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Die goldenen 80er
ОглавлениеIn den 80er Jahren kam der Bundesrepublik Deutschland die Politik abhanden. Sowenig Staat war nie — es schien ja auch nicht viel zu regieren zu geben. Hans Magnus Enzensberger applaudierte dem «Zurückwachsen der Politik in die Gesellschaft»1, und auch andere hielten der permanenten Klage über den Kanzler oder gar über einen angeblichen konservativen Rollback entgegen, dass man sich vielmehr glücklich schätzen könne, in der Regierung von CDU/CSU und FDP unter Kanzler Kohl über die «erste realistische Regierung seit Kriegsende» zu verfügen.2 Die Bundesregierung schien den Prototypus einer zivilen Regierung zu verkörpern, deren Distanz zur Wählerschaft gering war — nicht nur, weil sie in ihrem Kanzler den deutschen Durchschnittsmann zu verkörpern schien, wie Helmut Kohl gemeinhin unterschätzt wurde, sondern vor allem, weil sie sich immer wieder in vorauseilendem Populismus den Interessen der Wähler anzupassen verstand, was zwar manchmal, aber nicht immer das Dümmste sein muss.
Der gewiefte Machtpolitiker Kohl verstand es, nicht nur im Ausland den Eindruck zu verbreiten, von Deutschland (West) gehe eine Gefahr nicht mehr aus, sondern auch den Bundesbürgern zu vermitteln, dass Politik ein pragmatisches Geschäft ist, das ohne das Schwingen von Flaggen und hehren Worten auskommt und auch der großen Führer, Staatsmänner und Helden nicht bedarf. Was manch einer heute beklagenswert findet, konnte damals als sinnvolle Arbeit an der überkommenen Staatsästhetik der Bundesbürger aufgefasst werden — die ewigen Pannen der Regierung Kohl, der Mangel an Autorität, das Defizit an politischer Führung, die unter Helmut Schmidt noch mit harter Hand und jeder Menge «Haltung» stattgefunden hatte: all diese regierungsamtlichen Funktionsmängel veranlassten die Bundesbürger, obrigkeitsstaatliche Erwartungs- und Ergebenheitspotentiale zurückzuschrauben. Der Staat, die Politik — das funktionierte wie alles andere, wie alle anderen auch: gerade so mehr oder weniger. Der Zeitgeist hatte die Untertanenmentalität erbarmungslos exorziert, der-zufolge alles vom Staat, nichts vom Bürger ausgeht.
Neben all den völlig unbestreitbaren Verdiensten, die Kohl 1989 in Sachen deutscher Einheit erworben hat, hat er sich in den Jahren zuvor um die Erziehung der Deutschen zu Bundesbürgern verdient gemacht — zu Angehörigen eines Gemeinwesens ziviler Individuen, die jeglicher Obrigkeit derart souverän und gelassen entgegentraten, dass auch deren Vertreter sich dem neuen zivilen Habitus bald anbequemten. Wir wollen diesen Fortschritt festhalten, auch wenn über seinen Preis noch zu reden sein wird.
Gerade unter konservativer Ägide erlebte die Bundesrepublik, nach den Auseinandersetzungen der 70er und zu Beginn der 80er Jahre, also einen weiteren Modernisierungsschub: Der alte deutsche Obrigkeitsstaat war verschwunden, an seine Stelle war weniger der «Ausschuss der herrschenden Klasse» getreten, wie die Linke befürchtet hatte, als vielmehr eine Art Ausschuss der Lebenswelten, eine Clearingstelle für Lobbyisten. Die These vom «Zurückwachsen der Politik in die Gesellschaft» applaudierte den zivilen Qualitäten eines Landes, in dem über die großen politischen Fragen nicht autoritär an der politischen Spitze, sondern im (alltäglichen) öffentlichen Diskurs entschieden werde. So jedenfalls feierte sich der Zeitgeist — dem selbst mächtige Wirtschaftsgruppen Reverenz erwiesen, denen die Abwesenheit von Politik einigen Spielraum bot.
