten bleiben, bis heute. Vor dem Staatspräsidenten defilierten die nationalen Teams mit ihren bunten Fahnen und in ihren einheitlichen Outfits. Ich mitten drin. Es war ein erhebender Moment, ein internationales Spektakel, ein pompöser Auftakt.
Abgelenkt wurde ich nur von dem unangenehmen Ziehen in meinem Kiefer. »Erika, die müssen raus, sonst kannst du nicht fahren«, hatte nur zwei Tage zuvor die Diagnose eines aus Wien stammenden und in Santiago ansässigen Zahnarztes gelautet. Mein Trainer Hermann Gamon hatte ihn ausfindig gemacht, nachdem ich ihm die entzündeten Eiterherde in meinem Mund gezeigt hatte. »Mit Tabletten ist da nichts mehr zu machen, die würden deinen Körper beeinträchtigen und deinen Start womöglich verhindern!« »Besser gleich als oben in den Bergen«, dachte ich mir. Fazit: Der Herr Doktor zog mir vier Stockzähne auf einmal. Die Schmerzen ließen zwar nach, aber reden konnte ich für ein paar Tage nicht mehr so recht. Heute wäre das ein undenkbarer Eingriff so kurz vor entscheidenden Skirennen. Vorerst hatte der Spontaneingriff jedoch geholfen.
Tags darauf starteten wir frühmorgens endlich nach Portillo. Wir waren auf mehrere geländegängige Busse aufgeteilt worden. Zum Glück, wie sich schon bald herausstellen sollte, denn nur wenige Kilometer nach der Stadtgrenze begann die mühsame Anreise über kaum asphaltierte, holprige Straßen. Ich fühlte mich wie auf dem Forstweg auf die Simonhöhe hinauf, den ich schon mehrmals mit Vaters Traktor befahren hatte. Plötzlich bot sich uns ein völlig anderes Bild der Andenrepublik: kleine Holz- oder Blechhütten, kaum Infrastruktur, Menschen, die nicht wie in der Hauptstadt in Reichtum und Prunk, sondern in Armut und Elend lebten. Wie konnte es sich ein so armes Land nur leisten, eine millionenteure Ski-WM auszurichten? Meine schon immer vorhandene soziale Ader begann kräftig zu pulsieren. Hätte man das Geld lieber den armen Menschen hier gegeben und die WM wie die Jahre zuvor im reichen Europa veranstaltet, dachte ich mir. Zeit zum Nachdenken und Sinnieren hatte ich genug, denn die Fahrt dauerte ungefähr achtzehn Stunden. Eine Qual.
Den Austragungsort Portillo bekamen wir erst am nächsten Morgen bei Tageslicht zu sehen. Der Ort bestand aus einem riesigen Hotel, dem Grand Hotel, und verschiedenen kleinen Chalets, in denen die Mannschaften untergebracht waren. Plötzlich kam mir mein St. Urban wieder groß vor. Das konnte doch nicht sein, dass ausgerechnet hier, in 2860 Metern Höhe eine Ski-WM, auf die die ganze Welt blicken würde, stattfinden sollte. Wir befanden uns im weißen Nichts. Noch kurz zuvor war dieser winzige Wintersportort von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, weil die für Ende Juli außergewöhnlichen Schneefälle nicht enden hatten wollen.
Das hiesige Organisationskomitee hatte für diese Weltmeisterschaften sagenhafte neun Millionen US-Dollar, damals ca. 234 Millionen Schilling, lockergemacht. Man hatte die gesamte Infrastruktur dafür eigentlich aus dem Boden gestampft, neu gebaut. So sah sie auch aus. Warum hatten im Jahr zuvor 38 der 43 FIS-Delegierten für diesen Austragungsort gestimmt? Warum hatten ausgerechnet Deutschland, die Schweiz und Österreich, also die klassischen Alpennationen, dagegen gestimmt? Erst viel später sollte ich erfahren, dass diese WM nicht den Chilenen zugutekam, sondern dem Milliardärs-Clan der Rockefellers, der einflussreichen Industriellenfamilie aus New York, die mit einer verdeckten Fundation und harten Dollars nur Jahre zuvor Portillo gleichsam aus dem Felsen geschlagen hatten. Das hoch in den Anden versteckte Wintersportgebiet sollte durch die Weltmeisterschaft international bekannt gemacht werden und so die Investitionen der reichen Investoren vervielfachen. Der internationale Skiverband hatte bei diesem korrupten Spiel, ohne mit der Wimper zu zucken, mitgemacht. Das vermutete man zumindest. Was das betrifft, hat sich bis heute, ein halbes Jahrhundert später, auch nicht viel geändert. Geld wird immer die Welt und auch den Sport regieren.
Die Zimmer waren groß und modern ausgestattet. Ich teilte das Zimmer mit Traudl Hecher und Grete Digruber. Die Wetterverhältnisse wechselten im Stundentakt, unsere Stimmung auch. Vom gewohnten Rummel, den ich von europäischen Rennen gewohnt war, fehlte jede Spur. Kein Wunder an einem Ort, der doppelt so hoch gelegen war wie meine geliebte Simonhöhe in der Heimat. Hier tummelten sich, abgesehen von den Aktiven, den Funktionären und den Medienvertretern, höchstens ein paar reiche Amerikaner. Diese waren jedoch nicht wegen der WM angereist, sondern als Skitouristen im noblen Grand Hotel abgestiegen. Die Wege durch den Ort waren wie ausgestorben.