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Die Glaubwürdigkeitslücke

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Das Vorurteil, dass, wer Gefühl zeige, der ehrlichere Mensch sein müsse, fegt im heutigen politischen Geschäft dem schlitzohrigen Selbstdarstellertalent die Bühne frei. Wer da nicht mithalten kann, hat ausgedient. Der Fall Philipp Jenninger verdeutlicht die Revolution vielleicht am besten, die seit den Tagen von Pflicht- und Verantwortungsgefühl passiert ist. Er musste — erinnert man sich noch? — als Bundestagspräsident gehen, darin war sich die teilnehmend-beobachtende Öffentlichkeit weitgehend einig, weil er in einer Rede zum 50. Jahrestag der «Reichskristallnacht» nicht genug Gefühl gezeigt hatte — weil er eine «ehrlich» gemeinte und im wesentlichen schwerlich zu beanstandende Rede ohne die heute erforderlichen Gesten von Abscheu und Empörung vorgetragen hatte. Wer die Rede gelesen hat, versteht die Aufregung nicht ganz. Wer ihn — per Fernsehen — dabei gesehen hat, der hat indes in Philipp Jenninger den Typus eines durch und durch altmodischen Politikers erblickt, der stocksteif und verklemmt den Glauben repräsentierte, es komme ausschließlich auf den Gehalt und nicht auch auf die Vortragsweise an.

Dass die Form dem Inhalt nicht äußerlich ist, wollen wir festhalten. Im bundesdeutschen Talk-Show-Modus aber kommt die Darstellungsweise mittlerweile gänzlich ohne Substanz aus. Auch wenn sich investigative TV-Moderatoren noch so sehr in den Entlarvungsgestus werfen, wenn sie in tabubrecherischer Absicht ihre Gesprächspartner nach ihren Gefühlen fragen: in der gefühlsechten Antwort sind alle bestens geübt. Heute gelten umgekehrt Argument und Sachverhalt als das Obszöne: als Gefühlskälte, als vorgeschobenes Argument, als uneigentlich. Wer über Sachlage und Logik reden will, hat, so lautet die moderne Auffassung der Dinge, etwas zu verbergen. Die sogenannte Glaubwürdigkeit ist an die Stelle von weltanschaulicher Orientierung oder politischem Sachverhalt getreten, was ja, irgendwie!, ehrlich ist: Was gibt es denn schon noch zu entscheiden?

Das Wahlvolk trifft mit der Abgabe seiner Stimme schon lange keine wichtige ideologische oder sachliche Entscheidung mehr, sondern fällt lediglich ein Geschmacksurteil, nämlich ob dem Politiker und seiner Partei die Darstellung eigener Untadeligkeit so gut gelungen ist, dass man versucht ist, sie ihm auch zu glauben. Das entspricht in postmodernem Gewand lediglich jenen Kriterien, die dem Wahlverhalten von Frauen in den 50er und 60er Jahren zugrunde lagen, wie es nicht nur das böse Klischee behauptet, sondern auch die Wahlanalytiker herausgefunden haben: «Was immer er sagt — er sieht so nett und vertrauenswürdig aus dabei.»