Tatsächlich war die «geistig-moralische Wende», die Helmut Kohl 1982 versprochen hatte, weitgehend ausgeblieben, kam es keineswegs zu einem auf der Linken gefürchteten «großen Aufräumen», zu einer konservativen Hegemonie der Gesellschaft. Im Gegenteil: eine eher linksliberale Öffentlichkeit überprüfte die neuen politischen Machtverwalter ständig auf konservative Ambitionen, die, wagten sie sich einmal hervor, von «der Gesellschaft» geübt gekontert wurden. Des Kanzlers wiederholt in Szene gesetztes Verlangen nach «Normalisierung» erzeugte stets dialektische Effekte — namentlich die vielleicht intensivsten Debatten über den Nationalsozialismus, die es jemals in Deutschland, Ost oder West, gegeben hatte.
Die 80er Jahre erwiesen sich nachgerade als Habermas’sches Diskursparadies, waren geprägt von einer über die Medien vermittelten Selbstthematisierung der Deutschen in Vergangenheit und Gegenwart. Ob Helmut Kohl den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan nach Bitburg vor Gräber von SS-Angehörigen beorderte oder mit Mitterrand — in versöhnender Absicht händchenhaltend - über den Gebeinen der im Ersten Weltkrieg vor Verdun gefallenen Kriegsgegner Mahnwache stand; ob es im «Historikerstreit» um «Relativierung» der deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus zu gehen schien oder ob der Kanzler sich und uns alle in einem «Deutschen Museum» auch der guten Seite der deutschen Geschichte versichern wollte - die kritische Öffentlichkeit ließ solcherlei Ausflüge ins positive Nationalgefühl stets in einer Zurückweisung jeglicher Beschließung deutscher Vergangenheit münden, wenn auch keineswegs immer mit einwandfreien Argumenten.
Nun mag man einwenden, dass solcherlei Gewissenserforschung gemeinhin auf die Feuilletons und auf die gebildeten Stände beschränkt bleibt — und doch hatte sich der Kampf um die Lufthoheit über bundesdeutschen Stammtischen stets auch in Meinungsumfragen niedergeschlagen. Der recht komplizierte «Historikerstreit» etwa hat in westdeutschen Köpfen fest das Unvergleichbarkeitsgebot verankert. Die Überzeugung von der Einmaligkeit deutscher Verbrechen unter dem Nationalsozialismus bestimmt noch heute die Auseinandersetzung mit den Verbrechen von Stalinismus und Kommunismus — durchweg, leider, zum Nachteil der Aufarbeitung der letzteren Vergangenheit. Die Asyldebatte, 1986 das erste Mal mit einer gewissen Heftigkeit geführt, kehrte damals die Umfrageergebnisse regelrecht um: Nachdem vorher eine starke Minderheit in der wachsenden Zahl von Asylsuchenden eine Gefahr sah, war hernach klar, dass es die Stimmung in der Bevölkerung nicht ratsam erschienen ließ, eine Asylrechtsänderung zu betreiben. Kanzler Kohl in der Weisheit eines unendlichen Opportunismus hielt sich — damals — daran.
Die «Stimmungsdemokratie» der 80er Jahre verlieh den Wählern eine bis dato in Deutschland nicht vertraute Souveränität: Von weltanschaulichen und religiösen oder anderen traditionsabhängigen Bindungen frei, trieben sie die Parteien durch zunehmend unkalkulierbares Verhalten vor sich her — der Wechselwähler und, vor allem, die Wechselwählerin wurden zum inkarnierten Schrecken der politischen Klasse. Der Allmacht der Parteien im Bereich des Politischen gesellte sich ihre Ohnmacht angesichts immer schwächerer Legitimation in immer häufiger werdenden «Entscheidungswählen» hinzu — da mehr und mehr auch Landes- und Kommunalwahlen als Indikator für den Ausgang der Bundestagswahl gelesen wurden.
Die Volksparteien der 80er Jahre reagierten mit Anpassung an das, was sie mit gutem Recht als Wählerwillen erkannten — und gaben damit immer mal auch den vernünftigeren Neigungen der Bevölkerung nach. Dass etwa die CDU — noch vor der SPD — die Frauen als zu umwerbendes Wählersegment erkannte, verdankte sich dem zunehmend «modernen» Verhalten der Wählerinnen: Sie gaben ihre Stimme nicht mehr gleichsam naturgemäß der Partei, die mit der Familie die faktische oder potentielle Subsistenzgrundlage der Mehrheit der Frauen verteidigte, sondern der Volkspartei, die Sicherung und sozialen Ausbau eines Arbeitsplatzes versprach, was seit den 70er Jahren für mehr Frauen immer wichtiger wurde. Prognostizierter Facharbeitermangel und gute Konjunktur machten die zweite Hälfte der 80er Jahre zum frauenfreundlichen Eldorado — nicht nur, wenn auch weitgehend auf symbolischer Ebene.
