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Im Glassarg

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Hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen: seit sich der Eiserne Vorhang gehoben hat, eröffnen sich Ausblicke auf märchenhafte Landschaften. Nein, nicht nur im Osten. Auch das dem Bundesbürger (West) vertraute Ambiente hat plötzlich andere Farben angenommen und erscheint, wie bei Alice, mal putzig klein, mal unangemessen groß. Seit 1989 sieht die Welt anders aus — nicht nur, weil sie anders geworden ist. Auch ihre jüngste Vergangenheit verändert sich mit jedem neuen Blickwinkel — und nicht nur, weil man hinterher klüger wäre, was ja das mindeste ist, was man als Folge von Revolutionen verlangen kann.

1989 wirft einen Schein der Verklärung und Unwirklichkeit zugleich auf etwas, das bis 1990 als Bundesrepublik Deutschland glaubte, die Spielstätte dramatischer Stücke zu sein — von Rennern wie «1968» oder «Mescalero» über «Raketenherbst» und «Historikerstreit» bis «Die Stadt, der grüne Punkt und der Tod». Heute möchte man das alles zum Dramolettchen erklären, was manchen Betrachtern zuvor als gewichtige Entäußerungen der Weltgeschichte oder des Zeitgeistes erschienen war. Die alte Bundesrepublik—ein Puppenhaus im Wohlstandstango, bevölkert von Märchenprinzen, Quotenfrauen und Peaceniks, in dem sich die notorisch von schlechtem Gewissen gejagte Mittelschicht auf der Suche nach Sinn in aberwitzige Zukunftsszenarien hineinsteigerte — vom atomar vermittelten Weltuntergang über das Waldsterben unter dem Ozonloch bis zum kollektiven Aidstod. Diesem Angriff der bedrohlichen Zukunft auf die Gegenwart gesellten sich die Gespenster der gewalttätigen Vergangenheit des Landes hinzu; eine Mischung, die zum Unwirklichkeitsgefühl seiner Bewohner beitrug. Schuld- und Bedrohungsszenarien kumulierten sich im Laufe der Zeit zum grotesken Syndrom, dass ausgerechnet das Land der früheren Täter sich jetzt als Hort der präsumtiven Opfer fühlte, denen angesichts des Fehlens handfester politischer Eingriffsmöglichkeiten nur mehr die moralischen Instanzen der Entrüstung und der Betroffenheit zu Gebote standen.

Von 1989 aus betrachtet, verbrachte dieses Land unter der Bedingung beträchtlichen Wohlstands die ganzen langen 80er Jahre hindurch mit ebenso leidenschaftlicher wie wirklichkeitsfremder Emphase in ideologischen Sackgassen. Friedensbewegung, Anti-AKW-Bewegung, Selbsthilfegruppe und Frauenbewegung hießen die Formen, in denen sich der prototypische mündige Bürger organisierte; Tschernobyl, das Ozonloch, Aids und sexueller Kindesmissbrauch waren die Katastrophen, mit denen auch die anderen Bewohner des Landes weit intimeren Umgang pflegten als — nur ein Beispiel! — mit dem banalen Leid der ihrer Freiheit beraubten osteuropäischen Nachbarn. Ganz und gar unwillig lugte das Land daher aus dem Faltenwurf des Mantels der Geschichte hervor, in dem es sich so erfolgreich versteckt hatte, als sich abzuzeichnen begann, dass es gezwungen sein würde, als außenpolitische Größe namens «Deutschland» wieder zum welthistorischen Geschäftsgang zurückzukehren.

Diese Sicht ist natürlich herzlich ungerecht. Denn nicht nur konnte man schwerlich voraussehen, dass es einen so erheblichen politischen Regulationsbedarf wie den durch die deutsche Einheit entstandenen jemals wieder geben würde — auch haben die vergangenen Illusionen ja weiß Gott Tugenden bewirkt. Die bundesrepublikanische Selbstvergewisserung mitsamt ihren hysterischen Extremen hat zur Zivilisierung dieses Landes Beachtliches beigetragen, die sozialen Bewegungen haben, ganz abgesehen von ihren Inhalten, dem alten Obrigkeitsstaat gründlich den Garaus gemacht. Und: die Verweigerung von Wirklichkeitswahrnehmung war 1989 ff. weitverbreitet, wozu die jüngste, die jüngere und die schon ganz schön angestaubte deutsche Geschichte weidlich beigetragen haben.

Deshalb, liebe 89er-Generation, der Böswillige gern den Ausruf unterstellen: «Sowenig Vergangenheit war nie!» — deshalb hier noch einmal, bevor wir uns endgültig in der Gegenwart wiederfinden, der Blick zurück nach vorn: Grenzen und Chancen der Bundesrepublik zum Zeitpunkt ihres Verschwindens — oder auch: Abschied von den 80ern. Denn der zweifelsohne böse Blick, den die Perspektive «1989» auf das Vorhergehende fallen lässt, ist so ungerecht wie didaktisch wertvoll: so gewinnt vielleicht Konturen, was bleibt und was zu Recht zugrunde geht.

Der Betroffenheitskult

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