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Der Sextest

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Der frühe Morgen des 5. Dezembers 1967: Die Koffer waren gepackt, längst war ich angezogen. Es war 6 Uhr. Es wurde 6 Uhr 15. Die Frist für den Anruf aus der Klinik war wohl verstrichen. Ich wollte mich gerade auf den Weg in die Hotellobby machen, als kurz vor halb sieben das Telefon schrillte. Unerträglich laut, lauter als sonst, kam mir dieser aufdringliche Klingelton vor. »Erika, du musst doch noch kurz in die Klinik rüberkommen«, befahl mir Professor Raas. »Ja, was ist denn los mit mir?« Meine verzweifelte, verstörte Stimme wurde sogleich durch ein »Es ist nicht viel, aber wir wollen nur hundert Prozent sicher sein, also komm, bitte!« beruhigt. Das Taxi wartete bereits auf mich. Es war ein milder Morgen, kaum Schnee, nur die Berge der Nordkette waren leicht weiß angezuckert. Die zwei Kilometer zur Universitätsklinik erschienen mir endlos.

Im Sportinstitut wurde ich schon sehnlichst erwartet. In einem großen Konferenzzimmer saßen Professor Raas, der ÖSV-Präsident, der Alpinsportwart Sulzbacher, Rennsportleiter Professor Franz Hoppichler, Trainer Hermann Gamon und Charly Kahr an einem langen Tisch. Die Szenerie erinnerte mich an Leonardo da Vincis Letztes Abendmahl. Beim Anblick der versammelten ÖSV-Elite sackte ich völlig in mich zusammen. Später erzählte man mir, dass mein Gesicht von einer Sekunde auf die andere weißer als die Wand geworden war. Man erwähnte meine sportlichen Erfolge, lobte mich als außerordentliche Rennläuferin und betonte geradezu euphorisch, was ich denn nicht alles für den Skisport und unser Land erreicht hätte. Minutenlang salbungsvolle Worte, bis die Herrschaften – es waren ja ausschließlich Männer – ganz unvermittelt die Bombe platzen ließen: »Erika, wir sind dir sehr, sehr dankbar, aber mit dir stimmt etwas nicht. Du musst leider mit heutigem Tag den aktiven Skirennsport vorerst aufgeben!«

Wie in Zeitlupe bahnte sich das Gesagte einen Weg über meinen Gehörgang ins Gehirn. Noch ehe ich darauf reagieren konnte, wanderte schon eine vorgefasste schriftliche Erklärung mit genau diesem eben zitierten Inhalt vor meine Augen und auf den Tisch. »Brauchst nur hier zu unterschreiben, und alles wird gut werden!« Von privaten und gesundheitlichen Problemen war da zu lesen und von einem freiwilligen Rückzug aus dem aktiven alpinen Skisport. »Ja, aber was ist denn mit mir?« Unter Schock und Tränen versuchte ich, eine Antwort zu bekommen. »Es ist der Sextest, der Probleme bereitet«, wurde mir unmissverständlich entgegengeworfen. »Und was ist los mit mir? Was passiert jetzt?« Diese Frage kam, wie aus der Pistole geschossen. Ich wollte Klarheit. »Bitte, liebe Erika, unterschreibe einfach hier. Alles andere klären wir dann später.«

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer da tröstend und fordernd zugleich auf mich eingeredet hat. Zu aufgeregt war ich, als ich in diesem Zustand der totalen Verwirrung meine Unterschrift, mein »Erika Schinegger«, unter das Schriftstück setzte. Mein hochoffizieller Rücktritt war damit besiegelt. »Erika, du erholst dich jetzt einmal ein paar Wochen in Afrika und dann werden wir weitersehen!« Zu dieser Zeit war es die neueste Mode und absolut »in«, im Norden Afrikas Urlaub zu machen. Eigentlich wollte jeder dorthin. Es war ein Traumreiseziel. Nur, was sollte ausgerechnet ich dort? Die Wintersaison hatte begonnen und Grenoble stand vor der Tür. Die Olympischen Spiele kamen mir in den Sinn und – laut meiner letzten Trainingsergebnisse – mindestens zwei Medaillen, die ich mit links erringen hätte können. »Aber ein paar Wochen? Wie soll das gehen?« Ich versuchte, wieder um Erklärungen zu ringen, der Ernst der Situation und ihre Konsequenzen wollten immer noch nicht von meinem Verstand wahrgenommen und begriffen werden.

Wie ein Schuss vor den sprichwörtlichen Bug schlug dann die Aussage von Professor Hoppichler bei mir ein: »Schau, Erika, du erholst dich jetzt, sagst niemandem etwas und fährst auf Urlaub. Es ist doch so, wenn jemand stirbt, dann reden die Leute noch zwei Wochen nachher darüber. Dann aber interessiert das keinen mehr. Bei dir als Weltmeisterin wird man wohl drei oder vier Wochen über deinen Rücktritt reden, dann gehört auch das der Vergangenheit an.« Von notwendiger Regulierung, von einem kleinen Eingriff wurde da noch geredet und davon, dass ich dann – später, in der nächsten Saison – auch wieder Ski fahren würde können, auch im Team. Nur vorerst müsse ich mich aus dem Rennsport und vor allem aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich könne später wieder Ski fahren und wieder ganz vorne im Team mitmischen. Diese Aussage der mächtigen ÖSV-Herren war das Einzige, was in meine Wahrnehmung kommen wollte. Ich war beruhigt, hatte Hoffnung. Dennoch fühlte ich mich alleine, so alleine wie nie zuvor in meinem Leben. Ich musste warten, bis ich meine Stärke als Rennläuferin erneut unter Beweis stellen konnte, bis ich einen weiteren Titel erringen konnte – bei den nächsten Olympischen Spielen. Eine Welt, meine einzige Welt, war für mich zusammengebrochen an diesem 5. Dezember, dem Krampustag des Jahres 1967. An diesem Tag vor einem halben Jahrhundert war mein Leben auf einen Schlag nicht mehr das, was es bislang gewesen war. Ein für mich mehr als denkwürdiger und schicksalsträchtiger Krampustag, ein Tag, der aus meiner Erinnerung nicht mehr auszublenden ist.

Der Mann, der Weltmeisterin wurde

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