Читать книгу Der Mann, der Weltmeisterin wurde - Claudio Honsal - Страница 8
… dreizehn Jahre später
ОглавлениеIhren Anfang nahm die besagte schicksalhafte Begebenheit zur Zeit um Allerheiligen des Jahres 1967. Erfolgreich hatte ich die Trainingseinheiten mit der Nationalmannschaft im italienischen Cervinia abgeschlossen. Alle Teilnehmerinnen waren schon in freudiger Erwartung und hochkonzentrierter sportlicher Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Grenoble im Februar 1968 – ich ganz besonders als frischgebackene Weltmeisterin von Portillo. Ich strotzte geradezu vor Energie und Zuversicht. Da würden für mich leicht zwei bis drei Medaillen zu erringen sein. Gegen Ende des Trainingslagers nahm man an allen Mitgliedern der Damenmannschaft diverse medizinische Untersuchungen vor. Reine Routine. Schließlich wollte man ja ein gesundes Team auf Medaillenjagd nach Frankreich schicken. Bestimmt würde es vor der Abreise zu den Olympischen Spielen noch weitere Untersuchungen geben.
Was wir damals nicht wussten: Erstmals in der Geschichte des Sports wurde vor Olympischen Spielen ein sogenannter Chromosomentest durchgeführt, ein schlichter Speicheltest, wie man ihn heute in jedem Tatort oder CSI-Krimi im Fernsehen mitverfolgen kann. Als Sextest sollte diese Untersuchung in die künftige Sportgeschichte eingehen. Als notwendig empfand man sie seit den olympischen Sommerspielen in Tokio im Jahr 1964. Ebendort hatte sich der Verdacht erhärtet, dass vor allem Russland und die Oststaaten absichtlich und vom Regime wohlgesteuert »Mannsweiber«, also aufgeputschte, hormonbehandelte und übertrainierte Zwitterwesen, ins Rennen geschickt hatten. Diese weiblichen Muskelprotze stellten selbst die männliche Konkurrenz in den Schatten. Auf das UdSSR-Leichtathletik-Geschwisterpaar Tamara und Irina Press prasselte so förmlich ein Goldmedaillenregen nieder.
Ein Routinetest also, der vor Olympischen Spielen von den Teamärzten nun immer durchgeführt werden musste. Nichts Besonderes, dachte ich. Selbst als ich am letzten Tag in Cervinia von Herrn Hoppichler, unserem Sportdirektor, in sein Hotelzimmer zitiert wurde. »Du, Erika, bei deinem Test hat es kleinere Probleme gegeben. Da ist noch irgendetwas unklar, aber es herrscht kein Grund zur Besorgnis«, meinte er mit unsicherer, ernster Miene. Ich wusste nicht, dass es sich um den Sextest handelte, von dem er sprach. »Du wirst im Dezember vor unserem nächsten Einsatz einen Tag früher in Innsbruck anreisen und wir werden den Test in der Klinik wiederholen. Das passt dann schon«, beruhigte mich mein Trainer Hermann Gamon und ergänzte: »… aber von diesem Gespräch muss niemand etwas erfahren – also Stillschweigen.«
Immer noch kam mir absolut nichts verdächtig oder eigenartig vor, nicht einmal, als gänzlich unerwartet unser Sportarzt und Alpinwart Dr. Sulzbacher angereist kam – meinetwegen, wie sich bald herausstellen sollte. Er war während der vorangegangenen Trainingstage nicht im Camp gewesen. »Ja, hoffentlich bin ich gesund und bleibe es auch bis zu den Olympischen Spielen«, schoss es mir durch den Kopf. All jene Zweifel und eigenartigen Gedanken, die mich in meiner Kindheit in stillen Stunden immer wieder belastet hatten, wie »Erika, du bist anders, du empfindest anders und siehst auch anders aus als der Rest der Mädchen um dich herum«, all diese verdrängten Ängste kamen just in dieser Situation nicht auf. Mein Körper war mir schon immer etwas fremd gewesen. Bei mir hatte sich nie auch nur ein Ansatz von Brüsten gezeigt wie bei meinen Kolleginnen. Ich verspürte keine Erregung, wenn ein Bursche mich berührte. An all das dachte ich jetzt nicht. Meine sportlichen Erfolge ließen mich diese unnötigen Gedanken längst gekonnt kompensieren. Es war eben so und ich akzeptierte es, zumal eine Christl Haas auch viel zu viel Muskelmasse für eine Frau hatte. Ich fand mich hübscher als sie. Immerhin war ich gut durchtrainiert und besonders begabt, was den Bewegungsablauf anging. Dem klassischen weiblichen und auch dem skifahrerischen Schönheitsideal entsprach ich natürlich nicht, dafür hatte ich gerade in Cervinia einige sehr gute Rennläufer aus dem Herrenteam deklassiert. An meiner Gesundheit konnte es also nicht liegen, so kräftig und voller Energie, wie ich war. Hatte ich das nicht bei diesem internationalen Trainingscamp allen bewiesen? Warum also den Test wiederholen? Schwamm drüber. Schließlich war ich die amtierende Weltmeisterin!
Während der Tage in der Heimat bis zum 4. Dezember arbeitete ich wie immer hart auf dem Hof mit. Jede helfende Hand wurde benötigt, zusätzlich war es ein guter Ausgleich für mich. Meine Gedanken kreisten beim Ausmisten des Stalls schon um die zeitnahen Tiroler Meisterschaften und die ersten Weltcuprennen in Frankreich. Ich fühlte mich wohl, war kerngesund und voller Tatendrang.
Dann reiste ich nach Innsbruck ab, einen Tag vor dem offiziellen Termin. Es stand ja noch der besagte Test an. Wie ein menschgewordener Packesel sah ich aus mit der ganzen Ausrüstung für zwei Wochen: Abfahrtsskier, Slalomskier, die schweren Schuhe und alles, was ich eben brauchen würde, schleppte ich in meinen VW. In der Tiroler Landeshauptstadt, dem Ausgangspunkt für alle unsere Teamfahrten, checkte ich wie immer im Hotel Sailer in der Adamgasse ein. Dieses Mal hatte man mich jedoch anders als sonst in einem Einzelzimmer untergebracht.
Der nächste Weg führte mich in die Klinik. Stundenlang wurde ich auf Herz und Nieren untersucht. Auch den besagten Speicheltest musste ich noch einmal absolvieren. Todmüde kehrte ich abends ins Hotel zurück. Am nächsten Tag sollte sich das Skiteam sehr früh vor dem Hotel einfinden und den Bus besteigen. »Es scheint ja alles in bester Ordnung zu sein. Wir werden jetzt noch einige Ergebnisse auswerten und falls sich bis morgen früh um 6 Uhr niemand bei dir meldet, kannst du getrost mit den anderen Mädchen mitfahren. Andernfalls müsstest du nochmals auf einen Sprung in der Klinik vorbeikommen. Zur Abfahrt um 7 Uhr wärst du ganz bestimmt rechtzeitig beim Bus«, hatte einer der Ärzte bei der Verabschiedung in der Klinik gemeint. Er hatte ausdrücklich betont, ich solle darauf achten, dass das Telefon am Zimmer nicht blockiert sei. Und noch etwas hatte man mir mit auf den Weg gegeben: »Bitte, kein Wort zu den anderen Mädels!«
Natürlich schlief ich in der folgenden Nacht nicht sonderlich gut. Was konnte nur mit mir los sein, schließlich hatte man mir gegenüber nach der Untersuchungsorgie nichts Konkretes, keine Diagnose, keine Vermutung und auch keinen wie auch immer gearteten Verdacht geäußert.