Читать книгу Der Mann, der Weltmeisterin wurde - Claudio Honsal - Страница 13
Einmal im Leben wollte ich Weltmeisterin sein
ОглавлениеEin Blick auf meine Armbanduhr, meinen Talisman, den ich zur Firmung bekommen hatte, verriet mir, dass es kurz vor 12 Uhr an diesem 8. August 1966 war. Ausgerechnet in diesem Moment musste ich einen Sekundenbruchteil an meine Familie in Kärnten denken. Es war 17 Uhr da drüben in der alten Welt. Mutter war wohl gerade auf dem Weg in den Stall. Da hörte ich schon meinen Trainer Hermann Gamon rufen: »Erika, noch fünf Minuten bis zum Start.« Diesmal trug ich die Nummer 15. Sie hatte ich nicht verändert oder ausgebessert.
Ich war entspannt, auf Sieg programmiert. Ich konnte das schaffen. Angespannt waren nur meine Oberschenkel und die kräftigen Waden, die gerade noch vom Teammasseur aufgewärmt worden waren. Ein paar Schritte neben mir stand Gamon mit betrübter Miene. Ich war die Letzte aus unserem Team am Start. Gerade flüsterte mir der Masseur zu, dass eine der Favoritinnen, nämlich Nancy Greene, beim Zielsprung schwer gestürzt war und das Rennen deswegen kurz unterbrochen war. »Eine Gute weniger, die ich womöglich schlagen müsste!«, schoss mir durch den Kopf. Ich war bereits fest mit der Skibindung verbunden, hatte den Helm und die Brille schon ins Gesicht gezogen, als mein Trainer in diesem Augenblick der absoluten Konzentration die Hand auf meine Schulter legte und mir sanft ins Ohr flüsterte: »Erika, niemand von uns ist ganz vorne. Jetzt liegt’s einzig und allein an dir!« – Ein Ansporn, der mich im nächsten Moment regelrecht explodieren ließ. Mit fünf kräftigen Doppelstockeinsätzen katapultierte ich mich auf den ersten Metern des Steilhanges geradezu in die Tiefe. Diese körperliche Kraft ließ ein innerliches Glücksgefühl aufkommen. Ich ließ die Skier im Vertrauen auf mein Können einfach laufen. Hier wurden keine stilistischen Noten vergeben, hier ging es um Zeit, um Gold. Beim späteren Durchsehen der TV-Mitschnitte konnte ich diese geballte Ladung Siegeswillen an meinem Gesicht ablesen. Weder verzweifelt noch verzerrt, sondern brutal, zugleich aber entspannt wirkten meine Züge.
Zu diesem Zeitpunkt, noch bevor ich zur Zwischenzeit kam, sollen Marielle und Annie im Zielraum schon gefeiert haben. Die beiden Französinnen wurden von den Fotografen schon für ihren Doppelsieg abgelichtet. Niemand rechnete mit der Erika aus Kärnten. Schweigend und betrübt standen Christl Haas, Heidi Zimmermann und Traudl Hecher im Abseits. Sie hatten versagt. Sie konnten die Ehre der Nation in dieser Königsdisziplin nicht mehr retten. Der vorläufige fünfte Platz von Christl Haas war eben nur ein fünfter Platz.
Skitycoon Franz Kneissl hatte mir auf die Reisen zur WM einen harten, aber ehrlichen Rat mitgegeben: »Das Einzige, was dort zählt, ist eine Goldene. Der zweite und der dritte Platz interessieren keinen Menschen!« Diese zwiespältige Stimmung im Zielraum zwischen voreiliger Ausgelassenheit bei den einen und totaler Resignation bei den anderen muss dann wohl der Platzsprecher lautstark unterbrochen haben: »Erika Schinegger – schnellste Zwischenzeit!« Es wird wohl still geworden sein im Zielraum.