Diese Sentimentalisierung der Politik, wie sie sich in der nichts als moralischen Kategorie der Glaubwürdigkeit ausdrückt, erreichte im Herbst 1987 mit der Barschel-Affäre ihren Höhepunkt, eine Affäre, die mit dem Engholm-Abtritt im Frühjahr 1993 ihren logischen Schlusspunkt erfahren hat. Seit Uwe Barschels Ehrenwort ist es in diesem Land üblich geworden, von einem Politiker die völlig unpolitische Tugend der Ehrlichkeit zu erwarten oder auch ihm Glaubwürdigkeit abzuverlangen, eine ebenso wenig politische Kategorie. Nun heißt Glaubwürdigkeit ja lediglich, dass ein Publikum aus der Selbstdarstellung einer Gestalt des öffentlichen Lebens den Schluss zieht, es könne auch möglich sein, dass diese Person die Wahrheit spricht. Wer Glaubwürdigkeit glaubwürdig macht, also geschickt darstellt, ist damit ja keineswegs schon ehrlich. Glaubwürdigkeit drückt also durchaus nicht politische Verlässlichkeit aus — und gibt erst recht keinerlei Auskunft über klassische politische Tugenden wie Diplomatie und Verhandlungsgeschick. Vor allem aber fragt, wer Glaubwürdigkeit verlangt, keinerlei politische Gestaltung mehr nach — auf die kommt es ja auch nicht an, wenn es am wichtigsten geworden ist, sich als Gemeinschaft gutwilliger Menschen definieren zu können.

Das Ärgerliche an diesen Befindlichkeitsvokabeln, die sich mit dem veritablen Schock über das Ehrenwort des Uwe Barschel verfestigt und inflationiert haben — und diesen Schock, auch in der politischen Klasse selbst, darf man wahrscheinlich wirklich zu den ehrlichen Reaktionen zählen —, das Ärgerliche am neuen Gefühlssprech ist, dass diese Vokabeln nicht nur völlig ohne praktische Bedeutung sind — auf Zweifel an Glaubwürdigkeit kann überhaupt nur mit einer weiteren Beteuerung derselben reagiert werden —, sondern dass sie ausgerechnet das wirklich Humane des demokratischen Spiels hintertreiben. Das Menschenfreundliche der Demokratie, das, was sie von einer benevolenten Erziehungsdiktatur unterscheidet, ist ja gerade, dass sie von niemandem erwartet, dass er ein guter, ehrlicher, unfehlbarer Mensch ist. Demokratie hofft und setzt darauf, dass es vielmehr ihre Regelsysteme und Kontrollmechanismen sind, die Menschen weitgehend daran hindern, sich an den Übereinkünften der Gesellschaft zu vergehen, nicht die innere Ausrichtung und Reglementierung, wie sie insbesondere die deutsche Spielart des verinnerlichten protestantischen Pfarrhauses vom Einzelnen fordert. Dass Uwe Barschel sich übelster Tricks bedienen wollte, um den Konkurrenten um das Ministerpräsidentenamt fernzuhalten, dass er log — das alles wiegt weniger schwer, als dass er es unkontrolliert und ungehemmt tun konnte.

Wer keinerlei Kriterien mehr für politisches Handeln entwickelt und wer das Versagen von Kontrollmechanismen für das geringere Problem hält, sucht Orientierung ausgerechnet am unverlässlichsten politischen Faktor — und das ist der gute Charakter. Wie aber will man den bemessen? Durch noch bessere, also geschicktere, also womöglich noch verlogenere Ehrlichkeitsdarstellung? Da «Glaubwürdigkeit» eine besonders schlecht herstellbare Ware ist, weil sie immer aus der Reaktion des Publikums auf ihre Darstellung entsteht, lag der Barschel-Effekt lediglich darin, dass das Nichtnachweisbare um so hektischer postuliert wurde.

Björn Engholm, und das möchte mancher vielleicht Tragik nennen, wurde ein Opfer dieses Barschel-Effekts: Er sah sich gezwungen, das Spiel des bloß Symbolischen mitzuspielen und sich Unmögliches abzuverlangen, von dem er überdies wusste, dass er es nicht verkörperte.

Auch der Flurschaden, den Engholms Demission hinterlässt, dürfte sich als erheblich erweisen. Die SPD hat damit ihren Integritäts-Darsteller der Enkelgeneration verloren, den ihre Wahlstrategen im Blick auf die «hedonistische Mittelschicht» konzipiert hatten, eine Schicht, von der man voraussetzt, dass sie sich der «Neuen Nachdenklichkeit» befleißigt, sich von Ruhm

Der Betroffenheitskult

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