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Krampustag – ein schicksalhaftes Datum in meinem Leben
ОглавлениеAm Abend des 5. Dezembers des Vorjahrs hatte ich Tränen in den Augen. Nicht gewollt, nicht beherrschbar – ein inneres Gefühl, eine tief in mir verankerte Sentimentalität hatte Besitz von mir ergriffen. Auch mit beinahe siebzig Jahren gibt es immer wieder solche Momente, in denen sich meine Vergangenheit in mein Jetzt drängt.
Es war dieser verschneite Krampustag, an dem – wie jedes Jahr – eine schöne volkstümliche Tradition im gesamten Alpenraum und ganz besonders in meiner Kärntner Heimat für Spannung, Gaudium und Schrecken zugleich sorgt. Wilde Perchten streifen bei Einbruch der Dunkelheit mit ihren zotteligen Fellkostümen, grauenhaften Holzmasken, mit ihrem ohrenbetäubenden Kettenrasseln und den spitz zugeschnittenen Weidenruten durch unser Dorf. Ein Brauch, der seit ewigen Zeiten auch im kleinen St. Urban praktiziert wird. Wie ein Blitz sind mir an diesem Dezemberabend 2017 zwei für mein Leben prägende Ereignisse aus längst vergangenen Tagen durch den Kopf gegangen, zwei Begebenheiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zwei maßgebliche Weichenstellungen für mein Leben, die mich gehörig aus der Bahn geworfen und nachhaltig geprägt haben.
Vage, aber doch irgendwie klar kann ich mich an das Jahr 1954 erinnern. Sechs Jahre alt war ich, als am besagten Krampusabend die wilden Kerle – drei an der Zahl – die Stube unseres Bauernhofes stürmten. Mutter, Vater und die Geschwister versorgten noch das Vieh im Stall oder waren irgendwo draußen unterwegs. Ganz alleine saß ich am klobigen Holztisch in der riesigen, dämmrigen Stube, als völlig unerwartet die alte Holztür abrupt aufgerissen wurde. Von der Ankunft der wilden Gesellen hatte ich nichts geahnt, denn normalerweise kam Knecht Ruprecht nur als Begleitperson und erst am 6. Dezember gemeinsam mit dem Heiligen Nikolaus zu uns Kindern. Allein, weinend und völlig verstört ließ ich damals das nur wenige Minuten dauernde, schreckliche Prozedere über mich ergehen. Ich kauerte mich unter den Tisch, um mich dem Kettenrasseln und den ohrenbetäubenden Brülllauten der satanischen Horde zu entziehen. Endlich kam die Mutter, die durch mein wimmerndes Schluchzen alarmiert worden war, in die Stube gestürmt. Sie beendete den Spuk und warf die ungebetenen Gäste raus. »Erika, musst keine Angst haben, die wollten dich nur erschrecken!« Tröstend drückte sie mich an ihren Körper.
Auch der Vater und die Geschwister eilten nun herbei und versuchten, dem weinenden Mädchen Trost zu spenden. Selbst der strenge Bauer war etwas überrascht, dass die wilden Krampusse bereits einen Tag früher ihr Unwesen auf seinem Hof trieben. Wie sich später herausstellen sollte und mir noch viel später berichtet wurde, handelte es sich bei den verkleideten Gesellen um keine mir Unbekannten. Ausgerechnet jene Mieter, denen meine Eltern die Wohnungen in unserem Gasthaus nebenan vermietet hatten, weil sie nicht gewusst hatten, wohin, hatten mir diesen schlimmen Streich gespielt. Noch heute bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie die Lage bewusst ausgekundschaftet und nur auf den Moment gewartet haben, in dem ich mich ganz alleine in der Stube aufhielt. Oft zuvor und auch später noch versuchten mir genau diese Leute Angst einzujagen und bezichtigten mich, ein »eigenartiges Kind« zu sein. Warum, ist mir bis heute unklar. War es, weil ich immer alles besser machen wollte? War es, weil ich die aufgeweckte Tochter ihres Unterkunft- und Arbeitgebers war? Egal, die Folgen des dramatischen Auftritts jener Krampusse für das kleine Mädchen – also mich – waren jedenfalls fatal. Sie konnten auch durch die wohlwollenden Worte und kleinen Geschenke des Nikolaus am nächsten Tag nicht mehr wettgemacht werden. Gleichsam über Nacht begann ich zu stottern.
Diese abrupt aufgetretene psychosomatische Reaktion auf den Vorfall sollte über ein Jahr anhalten. Ich besuchte also die Volksschule in St. Urban für eine Zeit lang als unsicheres, stotterndes Mädchen. In dieser Zeit begann wohl auch eine gewisse Abgrenzung der anderen Kinder mir gegenüber. Warum sich dieser Krankheitszustand ebenso schnell verflüchtigte, wie er gekommen war, darauf konnte mir selbst meine Mutter nie eine Antwort geben. Wesentlich länger habe ich mit der ebenfalls durch die Krampusse ausgelösten Angst vor Dunkelheit gekämpft. Die Toilette befand sich in unserem Bauernhaus am anderen Ende des Ganges. Allein konnte und wollte ich diese in der Nacht nicht mehr aufsuchen. Wir waren vier Kinder in einem Zimmer, und so musste meistens meine ältere Schwester Anneliese herhalten. Ich zerrte sie regelmäßig aus dem Bett und bat sie, mich sicher zum WC zu begleiten. Bis ins fortgeschrittene Teenageralter habe ich es tunlichst vermieden, in der Dunkelheit alleine unterwegs zu sein. Erst in den Tagen meiner ersten Erfolge als Skiläuferin löste sich auch dieser traumatische Angstzustand in Luft auf.
So ein lächerlich erscheinendes Krampustrauma haben wohl abertausende Kinder. »Also, was soll’s?«, könnte man nun sagen. In meinem Fall hat es jedoch auch noch ein zweites entscheidendes Ereignis gegeben, das ausgerechnet wieder auf einen 5. Dezember fiel – nur eben dreizehn Jahre später.