Überhaupt dominierten in den 80er Jahren «symbolische Politik» und «weiche Themen»: Politik, die substantiell nichts gestaltete oder veränderte, aber avancierten Lobbys (den Frauen, der neuen Mittelschicht usw.) schmeichelte — in diesem Kontext sind die Sprachkorrekturen, die der Feminismus der Politik abverlangte, von Bedeutung gewesen, ebenso wie die Verleihung des Etiketts «Frauenministerin» an Rita Süssmuth. Wir müssen es uns wohl als Erfolg anrechnen, dass seit Mitte der 80er Jahre der weibliche Plural unseren Männern auch in garantiert frauenfreien Räumen glatt von den Lippen geht.
Die populistische Attitüde der großen Parteien konnte dabei durchaus als Dominanz der Lebenswelten, als «Zurückwachsen der Politik in die Gesellschaft» gefeiert werden — was konnte schon schlimm daran sein, auch einmal aufs «Volk» zu hören, das sich ja längst nicht mehr nur als großer Lümmel gerierte, sondern ab und an durchaus mit Durchblick begabt war? Mählich setzte sich in der Bundesrepublik die Vorstellung durch, die Deutschen nicht mehr als Objekt beständiger Erziehungsarbeit in Sachen Demokratie zu betrachten, sondern als pfiffige Auskunfteien über den Geist der Zeit. Das Ausmaß dieser Veränderungen begreift wohl nur, wer noch den gegängelten Zeitgenossen der Adenauer-Ära vorm inneren Auge erstehen lassen kann, der vor jedem braven Parkuhrkontrolleur Haltung annahm.
Diese Dominanz der Lebenswelten gegenüber dem Bereich der Politik, wie sie in «symbolischer Politik» und «weichen Themen» verkörpert ist, hatte in den im Nachhinein so unendlich luxuriös und friedvoll erscheinenden 80er Jahren eine Vorstellung völlig verdrängt: Dass es Aufgabe von Politik sui generis sein muss, das als Notwendigkeit erkannte Allgemeine auch gegen mutmaßlichen Wählerwillen oder Volkes Stimmung durchzusetzen — man erinnere sich an den Beschluss zur Stationierung der Mittelstreckenraketen unter Kanzler Helmut Schmidt, eine im Nachhinein gerechtfertigt anmutende Entscheidung, die sich indes damals nur sehr geringer Beliebtheit erfreute. Den Todesstoß versetzte dieser Vorstellung von Politik Anfang der 80er Jahre Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht, als er das Atommüllendlager in Gorleben für «politisch nicht durchsetzbar» erklärte. Das mochte eine richtige Einschätzung gewesen sein, ihre Begründung war es nicht. Sie macht die Differenz noch zu den 70er Jahren indes überdeutlich: Plötzlich diktierte «die Straße» die Landespolitik — «die Straße» oder «der Pöbel», wie damals noch das abwertende Politikerwort für jene Bewegungen, Gruppen, Initiativen lautete, die man ein Jahrzehnt später als «mündige Bürger» schätzen lernte.
Auch dieses Eingeständnis der Politik gegenüber den Bürgern oder der Gesellschaft kann man nicht hoch genug veranschlagen — in all seiner Ambivalenz. Heute gilt es in Politikerkreisen als progressiv, die Bürger möglichst umfassend zu beteiligen — ehrlicher formuliert: sich gegen das Risiko, Wähler zu verstimmen, möglichst gut dadurch abzusichern, dass man ihnen weitreichende Mitsprachemöglichkeiten einräumt. Dieser Taschenspielertrick tarnt sich als das weit hehrere Anliegen, politischen Entscheidungen mehr Legitimität zu verleihen. Im Konfliktfall aber bedeutet diese Art des Populismus nicht nur eine Selbstbeschränkung der Politik auf das, was den Bürger nicht verprellt - sie fordert diesem auch ab, was man von ihm legitimerweise gar nicht verlangen kann: über die eigenen Lebensentscheidungen hinaus auch noch fürs Große Ganze zuständig zu sein. Zu Recht darf der Bürger einwenden, dass er just das an die Politiker delegiert habe.
