Читать книгу Sehnsuchtskarussell - Cleo Maria Kretschmer - Страница 24
Оглавление20. Februar
Heute genau vor fünfzehn Jahren ist mein Vater gestorben.
Unsere Beziehung war jahrzehntelang schwer gestört, denn ich konnte als Kind und Teenie nicht begreifen, warum er immer so streng zu mir war und seine Gefühle nicht zeigen konnte. Küsse haben ihn gekitzelt und wurden von ihm abgewehrt. Seine Erziehungsmethoden bestanden zum Großteil aus Verboten, Hausarrest, Ohrfeigen und in Härtefällen aus Übers-Knie-Legen, um die Qualität bayerischer Kochlöffel zu erproben.
Mein Vater war innerlich von Angst geschüttelt, denn er war im Krieg gewesen, hatte ganz weit vorne an der Front gekämpft, war schwer verunglückt und dadurch zum Epileptiker geworden. Er hatte das Schlachtfeld gesehen, diesen finstersten Raum, in dem ein Mensch sich bewegen kann. Zu Fuß wollte er sich nach dem Krieg nach Haus schleppen, nach Frankfurt an der Oder. Auf dem Einödbauernhof meiner Großeltern ist er zusammengebrochen. Er fiel meiner Mutter direkt vor die Füße, sie nahm ihn in ihre Arme, pflegte ihn gesund und wurde seine Frau. Und dann bin ich vom Himmel gefallen und hatte noch nicht einmal Streichhölzer dabei, um die Finsternis zu beleuchten.
Mein Vater war ein großer, stattlicher Mann, doch von seiner inneren Struktur her war er schwach. Über sein Elternhaus konnte ich nie so richtig etwas erfahren, außer, dass seine Familie ein Wirtshaus in Frankfurt an der Oder hatte, Fässer baute und wohlhabend war. Ich glaube, dass die Kindheit meines Vaters kein Zuckerschlecken war, und die Strenge seines Elternhauses ihn sehr verbogen hat. Aus einem Krebsmann einen starken deutschen Mann zu formen, kriegt selbst der härteste deutsche Vater nicht hin. Aus weichen Männerseelen wird auch bei höchster Hitze und unter dem größten Druck kein Kruppstahl. Jedes Mal, wenn ihm die Hand ausrutschte, war das ein Zeichen seiner Hilflosigkeit.
Ich hätte gerne mehr über die anderen Großeltern aus dem Osten erfahren, doch dieses Thema war tabu. Es hat einen Bruder gegeben, den er über alles liebte und der seit dem Krieg verschollen war, und seine Mutter und Großmutter wurden von den Russen aufgehängt. Das sind die Dramen, von denen ich erfuhr, aber ich denke, das Grauen hatte auch noch andere Gesichter. Doch all das habe ich damals nicht verstanden, und ich wollte nur so schnell es geht von zu Hause weg, weil ich mich nicht verstanden und nicht geliebt fühlte. Diese Mauer, die mein Vater wegen seiner Verletzlichkeit um sich errichtet hatte, war für mich damals viel zu hoch.
Mit siebzehn Jahren habe ich mein Elternhaus verlassen, meinen Drogistenberuf an den Nagel gehängt, bin nach Italien auf die Trauminsel Ischia geflüchtet, um dem Druck dieser ungelebten Vaterliebe zu entkommen. Unglaublich, was ich später alles angestellt habe, um die Liebe oder wenigstens die Aufmerksamkeit meines Vaters zu erringen. Wenn ich genau hinsehe, bin ich noch immer auf der Suche nach meinem ganz persönlichen Phantom der Oper.
Meine Eltern haben nach ihrem eigenen Verständnis immer nur das Beste für mich gewollt und getan, doch meine Erinnerungen an meine Kindheit gleichen einem Gruselkabinett. Aber es gab einen wirklich schönen und wunderbaren Moment in der Lovestory zwischen meinem Vater und mir.
Eine Woche, bevor er den Planeten verlassen hat, habe ich ihn im Krankenhaus besucht. Keine Ahnung, die wievielte Hüftoperation es dieses Mal war. Er sah schlecht aus, und die ganze Familie stand mit ernster Miene um sein Bett herum. Ich hab nur darauf gewartet, dass endlich alle gingen, weil ich mit meinem Vater allein sein wollte. Irgendwie spürte ich, dass unser Moment gekommen war.
Ich schaute ihn an: »Kann ich etwas für dich tun, Papa?«
Über sein eingefallenes, altes Gesicht huschte das Spitzbubengrinsen eines kleinen Jungen.
»Ja, ich möchte unbedingt ein paar Schritte laufen. Ich will raus aus diesem verdammten Bett. Und wenn es nur für fünf Minuten ist.«
Wir verstanden uns. Ich half ihm aus dem Bett, ließ aber keinen Zweifel daran, dass wir den Ausflug auf den Flur nur dann machen könnten, wenn er seinen Arm um mich legte, sodass ich ihn stützte.
»Ich trage jetzt die Verantwortung für dich, Papa«, sagte ich. »Bis wohin willst du gehen?«
Er zeigte auf einen Stuhl, der auf dem Flur in ein paar Metern Entfernung stand.
Ich nickte. »Okay.«
Mein Vater war so leicht wie eine Eierschale, und ich bot ihm den Schutz meiner Stärke, Liebe und Verantwortung. Nie zuvor im Leben waren wir uns so nahe gewesen, und ich hätte am liebsten laut geschrien: »Papa, ich liebe dich. Lieb mich bitte auch ein bisschen.« Doch ich hatte Angst, dass dieser mächtige Gefühlsstrom dieses kleine Vögelchen von einem Vater fortblasen würde.
Wir schafften es bis zum Stuhl, und wir schafften es voller Stolz und Zufriedenheit auch zurück. Ich konnte spüren, wie er vor Erschöpfung zu zittern begann. Bevor wir wieder in sein Gefängnis zurückgingen, sagte er mit leiser Stimme: »Da hast du nun das Wrack deines Vaters.«
In dieser Sekunde begannen die Tränen aus meinen Augen zu strömen, so, als wollten sie Flüsse gebären.
»Ja, Papa, aber ich hab endlich einen Vater«, schluchzte ich.
So war unser Abschied.
Ich weinte die ganze Nacht vor Glück und Erleichterung, dass mein Vater endlich zu mir gekommen war. Dieser kurze liebevolle Moment seiner Schwäche war der beste in unserem gemeinsamen Leben.
Eine Woche später war er tot.
Ich habe bis jetzt, bis zu diesem Moment, wo ich diese Erinnerungen niederschreibe, nie wieder um ihn geweint. Doch die Tränen, die jetzt fließen, erleichtern mir die Seele und erhöhen mein Herz.
»Vater, meine große schmerzvolle Liebe. Ich verzeihe dir. Verzeih du auch mir.«