Meine Kämpfernatur meldete sich stark wie nie zuvor in mir. Ich befand mich schon auf dem Gleitstück und versuchte, mit kräftigen Schlittschuhschritten das Tempo nochmals zu steigern. Den Zielsprung setzte ich etwas früher an. Im Zielraum herrschte gebanntes Schweigen. Die Blicke waren erwartungsvoll auf mich gerichtet. Für die Französinnen dürften diese Sekunden der Entscheidung eine Ewigkeit gedauert haben. Auch die Augen der Trainer und Funktionäre wanderten in Sekundenschnelle zwischen elektronischer Zeitmessung und Handstoppuhren hin und her. 1:33,42 Minuten von Goitschel mussten geschlagen werden. Ich hob etwas zu früh ab, nicht sehr hoch und doch recht elegant im Vergleich zu meiner sonstigen Fahrweise. »Nur nicht stürzen wie die Nancy!«, schoss mir durch den Kopf. Ich beschleunigte auf dem Talski. Die letzten Meter … Zuerst dumpf und dann immer klarer hörte ich die Aufschreie, als ich über die Ziellinie schoss. »1:32,62 !«, tönte es ohrenbetäubend aus dem Lautsprecher, »Erika Schinegger ist Weltmeisterin!«
Niemand hatte mir diesen Sieg zugetraut. Nur ich selbst hatte daran geglaubt. Ich hatte ihn wahr gemacht, diesen Jugendtraum – für unser Land, für unser Team, für Kneissl, aber vor allem für mich selbst. Jetzt war ich jemand, jetzt musste ich mich nicht mehr verstecken. Ich erlebte ein Glücksgefühl wie noch nie zuvor in meinem Leben. Kaum hatte ich abgeschwungen, fielen meine Mannschaftskolleginnen regelrecht über mich her. Die Heidi Zimmermann, die Traudl Hecher, das gesamte Team hatte Tränen in den Augen, Tränen der Freude und des Stolzes, dass ich das Team, ja den Ruf des Teams und der Skination Österreich doch noch gerettet hatte. Auf ihren Schultern trugen sie mich von links nach rechts immer wieder durch den Zielraum. Es war für mich und meine Mannschaft ein einziger Triumphzug, der nicht enden wollte. Ich hatte es geschafft!
In der österreichischen Tageszeitung AZ resümierte der Redakteur Martin Maier tags darauf euphorisch:
Das ist die Siegerin: Erika Schinegger, 18 Jahre jung, zu Hause auf einem Bauernhof in Agsdorf (Kärnten). Sie fährt leidenschaftlich gern Ski – einfach, weil es ihr Freude macht, und nicht, weil sie dies oder das damit bezweckt. Sie ist frisch und unverbraucht, keine Probleme berühren sie, es sei denn ihre Frisur. Mit der kommt sie nie zurecht, alle wünschten, sie möge den Struwwelpeterkopf bändigen, sie aber nennt es ihre Kampffrisur.
Ihre Stärke liegt auch in ihrer physischen Kraft, sie ist Fünfkämpferin und eine perfekte Athletin, was die gleichmäßige Ausbildung ihrer Muskeln betrifft. Alle mögen sie. Stets ist sie freundlich, zu jedem Photographen und Journalisten entgegenkommend. Nicht etwa aus Liebedienerei und weil sich der Bauer verbeugt vor dem Städter. Es ist einfach ihre Art. Nichts wäre verfehlter, als sie zu unterschätzen. Sie hat ein glänzendes Gedächtnis und schnurrt die Ranglisten der Weltmeisterschaften und Olympischen Spiele mit Namen und Siegerzeit nur so herunter. Ihre trockenen Bemerkungen sind druckreif. Sie beobachtet ihre Umgebung und dann bringt sie ein Bonmot an, daß alle lachen. Als der Rattenschwanz der Bewunderer nach dem Damenslalom hinter Annie Famose hertrollte, sagte sie: ›Die Fürstin zieht aus.‹ Jetzt ist sie selbst Fürstin: Hoheit Erika vom Bauernhof aus Kärnten mit fünfzig Kühen, und demnächst, so erzählt sie, wird ein Mähdrescher angeschafft. Schon allein deshalb muß sie jeder gern haben: Weil sie am Tag ihres ersten großen Triumphes – Weltmeisterin! – sich der Heimat, der Eltern und der Felder erinnert.
Standesgemäß für eine Weltmeisterin ging es mit dem Hubschrauber direkt aus dem Zielraum ins Hotel. »Live is life!« hieß die Devise. TV-Interviews, Telefoninterviews nach Europa, Fotos, Autogramme und wieder Interviews. Ich schwebte im siebenten Erfolgshimmel. Ein Glück, ein Hochgefühl erfasste mich, das mich die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag nicht mehr loslassen sollte. Geschlafen habe ich in dieser Jubelnacht kaum, es war auch egal, denn mein nächstes Rennen sollte erst in ein paar Tagen am Programm stehen.