Nun — in den goldenen 80ern forderten weder große nationale Anliegen noch andere Fragen von allgemeiner Bedeutung Repräsentanz im Politischen heraus: Jene den frei gewählten und nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten unterstellte und abverlangte Fähigkeit, des Bürgers Willen nicht nur einfach abzubilden, sondern ihn im politischen Verhandlungsprozess zu mediatisieren, zu verfeinern, zu veredeln von der Summe individueller, lokaler oder regionaler Egoismen zum repräsentativen Konsens — was ja weit mehr ist als der schlichte Mehrheitsentscheid. Stattdessen dominierte der Betroffenheitsgestus politischer Minderheiten, ein avancierter Lobbyismus, der die Klientel, die die Volksparteien zu befriedigen hatten, um einige weitere ergänzte, die sich zunächst vor allem bei den Grünen sammelten. Die immense Bereicherung und Erweiterung bundesdeutscher Vorstellungen vom «richtigen Leben» — denken wir nur an die toleranzfördernde Lebensstilkonkurrenz durch Schwule und Lesben — beschleunigte aber auch den Hang der Parteien zu symbolischer Politik plus Klientelbefriedigung. Die Grünen machten da vielfach den Vorreiter, deren «Basisdemokratie» besonders schnell zur «Basokratie» degenerierte, also zur durch keinerlei Kontrollmechanismen mehr begrenzten Herrschaft der mittleren Funktionäre.
All diese Prozesse waren, wie es sich gehört, von ambivalenter oder sogar dialektischer Wirkung. Der Politisierung der Bürger entsprach die Entwertung der etablierten Politik, der Demokratisierung die Minderbeachtung der Demokratie und ihres rechtsstaatlichen Formenkanons. Die 80er Jahre waren vom Verschwinden der Politik geprägt, vom Verschwinden politischer Begrifflichkeit. Bismarcks Diktum: «Entrüstung ist keine politische Kategorie», wäre damals nicht verstanden worden, denn die 80er Jahre waren überreich an Entrüstung und Betroffenheit, aber arm an Maßstäben. 1989 erwies sich, dass sich diese friedliche Zeit dem Leben in einer Nische der Weltgeschichte verdankte, in der bundesdeutsche Politik weder im Inneren noch nach außen hin im Übermaß gefordert war. Nach außen hin konnte man andere entscheiden lassen, und im Inneren hatte man es noch immer mit einer weitgehend kohärenten Gesellschaft zu tun, mit einer Gesellschaft, in der ein prosperierender Mittelstand dominierte und selbst das untere Drittel noch partizipieren konnte an der Verteilung scheinbar nicht versiegender ökonomischer Zuwächse.
Was war das, in der Summe, für ein friedliches Jahrzehnt! Dem Linksterrorismus waren die Sympathisanten ausgegangen, und die CDU, die faktisch ein konservatives Profil längst verloren hatte, hielt in aggressiven Wahlkämpfen noch immer ihre große historische Leistung der Nachkriegszeit aufrecht: den rechten Rand zu halten. Die Grünen hatten die Selbstintegration der aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen Milieus und Szenen mit dem Heraustreiben des «Fundi-Flügels» zu einem gut reformistischen Ende gebracht und der Politik insgesamt zwei wichtige Topoi beschert: Die Ökologie als allgemeines Anliegen, als neue Gattungsfrage sozusagen, und den plebiszitären Mythos von der «Basisdemokratie», von der beständigen Durchdemokratisierung des Lebens. Das Westdeutschland der pluralen Lebensstile, der Regionen und der Szenen, des avancierten Provinzialismus3, sah gelassen seinem Aufgehen in Europa entgegen. Da verhagelte das Aufreißen des Eisernen Vorhangs uns die zivilgesellschaftliche Idylle.
Heute scheinen wir vor Fragen zu stehen, die genuin politischer Natur sind und nicht von «der Gesellschaft», von den «Lebenswelten» geregelt werden können, in die «die Politik» zurückgewachsen sei. Heute darf man fragen, ob die Demokratisierungsbewegungen dem institutionellen Gefüge der Demokratie wirklich zugute gekommen sind, ob die ubiquitäre Politisierung des Bürgers wirklich die Nachfrage nach Politik erhöht und ob das allgemein gewachsene Moralisierungsniveau wirklich das Gespür für die Vorzüge des Rechtsstaates befördert hat.